EU-Verfassung: "Linke stand de facto daneben"

Die Fundamentalopposition gegen die Europäische Verfassung war ein Fehler, sagt die Europa-Abgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann. Der Vertragstext muss vehement verteidigt werden

Sylvia-Yvonne Kaufmann: Eine Linke, die zur Verfassung steht Bild: dpa

taz: Frau Kaufmann, bei den Verhandlungen zur EU-Verfassung kommt bestenfalls ein Minimalkompromiss heraus. War es das, was die Linke mit ihrem Nein zur Verfassung wollte?

Sylvia-Yvonne Kaufmann: Mit Sicherheit nicht. Die Linke will ein soziales, demokratisches und friedliches Europa. Sie hat aber leider den Verfassungsvertrag abgelehnt. Jetzt droht im Windschatten des Nein in Frankreich und den Niederlanden ein Renationalisierungsprozess der Europäischen Union.

Die Linke hat sich von den Nationalisten nicht immer klar abgegrenzt

Ich hätte mir gewünscht, dass es eine ganz klare politische Trennlinie zu nationalistischen und antieuropäischen Kräften seitens der Linken gegeben hätte. Diese Trennlinie haben leider viele nicht gezogen.

Hat die Linke zu lange Fundamentalopposition betrieben?

Ja. Die Linke in Europa versteht sich selbst überwiegend als proeuropäisch, aber sie muss ihr Verhältnis zur EU prinzipiell klären. Über 50 Jahre hinweg wurde die Europäische Union von Vertrag zu Vertrag von Politikern aus anderen politischen Lagern aufgebaut. Die Linke hat in diesem Prozess de facto daneben gestanden. Ich hoffe, dass sie jetzt langsam aufwacht und vor allem das Herzstück der Verfassung - die Grundrechtecharta - ohne Wenn und Aber verteidigt.

Ist es dafür nicht zu spät?

Wenn es der deutschen Ratspräsidentschaft gelingt, einen Fahrplan und ein Mandat für die Regierungskonferenz zu beschließen, dann beginnen nach der Sommerpause neue Verhandlungen. Ich hoffe, dass sich die Linke dann konstruktiv mit überzeugenden Vorschlägen einbringt und vor allem energisch gegen integrationspolitischen Rückschritte ankämpft.

Wie sollte ein neuer Grundlagenvertrag aussehen?

Der vorliegende Verfassungsvertrag ist das Fortschrittlichste, was die EU je auf dem Tisch hatte. Ich hoffe wirklich, dass es gelingt, seine Substanz - dazu gehören für mich die enorme Stärkung der Demokratie und die Grundrechtecharta - zu erhalten, denn die EU muss zukunftsfähig gemacht werden. Wir müssen Europa ja nicht nur vertiefen, sondern wollen es möglicherweise auch erweitern. Ohne eine substanzielle Reform wird dies jedoch nicht möglich sein. Meines Erachtens sollte der neue Vertrag aber über die Verfassung hinausgehen.

Inwiefern?

Zum Beispiel im Bereich des sozialen Europa, was auch ein Grund für das Nein in Frankreich war. Französinnen und Franzosen haben sich damals zu Recht gegen die Dienstleistungsrichtlinie engagiert und sie als Ausdruck eines unsozialen Europa angesehen. Diese Kritik aufzugreifen und das Soziale in der Verfassung zu verstärken, wäre meines Erachtens die logische Konsequenz. Wenn es aber auf dem Gipfel nicht gelingt, alle zusammenzubringen, dann wird Europa in eine noch tiefere Krise stürzen.

Gerade im Bereich Soziales könnten sich einige Staaten zu einer Avantgarde zusammenschließen. Kann "Kerneuropa" eine Lösung sein?

Nein. Ich habe mich immer gegen die Herausbildung eines Kerneuropas gewandt, weil Europa nur gemeinsam gelingen kann. Insbesondere infolge des Verhaltens der polnischen Regierung schlittern wir aber jetzt in eine sehr ernste Situation. Europa darf sich nicht länger erpressen lassen, es kann sich auch nicht vom langsamsten Land die Geschwindigkeit diktieren lassen. Sollte es tatsächlich zur Bildung eines Kerneuropas kommen, werden wir keine EU mehr haben, wie wir sie gegenwärtig kennen. Ich will, dass die EU weiterhin gemeinsam voranschreitet und vertieft wird. Für mich bedeutet das: mehr Bürgerrechte und mehr Demokratie.

Sollten einige Staaten besser aus der EU austreten, wenn sie diese Ziele nicht teilen?

Ich bin für direkte Demokratie, aber gegenwärtig erleben wir, wie allen anderen aus Großbritannien mit einem Referendum regelrecht bedroht werden. Möglicherweise braucht man dort in der Tat endlich eine ganz klare Entscheidung, ob das Land in der EU bleiben möchte oder nicht. Dass sich 26 Länder von einem Staat permanent erpressen lassen, das ist eine Situation, die sich die EU nicht länger bieten lassen kann.

Wäre ein Referendum grundsätzlich wünschenswert?

Europa ist leider nach wie vor zu sehr ein Projekt der politischen Eliten. Die Bürgerinnen und Bürger wurden über Jahrzehnte wie vergessene Fahrgäste auf dem Bahnsteig zurückgelassen, während der Zug weiterfuhr. Das muss geändert werden. Die Idee eines europaweiten Referendums an einem Tag in allen Mitgliedstaaten sehe ich sehr positiv. Es wäre ein Beitrag, Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir gemeinsam in einem Haus leben und nicht jeder für sich in seinem.

INTERVIEW: NICOLE MESSMER

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