Kolumne: Zeit für den Ackerbürger-Pride

In unserer Kleinstadt gibt es noch keinen CSD, also muss man nach Berlin fahren. Das wird sich ändern

Der CSD ist wie Weihnachten. "Unser" größter Feiertag, das große Familienfest. Im Vorfeld wird die Weihnachtsgeschichte erzählt: "Es begab sich zu jener Zeit in der New Yorker Christopher Street, dass die Schwulen und Lesben aufstanden, um sich gegen ihre Unterdrückung zur Wehr zu setzten". Dann brezelt man sich auf und geht auf die Straße. Zu essen gibt es statt der Weihnachtsgans Bratwurst und statt des Weihnachtspunschs gibt es Caipirinha und Red Bull mit Wodka - man kann ja nicht schläfrig unter dem Christbaum herumlungern, sondern latscht durch die Innenstadt, was in Berlin ein ziemlicher Ritt ist.

Mein Freund mag eigentlich keine Familienfeste und blieb lieber in unserer brandenburgischen Ackerbürgerstadt. Er hatte auch eine gute Ausrede: Der ÖPNV in Richtung Berlin hatte sich über das Wochenende in einen SEV verwandelt: "Schienenersatzverkehr." Wegen SEV keine Zeit für die GV-Parade, ja, ja.

Eigentlich läuft es ja darauf hinaus: Man geht auf die Straße, damit man nicht aufgrund der Art und Weise, in der man Geschlechtsverkehr betreibt, fertiggemacht wird. Man beschämt die Zuschauer mit mehr oder weniger offensiver sexueller Zurschaustellung, um ihnen zu verdeutlichen, dass man sich nicht für seine Sexualität schämen möchte - und solange das immer noch so ist, trotz aller deutlichen Fortschritte, ist das sommerliche Weihnachtsfest auch mehr als nur eine Party. Aber eine Party ist es auch. Warum auch nicht? Manchmal feiert man doch auch einfach nur, dass es einen gibt.

Mein erster CSD war ein unglaublich berührendes Erlebnis: Wir sind so viele! Ich bin nicht allein! Und auch heute noch ist es ein tolles Gefühl, dabei zu sein. Am Straßenrand stehen die paradenfreudigen Berliner und digitalisieren alles, Familien kommen mit ihren Kindern, Touristen freuen sich, dass etwas los ist in der guten Stube Berlins. Die meisten von ihnen wissen wahrscheinlich nicht so richtig, worum es eigentlich geht - aber sie werfen auch nicht mit Steinen oder spucken.

Mein erster CSD, das war in den Neunzigerjahren, und damals galt noch das Motto "Schwul ist cool". Mein Coming-out wurde denn auch von einigen Freunden zunächst gar nicht ernst genommen - man hielt es für einen Ausdruck übertriebener Trendaffinität. Aber auf Trends ist eben nie Verlass. Heutzutage gilt "Kinder sind Zukunft", und wenn der Papst etwas zu melden hat, steht es nicht mehr unter "Vermischtes", sondern im Politikteil. Die Schwulen und Lesben stehen dafür unter "Buntes aus aller Welt". Schrill und so.

Im VIP-Bereich rund um die Siegessäule, umzäunt und von gestrengen Weisungsbefugten bewacht, versammelten sich gegen Ende der Parade die politisch aktiven Schwulen und Lesben - eine Minderheit innerhalb der Minderheit. Wackere Kämpfer, die stetig an den Stellschrauben arbeiten, damit der gesellschaftliche Druck auf sexuelle Minderheiten geringer wird. Die meisten dieser Menschen wollen ja einfach nur in Frieden gelassen werden und ihr Leben leben.

Ausgerechnet im VIP-Bereich traf ich dann Nachbarn aus der Ackerbürgerstadt! Ein Verleger, sozusagen ein schwuler Hugh Hefner, mit seinem Freund. Wir wussten gar nicht, dass wir Nachbarn sind und wollen uns demnächst mal treffen. Die beiden kennen sogar einige wenige Homos aus der Stadt, wir kennen einen. Zusammen wären wir also schon mal mindestens sieben. Für eine kleine Parade in der Ackerbürgerstadt reicht das locker - jetzt wird alles anders.

Die Drinks mixen wir zu Hause vor und füllen sie in Wasserflaschen, die Bratwürste kann man ja unterwegs auch kalt essen. Ghettoblaster auf Großmutters alten Bollerwagen und los gehts. Motto: "Bürger auf die Äcker, die Stadt gehört heut uns." Zu radikal vielleicht, aber da kann man ja auch vorher ein Gremium einberufen. Dazu bräuchten wir dann aber auch Lesben, die hiermit aufgerufen werden, sich bitte bei uns zu melden.

Das Beste an diesem CSD wird sein, dass mein Freund sich nicht wieder drücken kann. Er muss die Weihnachtsgeschichte auf dem Marktplatz verlesen. Beschlossen.

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* 21. Februar 1973 in Wittlich; † 26. Mai 2023 in Berlin, war Redakteur der taz am Wochenende. Sein Schwerpunkt lag auf gesellschaftlichen und LGBTI-Themen. Er veröffentlichte mehrere Bücher im Fischer Taschenbuchverlag („Generation Umhängetasche“, „Landlust“ und „Vertragt Euch“). Zuletzt erschien von ihm "Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik" im Suhrkamp-Verlag (2018). Martin Reichert lebte mit seinem Lebensgefährten in Berlin-Neukölln - und so oft es ging in Slowenien

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