ortstermin: Judith Butler, Königin der Gender Theorie, vor Hamburger Studierenden
: Etwas komplizierte Sätze

In der Reihe „Ortstermin“ besuchen Autoren der taz nord ausgewählte Schauplätze am Rande des Nachrichtenstroms

„Bitte renn’ doch nicht so!“, flehe ich Linda an. Linda studiert Gender Studies, unter anderem, und hat Beine wie eine Gazelle. „Aber wir kriegen sonst keinen Platz mehr!“ „Ich kann mir kaum vorstellen, dass der Große Hörsaal bei diesem bezaubernden Wetter und zudem noch zum Einklang des Wochenendes voll wird“, kontere ich – „nicht für eine Gender-Theoretikerin“. Dann bitte ich Linda um eine knappe Zusammenfassung von Judith Butlers Werk. „Das ist alles hochtheoretisch…“, beginnt sie eine vorbildliche Lehrveranstaltung. Auf drei Sätze gefasst, kommt etwa Folgendes dabei raus: Alles, was wir für wahr halten, ist doch nur aus Worten konstruiert. Inklusive des biologischen Geschlechts, das lässt sich nämlich oft gar nicht so eindeutig bestimmen. Löst man sich von der festen Einteilung in Männer und Frauen, bleibt die Frage, was eigentlich „normal“ ist.

Das klingt im ersten Moment so sinnvoll wie die Diskussion, ob Stan in „Das Leben des Brian“ auch Loretta heißen darf und nicht zumindest das Recht haben sollte, Kinder zu kriegen (auch wenn er es nicht kann). Aber Spaß beiseite: Habe ich tatsächlich mit vielen Frauen nicht mehr als meine Genitalien gemeinsam – und was bringt das schon? Ähnlichkeiten teile ich umso mehr mit meinen Jungs.

Wie weit sich Butler übertragen lässt, wird mir klar, als Linda und ich den überfüllten Hörsaal betreten: Geschlechtsneutrale Dreadlocks und Bürsten, so weit das Auge reicht. Ich kann nicht bei jedem Anwesenden einschätzen, welchen Geschlechts er/sie ist – aber hier ist der Raum, in dem das keine Rolle spielt.

Dann schon eher, wer zuerst da war: Eine Gruppe Studierender hat es sich schon nachmittags in der dritten Reihe bequem gemacht und streitet sich mit der Organisatorin, ob das denn mit rechten Dingen zugehe. „Da wollten wir für die Gruppe reservieren!“, keift sie und meint damit eine Gruppe des Instituts für Queer Studies. Die Damen und Herren aus Reihe drei zeigen sich cool, Rausschmeißer sind schließlich nicht in Sicht. Und wenn schon die göttliche Judith Butler erleben, dann doch auf Augenhöhe. Andere sind mit weniger Glück respektive Dreistigkeit ausgestattet: Studierende stapeln sich auf den Rängen und Treppen und fiebern der Meisterin entgegen. Die sieht uralt, ganz klein und grau und unscheinbar aus, das merkt sogar Reihe drei: „Die ist ja voll unscharf“, rutscht es einem offenbar enttäuschten jungen Mann raus. Butler ist ein wenig kamerascheu, und so hatte er offenbar keine Ahnung, was ihn erwarten würde.

Dass das Aussehen zweitrangig ist und worum es bei Butler auch geht, erklärt mir meine Sitznachbarin, eine norddeutsche Version von Jean Seberg. „Nehmen wir an, du verliebst dich. Auf lange Sicht ist doch der Charakter am wichtigsten, oder?“ „Hmm, ja.“ „Und es ist doch viel logischer, sich danach zu verlieben – und nicht nach Kinkerlitzchen wie dem Aussehen oder dem, was der Mensch zwischen den Beinen trägt!“ Stop. Das hat Sartre doch auch so gemacht. Und wäre ich so ein hässlicher Frosch, ich wäre auch über jede Zuneigung froh. Faszinierend, wie ein so rationaler Gedanke nahtlos in das Liebesleben von Jean Seberg überzugehen scheint.

Mit solch kleinen Themen will sich Butler heute aber gar nicht auseinandersetzen. Stattdessen pfeffert sie uns Erkenntnisse entgegen, um unzählige Ecken gedacht, zum 11. September, zu Sexualpolitik und Rassismus. Und das ganze auf Englisch. Ich gehe davon aus, dass zumindest die Gender-Studenten verstehen, wohin Judiths philosophische Wege führen. Dann aber schiele ich auf Jean Sebergs Notizen. Ungelogen steht dort in der Mitte eines weißen Blatts: „Raum --> Zeit?“, rundherum ein paar Sternchen und ein Mond.

Dass das Publikum nun doch nicht mehr ganz mitkommt, merkt auch Butler selbst. Nach etwa einer halben Stunde unterbricht sie sich in makellosem Deutsch: „Spreche ich deutlich genug? Meine Sätze sind doch sehr kompliziert.“ Wie charmant, die Frau! So klug, dass wir Zuhörer noch ein paar Tage brauchen, um wirklich zu verstehen, was sie meint. Und uns doch so nah, dass sie ihr Deutsch zusammenkratzt. Ich bin beeindruckt.

Nach dem Vortrag herrscht eine Stimmung, wie ich sie zuletzt nach dem Konzert der „White Stripes“ erlebt habe: „Wie geil war das denn!“, schwärmt Jean und auch Linda und ich sind noch etwas benommen, aber glücklich.JESSICA RICCÒ