Ende der Parabel

Der britische Schriftsteller David Mitchell lässt in seinem stilmächtigen Roman „Der Wolkenatlas“ die Menschheit im Eilschritt untergehen

von HARALD FRICKE

Er macht aus seinem Talent kein Geheimnis. Jeder andere hätte bei einem solchen, sich wie die Kuppel einer Kathedrale durch die Jahrhunderte wölbenden Roman den dazugehörigen Bauplan für sich behalten. David Mitchell dagegen schreibt völlig ungeniert, wie „Der Wolkenatlas“ funktioniert. Der Hinweis ist in einer Passage über Musik eingeblockt. Der Komponist Robert Frobisher schildert dem Freund Rufus Sixsmith 1931 sein „Sextett für einander überschneidende Solostimmen“, bei dem jedes Instrument mit einer „eigenen Sprache aus Tonart, Melodik und Klangfarbe“ ausgestattet ist. Dann geht er ins Detail, „im 1. Satz wird jedes Solo vom nachfolgenden unterbrochen; im 2. setzen sich die unterbrochenen Soli in umgekehrter Reihenfolge fort“. Und als wäre dieser Wink nicht genug, legt er nach, nennt das Stück „Der Wolkenatlas“ und stellt mit einigem Spott die Frage, auf die es im labyrinthischen Buch stets hinausläuft: „Revolutionär oder effekthascherisch?“

Schwer zu sagen. Tatsächlich ist „Der Wolkenatlas“ perfekt aus lauter Schichten gebaut, die sich gegenseitig Spuren legen und zitieren. So geht es in sechs Erzählsträngen vom Reisebericht bis zum Hardboiled-Thriller, inhaltlich und formal. Selbst an sauber platzierte Cliffhanger hat der 1969 geborene Autor bei seinem vierten Roman gedacht, der ihm letztes Jahr eine Nominierung für den British Book Award einbrachte. Immer aber sind es bekannte Konflikte: Mensch und Macht verträgt sich nicht, das ist Mitchells ewige Wiederkehr des Gleichen, bei dessen grundgut gemeintem Humanismus der Stichwort gebende Nietzsche vermutlich Schaum vor dem Mund bekommen hätte.

Alles beginnt mit dem Tagebuch eines kalifornischen Rechtsanwalts auf Südseereise um 1850. Untätig muss er zusehen, wie die Ureinwohner von den Kolonialherren drangsaliert werden, dann befällt ihn schlimmes Fieber, sein Bericht bleibt Fragment. Von dort springt Mitchell in die Zeit zwischen den Weltkriegen, als besagter Frobisher die Aufzeichnungen findet, während er selbst an seinem Musikstück schier verzweifelt. Ein weiterer abrupter Bruch führt in die Siebziger, in denen Frobishers einst junger Liebhaber Sixsmith zum renommierten Wissenschaftler aufgestiegen ist, der nun Opfer einer Verschwörung der Atomindustrie wird.

Unauffällig und mit leichter Hand verschraubt Mitchell seine Miniaturen. Im England der Gegenwart lässt er den alternden Verleger Cavendish auf einer Joyce’schen Odyssee im Pflegeheim stranden. Später wird eine geklonte Kellnerin zur Untergrundkämpferin – oder ist das Protokoll ihres Verhörs bloß Fiktion, so wie Sixsmiths Tod womöglich einem Krimi auf Cavendishs Tisch entstammt? Am entferntesten Ende der Ereigniskette leben Reste der Menschheit nach dem final countdown zuletzt auf einer Pazifikinsel; dort begegnet man der Klonrebellin wieder, die als Schutzheilige verehrt wird. Damit ist der Scheitelpunkt dieser umgedrehten Parabel erreicht, von dem aus Mitchell im zweiten Teil zurück durch die Zeitläufte hinabsteigt, bis der Roman in die Südsee des 19. Jahrhunderts gleitet – nicht ohne eine fein perlende Erkenntnis zum Schluss. Dann ist vom Leben die Rede, das auch nicht mehr ist als „ein Tropfen in einem grenzenlosen Ozean“.

Viele Stile, keine Ziele. Jede Episode hat bei Mitchell ihren exakten Ton. Die Satzschachteln eines Herman Melville, Italo Calvino und William Gaddis, ein bisschen Pulp Crichton, ein Schuss Burroughs. Man soll durchaus merken, dass der Roman auf unzählige andere Bücher rekurriert. Trotzdem fehlt ein Ort, an dem in Mitchells Rundumbeobachtung die eigene Schreibhaltung aufscheint. Ornament allein genügt nicht, das weiß der studierte Literaturwissenschaftler sicher am besten. Oder wie es Cavendish in einer hellen Minute ausspricht: „Als erfahrener Lektor lehne ich Rückblenden, vorausgreifende Andeutungen und raffinierte Kunstgriffe ab, sie gehören wie Examensarbeiten über Postmoderne und Chaostheorie in die achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts.“ Vielleicht stimmt aber auch, was der Anwalt zu Beginn seiner Reise erkennt: „Es gibt so viele Wahrheiten wie Menschen.“ Eine davon ist: Mitchell hat reichlich Talent.

David Mitchell: „Der Wolkenatlas“. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt Verlag, Reinbeck 2006, 668 Seiten, 24,90 Euro.