Der Abschied eines Pfarrers

Roland Weißelberg hat kein „Hier stehe ich!“ hinterlassen, keinen „Funkspruch“

aus Erfurt Thomas Gerlach

Wie es sich für einen Pfarrer im Ruhestand gehört, machte sich Roland Weißelberg am Reformationstag auf den Weg zum Gottesdienst. Der 73-Jährige fährt vom Erfurter Vorort Windischhausen zum Augustinerkloster. Der Gottesdienst mit der Aufführung der Bachkantate „Es ist das Heil uns kommen her“ soll der Höhepunkt des Reformationstages in Erfurt werden. Zum fünften Mal hat das Kloster, in das Martin Luther 1505 eingetreten war, zum „Tag der offenen Türen“ geladen. Der Zuspruch ist beachtlich.

Als Roland Weißelberg an einem Seiteneingang Einlass begehrt habe und darauf hingewiesen worden sei, dass es nur noch vereinzelt Plätze gebe, sei er wieder umgekehrt. Nein, abgewiesen worden, so sagt es später der Kurator und Chef des Klosters, Lothar Schmelz, der zur selben Zeit drinnen im Chor sang, sei der Pfarrer nicht. Als die Pröpstin Elfriede Begrich mit Helfern das Abendmahl austeilt, ruft es in die Kirche: „Wir brauchen einen Arzt!“ Die Pröpstin vermutet da, dass jemandem schlecht geworden ist.

Der Gottesdienst geht weiter, nach dem Segen werden die Besucher jedoch durch andere Ausgänge nach draußen geleitet. Dabei spricht sich das Unfassbare herum: „Ein Mensch hat sich verbrannt!“ Roland Weißelberg war vor dem Hauptportal in eine etwa anderthalb Meter tiefe Grube gestiegen, hatte sich mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und angezündet. Aber er lebt. Schwester Ruth, die eben noch das Abendmahl ausgeteilt hatte, betet mit dem von Wunden entstellten Mann, den niemand als den Pfarrer aus dem Erfurter Süden erkennt. „Jesus“ und „Oskar“ habe Weißelberg gesagt, bestätigt später Kurator Schmelz, der auch an der Grube stand. Weißelberg wird in ein Erfurter Krankenhaus, dann per Hubschrauber nach Halle gebracht wird. Die Ärzte legen den Pfarrer in ein künstliches Koma. Einen Tag später stirbt er.

Drei Tage später hat sich Elfriede Begrich wieder gefangen. Als Pröpstin ist sie geistliches Oberhaupt des Gebiets um Erfurt, das zur Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen gehört. Begrich sitzt in ihrem Amtszimmer in etwa dreißig Meter Entfernung vom Tatort. Hier an dem ausladenden Besprechungstisch hat sie am vorigen Dienstag den Anruf von Inge Weißelberg, der Frau des Pfarrers, erhalten, der eine erste Spur zum Hintergrund dieses bis dahin unbegreiflichen Geschehens enthielt. Die Frau fragte, ob der Gottesdienst vorüber sei. Ihr Mann sei noch nicht zurück. Als Begrich berichtet, was sich ereignet hat, sagte sie sofort: „Das könnte mein Mann gewesen sein.“

Inge Weißelberg berichtet der Pröpstin tags darauf von einem Abschiedsbrief, in dem ihr Mann als Motiv für seine Tat die Sorge um die Ausbreitung des Islam in Deutschland angegeben habe. Das Schreiben veröffentlichen möchte die Witwe nicht. Eine Erfurter Zeitung titelt am nächsten Tag: „Pfarrer verbrennt sich aus Angst vor dem Islam“. Als bitteres Detail wird bekannt, dass einer seiner behandelnden Ärzte in Halle ein im Iran geborener Muslim gewesen sei. Weißelberg war da – gewissermaßen postum – sehr allein.

Natürlich habe sie Weißelberg gekannt, erzählt Begrich. Und auch sein Interesse: den Islam. Beim alljährlichen Ruheständler-Konvent, einem Treffen der pensionierten Pfarrer, drängte Weißelberg regelmäßig darauf, den Islam zu thematisieren. Er wurde genauso regelmäßig überstimmt. „Lieber Bruder Weißelberg, Sie sehen, dass das nicht mehrheitsfähig ist“, habe sie ihm gesagt. Man sprach dann über die Spuren Gottes in der Geschichte oder die Ökumene.

„Er hätte alle Möglichkeiten gehabt“, sagt Elfriede Begrich energisch. Es klingt auch empört. Hätte er doch mit einem Transparent ihre Kirche gestürmt, hätte sie von der Kanzel geschoben, die Hände erhoben, vor dem Islam gewarnt, was auch immer. Alles. Nur nicht das. Begrich war Pastorin in der Ostberliner Gethsemanekirche, einem Zentrum der DDR-Opposition. Sie kennt unkonventionellen Protest.

Kirchliche Ruheständler sind keine brave Klientel. Sie haben viel Zeit, geben ihren Senf dazu, liegen ihrem Bischof in den Ohren, schreiben sorgenvolle Briefe. Der Thüringer Bischof, der in Eisenach residiert, könnte ein Lied davon singen. Weißelbergs Bischof in Magdeburg hat nie einen Brief von ihm erhalten. Elfriede Begrich auch nicht.

Weißelberg hat sich anderswo entladen. Er hat Leserbriefe verfasst. Zwei Briefe, die er in den letzten Wochen geschrieben hat, sind nach dem Tod wiederaufgetaucht. Einen hält Elfriede Begrich in der Hand. Es ist die Kopie eines Schreibens an die in Erfurt herausgegebene Thüringische Landeszeitung (TLZ) – und nun Weißelbergs Abschiedsgruß an sie. Seine Witwe hatte einen Umschlag für die Pröpstin gefunden. Es war dieser Leserbrief.

Weißelberg befürwortet darin die Absetzung der Mozart-Oper „Idomeneo“ in Berlin, denn die Inszenierung sei „eine blutrünstige Orgie“ und rufe zur „Liquidierung der Religion“ geradezu auf. „Gehört Verunglimpfung des Christentums, des Islam zur deutschen beziehungsweise europäischen Kultur?“, fragt er. „Hier wird in den Dreck getreten, was jeder Mensch […] irgendwann in seinem Leben empfindet, schlechthin das Gefühl der Abhängigkeit, die die Quelle aller Religion ist.“ So schreibt keiner, dessen alleinige Sorge die Ausbreitung des Islam ist.

Inzwischen zweifelt auch Elfriede Begrich daran, dass es das einzige Motiv war. So spricht einer, der bestürzt ist über vieles, was sich um ihn herum abspielt. Natürlich nicht nur in Erfurt. Schnell haben die Bischöfe aus Magdeburg und Eisenach beteuert, dass es keinerlei Probleme mit den etwa 3.000 Muslimen in Thüringen gebe. Sie ahnen wohl selbst, dass das zu kurz greift.

„Bigott“ nannte Weißelberg die allgemeine Empörung über die Bilder aus Kabul mit den Soldaten und den Schädeln in seinem zweiten Brief, den die TLZ am Freitag veröffentlichte. Da spannt er den Bogen bis zum Libanoneinsatz der Bundesmarine. „Es sollte doch immer mal wieder ins Gedächtnis gerufen werden, dass viele ältere Menschen unter uns selbst in der DDR dafür demonstrierten: ‚Ein Deutscher fasst nie wieder eine Waffe an.‘ “ Kein Wort vom Islam.

In Windischholzhausen wird der Kirchturm von St. Michaelis von einem schwarzgrauen Telekom-Umsetzer überragt. Die Turmuhr zeigt akkurat die Stunden an, ringsum hübsche Vorgärten, glänzendes Pflaster und Laubwald in prächtigen Farben – ein Ort zum Entspannen. Weißelberg war hier von 1964 bis 1989 Pfarrer. Er habe in seinen Predigten kein Blatt vor den Mund genommen, heißt es in der Gemeinde.

Sein Nachfolger Uwe Edom schließt die Kirche auf. Weißelberg war ein Mann der Tat. Er hat in den 70er-Jahren den sperrigen Kanzelaltar herausreißen und den dahinterliegenden Turmraum freilegen lassen. Das habe nicht allen gefallen, erzählt Edom. Trotzdem hat Weißelberg ein romanisches Kirchlein in der Kirche geschaffen – eine meditative Zelle mit einem Kreuz aus blauem und rotem Glas, das so leuchtet, als würde es einen Blick in den Himmel gestatten.

Pfarrer Edom erzählt, dass sich Weißelberg nach der Pensionierung zurückgezogen und nach Erfurt orientiert habe. Ja, er habe Gottesdienstvertretungen übernommen, die letzte im September, aber nicht hier im Ort. Es ist für einen Nachfolger besser so. Der müsse seinen eigenen Stil finden. Edom, 43 Jahre alt, ist ein anderer Typ. Solche Pastoren wie Weißelberg, der 1933 in Königsberg geboren wurde und in den 50er-Jahren in Jena und Berlin Theologie studierte, waren Kriegsheimkehrer, Kriegskinder, Flüchtlinge. Viele von ihnen verband etwas Preußisch-Protestantisches, Unbedingtes.

Das ein oder andere Mal habe man schon über den Islam gesprochen, sagt Edom. „Wenige Sätze.“ Ein Disput ist daraus nie geworden. Einen Bruder im Geiste hat Weißelberg in Edom wohl nicht gefunden. In Oskar Brüsewitz schon eher, der sich 1976 in Zeitz selbst verbrannte. An seinem Auto fand man das Transparent: „Funkspruch an alle: Die Kirche in der D.D.R. klagt den Kommunismus an!“

Brüsewitz studierte in den 60er-Jahren an der inzwischen geschlossenen Predigerschule im Augustinerkloster. Der junge Weißelberg und der junge Brüsewitz könnten sich hier begegnet sein. Offenbar sah Weißelberg seine Tat in dessen Nachfolge. Doch ein Transparent gibt es nicht, er hat nur seinen Autoschlüssel im Kloster abgegeben – am vergangenen Dienstagmorgen. Drinnen singen sie: „Es ist das Heil uns kommen her von Gnad und lauter Güte“, und draußen zwängt sich Roland Weißelberg zwischen Bauzaun und Hecke in die Grube – als würde er sich in diesem Moment von seiner Kirche scheiden.

Es gibt Situationen, in denen es um den Kern des Glaubens geht, wenn man einsam dasteht wie Luther 1521 auf dem Reichstag zu Worms. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Roland Weißelberg hat kein „Hier stehe ich!“ hinterlassen, keinen „Funkspruch“. Sein Tod verliert sich wie die wenigen blaugrauen Aschereste in der Grube. Als würde man mit ihm hadern, hat auch drei Tage nach der Tat keiner Blumen an die Stelle gebracht.