Generationen: Rebellen in Rente

In Berlin spielen Laiendarsteller über 60 das Theaterstück "Lass krachen, Alter!". Mit Musik von Nirvana, über Kurt Cobains Leben - und über sich selbst. Ein Probenbesuch.

Riecht nach Rentner-Spirit! Bild: dpa

Und Giera tobt.

Sein Fuß hämmert gegen den Pappkarton, er kickt ihn über den Boden, wieder, wieder, wieder. Fast hyperventiliert er dabei, seine langen Haare fliegen Loopings, in seinem Gesicht steht der Wahn stramm. Und dann diese Musik, Krach ist sie, Wut ist sie, so verdammt wutkrachend, die Gitarren dröhnen wie ein ewiger Schmerz. Noch ein Tritt. Out of the sky, donnert die Gewitterstimme über diesen Gitarren hervor. Noch ein Tritt, into the dirt, schreit dieser Typ, dieser Cobain. Gieras Mund steht offen, er schreit stumm mit, into the dirt, rein in den Dreck, noch ein Tritt, rein in diesen Dreckskarton.

Stille, plötzlich. Die Musik stirbt. Nirvanas "Very Ape" vergeht. Giera guckt unsicher hoch. Hinter ihm grinsen drei Männer.

Kurt Cobain ist tot, seit 1994 schon, ausgelöscht hat er sich und sein Ikonengesicht, Schrotflinte, mitten rein, mit 27. Giera ist 60 und lebt. Und wie er lebt. Leben ist doch das Wichtigste.

"Wir spielen es jetzt durch bis ,Du hast mit dieser Musik mein Leben verändert'", ruft Sylvia Moss (44), Sängerin, Tänzerin, Schauspielerin, gebürtige Bremerin. Die Männer suchen ihre Plätze. Männer um die 60 aufwärts, Laienschauspieler, Amateure, Rentner. Echte Typen. Einem spannt die Plauze das Unterhemd. Zwei sind drahtig. Einer guckt gemütlich. Einer fehlt.

Im Proberaum in einem Hinterhofstudio im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg steht die Hitze. Noch wenige Tage bis zur Premiere heute Abend im Theaterhaus Mitte. Das Stück heißt "Lass krachen, Alter!", ein Theaterprojekt von Andrea Bittermann und Silvia Moss. Darin geht es um den Nirvana-Sänger Kurt Cobain. Viele Nirvana-Songs sind dabei. Mehr noch geht es aber um diese Männer. Der Grunge-Rebell und die Pensionäre. Clash der Kulturen. Die beiden Frauen haben Zeitungsanzeigen geschaltet, um Männer über 60 zu finden, zu Beginn des Jahres.

Joachim Giera war anfangs ganz schüchtern, wird Andrea Bittermann, Berliner Schauspielerin und Theaterregisseurin (42) nach der Probe sagen. Sie nennen ihn hier alle selten Joachim, nur Giera, das klingt prägnanter. Aber Giera und schüchtern? Glaubt man doch kaum, wie der loslegt, zum Nirvana-Krach. Als wäre das genau seine Musik. Wie die der anderen.

Smells like Rentner-Spirit.

Das wäre ja mal was. Die Alten finden die Rockmusik der Enkel klasse. Opa rockt zu "Smells like teen Spirt", kauft sich ein "I hate myself and I want to die"-T-Shirt und kifft vor den Konzertbühnen. Rente mit 67, Headbangen mit 70.

Man denke an diese Greisencombo aus England. Alle irgendwie kurz vor der 100. Die knarzen The Whos "My Generation" nieder und zerhämmern im Video Gitarren. So schöne Gitarren. Die haben doch alle mal Geld gekostet. Die Alten kriegen den Rock, die Jungen den Blues. Wie soll man denn bitte schön jetzt noch einen ordentlichen Generationskonflikt hinzimmern?

Gemach. Entwarnung.

"Dieser Cobain sagte mir überhaupt nichts, ist ja nicht meine Zeit", sagt Klaus Doil, 63, früher Koch und Unterhaltungssänger. "Was erschießt der sich auf der Höhe seiner Karriere?", fragt Peter Bach, 64, Ex-Volkspolizist, heute Rentner, Teilzeithausmeister, Vollzeithobbysänger. " Die ,Nevermind'-Platte fand ich gewöhnungsbedürftig", sagt Giera, studierter Filmwissenschaftler und Medienpädagoge, Mitarbeiter einer Seniorenbegegnungsstätte. "Nevermind", Nirvanas Ticket in den Himmel, von 1991. "Die habe ich mir mehrmals angehört."

Giera muss ja dazu wüten.

Denn er erzählt im Stück Cobains Geschichte. Manchmal brüllt er sie heraus, manchmal flüstert er fast. Und die Männer vermengen Cobains Biografie mit ihren eigenen. Das geht eigentlich nicht zusammen. Das soll auch gar nicht zusammengehen. Es sperrt sich gegeneinander. So entsteht Spannung.

- "Wenn ick ma jetzt umbringe, werde ick dann ooch noch Kult?"

- "Dazu sind Sie viel zu alt."

- "Lange glücklich leben ist einfach nicht sexy."

Später singen die Männer "Wunder gibt es immer wieder", inbrünstig, mit ausgebreiteten Armen, eine Mordsgaudi.

Here we are now, entertain us.

Es ist mehr als gute Unterhaltung. Das Regisseurteam will mit dem Stück auf Video durch Schulen touren. Workshops abhalten. Mit Cobain kommt man an die jungen Leute ran. Seine schwierige Kindheit, die getrennten Eltern, die Poesie, die Wut, der Exzess. Der Freitod. Aber man verabreicht den Kids auch die Geschichten der Alten dabei. Die sich eben nicht weggeworfen haben. Die aushielten.

Die Scheiße kann doch nicht so groß werden, dass das Leben rundherum zu klein wird dagegen. Kann sie nicht, oder?

Klaus Doil ist so einer. Das ist der mit der Plauze. Der weiß genau, wie ganz unten die Sicht ist. Trübe ist sie, richtig dreckig. 20 Jahre Schlagersänger in der DDR, alle möglichen Bühnen des Ostblocks hat der beackert. Seine Stimme flutet immer noch jeden Saal. Er hatte ein Haus, einen Garten, ein eigenes Eiscafé, einen Lebensgefährten, drei Hunde. Doil hatte alles.

Cobain muss es irgendwann ähnlich gegangen sein, denkt Klaus Doil. Das Gefühl, alles zu haben. Alles, was man je wollte. Hits, Ruhm, Frau, Kind.

Doch 1988, zwischen Weihnachten und Neujahr, erwischte es Klaus Doil. Leberzirrhose und Krampfadern in der Speiseröhre. Man transplantierte ihm eine Spenderleber. Sein Lebensgefährte kam nicht vom Alkohol los. Doil musste weg von ihm, nach 27 Jahren Partnerschaft. Sonst hätte er selber mitgetrunken. Das wäre mit der neuen Leber zwei Jahre gut gegangen, höchstens. Er musste sich selbst retten.

Kein Haus, kein Geld, kein Partner. Doil fing bei Null an. Aber er ist glücklich mit seinem Leben. Dem zweiten. Das erzählt er in seinem Monolog. "Was ich sagen will: Kinder, wenn's im Leben nicht so glatt läuft, gebt nicht auf. Kämpft!"

Come as you are.

Oder Udo Boy, sehniger Schlacks, "60 plus", immer noch das Gesicht eines Jungen, blaue Augen, alle möglichen Jobs im Laufe des Lebens. Boy war 20, da wurde die Freundin schwanger. Also: heiraten. So war das damals eben. "Ich wollte nicht so leben wie meine Eltern. Aber ich musste es schon mit 20."

About a girl.

Giera hat den Karton beiseite geschoben. Regisseurin Bittermann treibt ihn jetzt durch den Proberaum, wie er eben noch den Karton. Sie stößt ihn vor die Brust, forsch, fordernd. Los jetzt, wo ist deine Wut? Gib sie mir. Giera ist schon wieder zu friedlich, er muss aufgeputscht werden, die Aggression in sich finden, die Wut. Die Wut, die nicht seine ist, sondern Kurts Wut. Hinterher wird er ganz außer Atem sein, Schweißperlen durch seinen dünnen Schnauzbart rinnen fühlen. Vielleicht zehrt einen die Wut eines anderen mehr auf als die eigene.

Aber Giera muss eben toben.

Sie haben ja noch so viel Energie, diese Männer. Deutschland diskutiert über den Pflegenotstand, über die Altenbetreuung, wohin mit Opa und Oma. "Lass krachen, Alter!" ist darauf nicht die Antwort, aber vielleicht eine Interpretation. Andrea Bittermanns Mutter kam vor einem Jahr ins Altersheim. Da hat sie gedacht: "Mensch, die sind doch alle noch so lebendig. Und jetzt müssen sie hier bleiben, bis sie sterben." So entstand die Idee. Ein Stück mit alten Menschen. Auf Cobains 2002 veröffentlichte Tagebücher stieß sie in einem Antiquariat. Dann wusste sie: Das ist es. Kurt Cobain als Metapher: "Aufbruch, Wildheit, Selbstzerstörung, Verweigerung, Rebellion." Einer, der seinen Schmerz herausschrie, ihn nicht in sich vergrub wie die Generation, die ihre Mit-Regisseurin Moss "unsere schweigende Väter-Generation" nennt.

Womöglich ist das arg viel theoretischer Überbau. Die Männer leben ja einfach nur ihre Träume aus, einmal Theater zu machen. Richtig Theater. Aber das ist ja auch schon etwas. Wunder gibt es vielleicht nicht immer wieder. Aber manchmal doch. Man muss nur seinen Träumen auch noch mit 65 glauben, dass sie noch wahr werden können. Selbst wenn es kleine Träume sind. Kleine Wunder.

Peter Bach, der ehemalige Volkspolizist, hat schon immer gern gesungen. Amateurkapellen, reichlich. Theater ist neu für ihn. Aber Entertainer, das ist sein Ding. Zu Karaoke-Platten besingt er jetzt zu Hause CDs, als Gabe für Bekannte. Meistens deutsche Sachen, Schlager und so. Englisches Zeugs weniger. Zwei hat er davon im Repertoire. Auch Johnny Cashs "Ring of Fire". Den schmettert er sogar im Stück daher.

Dass Peter Bach demnächst CDs mit Nirvana-Liedern besingt und verschenkt, hält er für ausgesprochen unwahrscheinlich.

Zu Beginn von "Lass krachen, Alter!" sitzt Bach auf einem Stuhl, ganz hinten. Vorn redet Giera von einem jungen Mann, der auszog, um Krach zu machen, er wirft seinen Körper vor, faltet ihn zusammen, es durchzuckt ihn förmlich, Stromstöße müssen das sein. "Richtig Krach!!!"

Giera tobt. Und wie er tobt. Kurt Cobain würde es mögen.

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