Sechs von 400.000 Gründen

Jedes Jahr dasselbe: Hunderttausende gehen zum CSD, andere wiederum nicht. Hinter Kommerz und Leder verschwinden oft die persönlichen Geschichten. Doch die sagen mehr als alles andere

PROTOKOLLE WALTRAUD SCHWAB

Kürfürstendamm

„Tolle Party hier. Der Regen macht uns nichts. Wir sind extra aus Cloppenburg gekommen, weil unser absoluter Top-Top-Top-Lieblings-DJ auf dem GMF-Wagen auflegt. Paul van Dyk. Der beste DJ aller Zeiten. Ich buchstabiere: p, a, u, l, klar. Dann ein extra Wort: v, a, n. Dann: d, y, k. Der macht die beste Musik überhaupt. Umsonst. Deshalb sind wir hier. Mein Freund ist arbeitslos, hat keine Lehrstelle. Ich meine natürlich: mein Kumpel. Wir sind stockhetero, aber supertolerant. Ey Leute, in Cloppenburg ist stockhetero und supertolerant, was in Berlin ’ne Tunte ist, die nach Heiligendamm fährt.“

Felix und Nico, Cloppenburg

Wittenbergplatz

„Nennen Sie mich Rosa Malve, auch wenn ich aussehe wie ’ne jebürtige Neuköllnerin. Jemand hat die Lesben aus dem alten Berliner Arbeiter-Adel mal Berliner Seelchen genannt. Das fand ich jut. Meine Tante ist auch lesbisch. Und ihr Onkel soll schwul gewesen sein. Ich meine, ich bin homosexuell mit Stammbaum. Früher bin ich mit Leib und Seele zum CSD. Hab mir Tage vorher mit Freundinnen überlegt, wie wir uns verkleiden. Einige aus meiner Clique kamen aus türkischen Familien. Die mussten incognito bleiben. Der CSD, das war unser Bekenntnis. Aber jetzt das: nur Leder, Luxus, Lastwagen. Und idiotische Forderungen. Hier die CDU: Tempelhof soll offen bleiben.

Und guck dir das mal an, da demonstriert jemand gegen Fahrverbot für Oldtimer ab 2008. Nicht gegen Homophobie, sondern fürs Auto. Ich glaub’s nicht. Der Regen ist direkt ’ne Gnade. Was sind das überhaupt für Organisationen, die da mit Trucks auf die Straße gehen? Welche Message hat: www.bff.de? Oder: www.finde-timm.de? Oder: www. tunsi.com? Ich schreibe mir die Adressen auf. Hier schon wieder eine: www.tatjana-taft.de. Okay, das kann ich mir denken.“

Rosa Malve, Berlin

Nollendorfplatz

„Berlin ist eine meiner drei Lieblingsstädte. Neben Barcelona und Zürich. Ich sage immer: mein BZB. Geboren bin ich in Genève, in Genf. Aber dann sind meine Eltern mit mir in die USA und später nach Argentinien. Jetzt lebe ich in Paris. Immer wieder fragen mich Leute, wo meine Heimat ist. Ich kann das so nicht sagen. Gerade ist Paris meine Heimat. Aber dann zieht es mich wieder in mein BZB. Ich hatte mal einen Freund in Berlin. Johannes. Komm lass uns nach Berlin gehen, habe ich zu meiner Mutter gesagt. Sie kennt Johannes auch.

Dass der CSD ist, das hab ich erst hier erfahren. Ich finde das nicht richtig, dass meine deutschen Freunde sagen: Da geh ich nicht mehr hin. Im Französischen gibt es ein Sprichwort: Rien est acquis. Soll heißen, dass sich alles verliert, wenn man nicht darum kämpft. Guck dir an, was in Zürich los ist. Das Spider Galaxy, das Stoffwechsel geschlossen. Wegen Drogen angeblich. Aber Drogen gibt es in Hetero-Clubs auch. Oder in Paris: Dieses Jahr durfte das COX zum ersten Mal nicht draußen feiern bei der Fête de la Musique. Es sei ein Sicherheitsrisiko. So fängt es an. Was halten Sie eigentlich von Angela Merkel?“ Alex, Paris

Potsdamer Platz

„Ich find’s cool. Bei uns in der Schule hab ich mich ganz lange nicht getraut, zu sagen, dass ich lesbisch bin. Bin halt mit Freundinnen rumgehangen. Schaust du nie auf meine Hose?, hat mich ein Junge mal gefragt. Ey Mann, warum soll ich auf deine Hose gucken? So Jeans. H & M und so. Nichts Besonderes. Aber man weiß ja, wie die Jungs sind. Wenn du noch nie hast, das wissen sie, und wenn du hast, das wissen die auch, und mit wem du hast, dazu. So Gefühl und so, da musst du tun, als gibt es das nicht. Meine Eltern sind auch geschieden. Hier fühle ich mich toll. So viele Mädchen wie ich. Das gefällt mir. Gefällt mir einfach.“

Nadine, Berlin

Brandenburger Tor

„Zu Ostzeiten gab’s das nicht: schwul. Das ist irgendwie noch in mir drin. Deshalb stehe ich nur hier am Tor mit meinem Freund. Ich war verheiratet. Drei Kinder. Mein Sohn ist schwul. Als der kam, 1992 war das, und sagte: Ich liebe einen Mann, da hat mir das einen Stich gegeben. Wie wenn jemand ein Messer in dich reinsticht. Viel schlimmer als die Nadel beim Tätowieren. Hier der Eiffelturm auf meinem Oberarm.

In Paris, da stellte ich mir alles anders vor. Ich hab’s zu DDR-Zeiten nur meinen besten Freunden gezeigt. Und dann kommt mein Junge und sagt: Ich bin schwul. Ich denke nur: Der fickt ’nen Kerl. Da ist was mit meinem Körper passiert. Heiß und kalt. Mehr sag ich nicht.

Günter H., Magdeburg

Heinrichplatz

Früher bin ich immer zum CSD gegangen. Ich feier gern, ich bin gern lesbisch, und ich freue mich, dass ich in einer Stadt lebe, wo man seine sexuelle Identität nicht verstecken muss. Aber in den letzten vier, fünf Jahren hat mich der Kommerz, der Krach, der Körperkult immer mehr angeödet.

Ich wäre auch dieses Jahr nicht zum CSD gegangen, wenn ich mich nicht neu verliebt hätte. Hier auf dem kleinen Kreuzberger CSD ist es familiärer. Man ist hier auch noch näher am Thema dran. Homophobie. Ausgrenzung. Außerdem geht der Kreuzberger CSD mehr ans Herz. Das liegt mir gerade.“

Susanna Sch., Berlin