Erst Frühling, dann Einmarsch

Kindheit, ade! Was den Kirchen die Firmung oder die Konfirmation ist, das war dem DDR-Staat die Jugendweihe – ein Initiationsritus für ungelenke Jugendliche und ihre stolzen Eltern. Ein Modell für heute?

VON ANJA MAIER

Ich stehe im Licht. Vor mir sitzen tausend Erwachsene in Samtsesseln, neben mir auf der Bühne stehen meine Mitschüler. Und hinter mir: das Licht. Der fußballfeldgroße, glitzernde Goldlamévorhang des Ostberliner Kinos International ist grandios angestrahlt von einem kreisrunden Scheinwerfer. Es glitzert und funkelt. Und davor stehe ich, im Licht.

Es ist der 5. Mai 1980, ich bin vierzehn Jahre alt und ich habe heute Jugendweihe. In letzter Minute ist der Reißverschluss meines blauweiß gepunkteten Exquisit-Rocks gerissen. Nun stehe ich hier auf der Bühne, im Licht, ich trage – wegen des Reißverschlusses – um die Hüften die weiße Häkelstola meiner Mutter, meine Füße schmerzen in acht Zentimeter hohen Korkpumps.

Alles ist ein bisschen verschwommen, ich habe meine Brille nicht aufgesetzt. Von irgendwoher rieselt klassische Musik auf die Bühne, der Postminister der Deutschen Demokratischen Republik hat seine Rede beendet, jetzt kommt es zum Schwur.

„Seid ihr bereit, für die große und edle Sache des Sozialismus zu arbeiten und zu kämpfen und das revolutionäre Erbe des Volkes in Ehren zu halten, so antwortet: Ja, das geloben wir!“ Ich gelobe. Na klar. Was sonst noch? Ich verspreche, „im Geiste des proletarischen Internationalismus zu kämpfen“ sowie des Weiteren „den Sozialismus gegen jeden imperialistischen Angriff zu verteidigen“.

Ich bin bereit, alles zuzusagen – wenn’s nur endlich Geschenke gibt.

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Ich sitze am Tisch. Um mich herum dreißig Eltern, vor uns der Klassenlehrer unserer Kinder, um uns die ölfarbene Tristesse eines Gymnasiums in Brandenburg.

Es ist Herbst 2006, unsere Kinder sind nun in der achten Klasse, letztes Thema des Elternabends ist die Jugendweihe. „Jugendfeier heißt das jetzt“, sagt die Mutter von Florian. Und dass es da das sehr schöne Komplettangebot eines Vereins gibt: für achtzig Euro pro Schüler eine tipptopp Feier. Mit Saalmiete, Festredner, Urkunde, Handstrauß für die Mädchen, „kann man nich meckern“.

Die ersten Eltern tasten nach ihren Jacken. „Wir sind evangelisch“, sagen die einen, „Jugendweihe – das muss wirklich nicht mehr sein“, die anderen. Der Klassenlehrer streicht sich über die karierte Hemdbrust, sagt: „Ich weiß gar nicht, worum es geht. Ich komme aus dem Westen.“ Da erhebt Sibylles Mutter die Stimme. Sie will einen Vorschlag machen. „Die Kinder könnten doch zusammen feiern. Wir müssen das ja nicht Jugendweihe nennen. Und wir können alles genau so machen, wie es uns gefällt – viel besser als unsere eigene Jugendweihe in der DDR.“

25 von 30 Eltern setzen sich wieder hin. Wir beschließen, für unsere Kinder ein Fest zu organisieren. Am 12. Mai 2007. Auf keinen Fall etwas Langweiliges, Staatstragendes. Nein, eine Feier, die wir selbst gern erlebt hätten. Mit Spaß, ohne Politik, so unkompliziert, wie das in einer Kleinstadt mit ihren kurzen Wegen eben möglich ist. Vielleicht spielt eine Band, vielleicht gibt es was zu lachen. Wir verteilen Aufgaben. In zwei Monaten treffen wir uns wieder.

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Ich schaue ins Glas. Wir sitzen in der Kneipe, die meisten von uns trinken Rotwein, eine raucht. Zwei Väter sind auch da, ansonsten bleiben wir Mütter in dieser Jugendfeier-Angelegenheit unter uns.

Sinas Mutter reicht einen Glückwunschkartenkatalog herum – „für die Urkunden“. Sie mag die lichtblauen mit der resedagrünen applizierten Schleife. Urkunden? Haben wir das beim letzten Treffen abgemacht? Überreiche ich also in vier Monaten meiner Tochter eine Urkunde, in der sie beglückwünscht wird, von mir geboren worden zu sein? Aber es ist nett, dass Sinas Mutter daran gedacht hat. Ich hab nichts organisiert, und ich will hier keinen Ärger machen.

Es gibt nun auch einen Festredner. Es ist der Vater von Natalia, ihm gehört eine Versicherungsagentur. Ich denke an meinen DDR-Postminister damals, und unseren Schwur. Ich kenne den Versicherungsvater nicht, er kennt unsere Kinder nicht. Ich weiß nicht, was er ihnen gern mitgeben würde für ihr anbrechendes Erwachsenenleben. Regelmäßig die Deckungssumme eurer Hausratversicherung überprüfen – so was? Aber irgendjemand muss ja was sagen.

Vor seiner Rede – so viel steht nun auch schon fest – wird Vivaldis „Frühling“ gespielt. Danach kommt der „Einmarsch“, sagt Franz’ Mutter, „den müssen wir noch proben. Das mach ich nächste Woche in der Schulaula.“

Es ist mein drittes Glas Rotwein, ich frage sie, ob wir nicht gleich auch noch Fackeln anzünden wollen. Sie stößt mir in die Rippen: „Du bist ja ganz schön hart drauf.“

Zu Hause schäme ich mich für meine tatenlose Nörgelei.

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Ich stehe im Weg. Die Verkäuferin schiebt sich an mir vorbei, in der Umkleidekabine des Berliner Kaufhauses steht meine gerade noch 13 Jahre alte Tochter. Sie probiert ein schokoladefarbenes Kleid an. Ich höre es rascheln, einen Reißverschluss – dann steht sie vor mir.

Sie ist klein, immer noch sehr klein. Sie sieht wunderschön aus. Ihre Haut ist winterblass, die braunen Augen senden ausnahmsweise mal Selbstzufriedenheit, unter dem Kleidersaum blitzen Snoopy-Socken. Sie gefällt sich, sagt: „Ich brauche noch Schuhe.“ Ich bezahle das Jugendfeier-Kleid.

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Ich stehe am Tor. Der BMW der Schwiegereltern biegt knirschend in unsere Straße ein. Frankenwein, Schäufele, selbstgekochte Marmelade laden sie in unserer Küche aus – sie sind unser Westbesuch zur Jugendfeier. Morgen früh ist es so weit.

Beim Kuchenessen legt mein Schwiegervater einen Zettel auf den Kaffeetisch. Er hat „Jugendweihe“ gegoogelt und das Ergebnis ausgedruckt. Er hält mir das Blatt unter die Nase. Mag ja sein, meint er, dass es die Jugendweihe seit mehr als 150 Jahren gibt. Aber mal ehrlich – in der DDR sei das doch ein Anlass gewesen, bei dem man sein Kind quasi dem Staat versprochen habe. Ob es wirklich nötig sei, sein Enkelkind derart üble Traditionen fortführen zu lassen.

Ich wiegele ab. 17 Jahre sei die Wende her, das Kind wisse doch gar nicht, wie das in der DDR gewesen sei. Außerdem habe sie einfach mitmachen wollen – 24 ihrer 30 Klassenkameraden seien morgen dabei … Dass meine Tochter eine Mitläuferin sein soll, ist tatsächlich kein gutes Argument, ich weiß das. Aber was soll ich sagen? Ich lasse sie noch rasch taufen, damit sie konfirmiert wird wie euer Sohn? Oder: Ihr habt recht, ich teile eure Bedenken, wir blasen die ganze Sache ab? Dafür ist es längst zu spät.

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Ich sitze im Saal. Vorn, auf der Bühne der alten Orangerie, stehen 25 halbgare Würstchen. Eines davon ist meine Tochter in ihrem braunen Kleid. Sie schaut konzentriert auf den Moderator, der ihr die lichtblaue Urkunde überreicht. Ich starre sie an, sie spürt meinen Blick nicht. Ganz fremd ist sie mir jetzt.

Zu meiner Überraschung bin ich an diesem verregneten Samstagmorgen in Brandenburg tief gerührt. Da vorn vollzieht sich ein Ritual. Es ist rein privat und völlig unpolitisch. Es wärmt mein Herz.

Ich habe mich vergeblich dagegen gewehrt. Habe den Vivaldi ignoriert und über die tatsächlich ganz schön dröge Rede des Versicherungsmaklers gegrinst. Aber jetzt, in diesem Moment, bricht mein Kind in sein Erwachsenenleben auf. Wie sie da vorn steht, mit ihren braunen Augen, den blassen Waden, der weißen Rose in der Hand, rührt sie mich. Dabei hat sie mich vorhin erst grob weggeschoben, als ich sie vor ihren Freundinnen in den Arm nehmen wollte. Sie weiß es nicht, aber ich lasse sie jetzt los.

ANJA MAIER, 41, ist taz-Reportageredakteurin