Michael Moore: Eulenspiegel in der Notaufnahme

Mit seiner Doku "Sicko" legt der Filmemacher seinen Finger in eine offene Wunde der US-Gesellschaft - ihr armseliges Gesundheitssystem.

Moore hält eine Stqandpauke in Sachen Gesundheit Bild: dpa

In einer Pressekonferenz sagt der US-Vizepräsident, Dick Cheney, man habe elf kranke mutmaßliche Al-Qaida-Mitglieder nach Guantánamo verlegt, damit sie dort erstklassige medizinische Behandlung erhalten. Schnitt. Eine junge US-Soldatin sagt, dass die Guantánamo-Häftlinge so gute medizinische Pflege bekommen, wie sie sie in ihrem Land noch nie gesehen haben. Schnitt. Die nächste Sequenz zeigt den US-Filmemacher Michael Moore mit einer Gruppe kranker Feuerwehrmänner und -frauen auf einem Fischerboot mit Kurs auf Guantánamo. Die Lungenkranken, die am 11. September 2001 Menschen aus dem Schutt des World Trade Centers gerettet und sich dabei die Atemwege verätzt haben, hoffen, im Gefangenenlager für Terrorverdächtige endlich die medizinische Behandlung zu bekommen, die ihnen die USA verweigern.

Laut weltweiter Qualitätsliste der Gesundheitssysteme aller Industrieländer rangieren die USA - als eines der reichsten Länder der Welt - nur an 37. Stelle. Tatsächlich finden mehr als die Hälfte der US-Amerikaner, unabhängig von ihren politischen Überzeugungen, dass das US-Gesundheitssystem dringend einer Generalüberholung bedarf. Jeder erwachsene US-Bürger - ob mit oder ohne Versicherung - zahlte im vergangenen Jahr für seine Gesundheit durchschnittlich 1.000 US-Dollar (ca. 746 Euro) zusätzlich zu Versicherungsbeiträgen etc. aus eigener Tasche. Um solche nicht gedeckten Kosten gering zu halten, gehen rund die Hälfte aller US-Kranken laut Umfragen gar nicht erst zum Arzt, verzichten auf Fachbehandlungen oder lösen ihre Verschreibungen nicht ein. Besorgnis erregend ist zudem, dass nur noch 18 Prozent aller großen Arbeitgeber bei der umfassenden Krankenversicherung ihrer Angestellten zuzahlen. Umfragen zeigen, dass sich sechs von zehn Amerikanern Sorgen um ihre Krankenversicherung der kommenden Jahre machen - und das nicht unbegründet: Die US-Gesundheitskosten stiegen in den letzten fünf Jahren um 87 Prozent und sind die teuersten weltweit - bei einer bisweilen recht unterdurchschnittlich versorgten Bevölkerung. Im gleichen Zeitraum wuchsen die US-Gehälter nur um rund 20 Prozent. TAZ

Das ist nur eine der Eulenspiegeleien aus Michael Moores neuem Doku-Kinofilm "Sicko", der am Freitag in den US-Kinos anläuft. Der 9-Millionen-Dollar-Streifen ist eine verstörende und aufwühlende Reise durch das Gesundheitssystem der USA. Der umstrittene Filmemacher besucht diesmal nicht, wie in seinen früheren Filmen, ungerührte Manager im Gesundheitswesen, sondern lässt Normalo-Kranke ihre haarsträubenden Erfahrungen mit Ärzten, Fehlentscheidungen, Krankenhäusern und einer profitgierigen Gesundheitsindustrie erzählen.

Um zu zeigen, dass es auch anders, nämlich staatlich gelenkt, besser und billiger geht, reist Moore zudem durch Großbritannien, Kanada, Frankreich und Kuba, wo er, das ist nicht schwer zu erraten, natürlich zufriedenere Patienten, glücklichere Ärzte und gesündere Arme findet. Moore, dem investigativen Journalisten, der sich selbst stets die Hauptrolle gibt, ist dennoch ein kluger Schachzug gelungen. Er habe den Film nicht für die 50 Millionen Amerikaner gemacht, die keine Krankenversicherung haben, betont er in Interviews immer wieder. Sondern für jene 250 Millionen, die zwar eine haben, dafür viel Geld ausgeben, aber kaum damit rechnen können, unter allen Umständen versorgt zu sein.

Eine Stinkbombe sozusagen hat Moore damit gelegt. Denn dem schillernden linksliberalen und sozialer Marktwirtschaft nicht abgeneigten Provokateur wird es mit Sicherheit gelingen, den Präsidentschaftskandidaten beider Couleurs mit "Sicko" die Suppe zu salzen. "Ich halte nur das Streichholz an das Pulverfass, das sich in den letzten Jahren von selbst gefüllt hat", sagt Michael Moore, wohlwissend, dass das Thema bei US-Umfragen stets die Hitliste der Sorgen anführt (siehe Kasten).

US-Präsident George W. Bush hatte 2006 versprochen, am Problem zu arbeiten. Nichts ist bislang passiert. Von den knapp 20 Präsidentschaftskandidaten - inclusive Hillary Clinton - hat bislang nur einer, nämlich der demokratische Kandidat John Edwards, einen umfassenden Plan zur Gesundheitsreform vorgelegt. Experten loben Edwards dafür, zumal er mit seinem klugen Mix aus staatlichem und privatem Engagement die ideologischen Gräben, die die Debatte in den USA prägen, vielleicht überwinden könnte.

Denn der größte Stolperstein bei der Frage "Wie wollen wir versichert sein?" ist die Frage nach der Rolle des Staates. Die Republikaner wollen gemäß ihrer Ideologie, "der Markt kann alles", ein rein privat finanziertes System. Die Demokraten wollen gemäß ihrer Ideologie, "der Staat darf auch was können", ein steuerfinanziertes System. Und kein Plan war bislang überzeugend genug, dass er den Kongress geschafft hätte.

Wer glaubt, Michael Moore mache vor der Einzigen, die jemals ernsthaft versuchte ein US-Gesundheitssystem einzuführen, einen Kotau, der irrt. Gerade Hillary Clinton, die als First Lady mit ihrem gut gemeinten US-Healthcare-Plan kläglich gescheitert war, bekommt in seinem Film ihr Fett weg. Angeblich soll Moores Produzent, der Filmmogul Harvey Weinstein, der den Film finanzierte und der ein guter Freund der Clintons ist, noch versucht haben, das Schlimmste zu verhindern. Er bat, die Sequenz mit Hillary Clinton als der größten Empfängerin von Wahlkampfspenden aus der Gesundheitsindustrie herauszuschneiden. Moore verweigerte dies und erzählt in seinem Werk nun unbeirrt, wie Hillary Clinton nach ihrer Schlappe fürderhin zum Thema Gesundheitssystem "schwieg". Kurz nach ihrer Kandidaturankündigung im Januar 2007 sollen bei ihr allerdings waschkörbeweise dicke Briefumschläge der Gesundheitsindustrie eingetrudelt sein. Tatsächlich hat sie, die einzige Expertin in dieser Sache unter den Präsidentschaftskandidaten, noch nicht erklärt, wie sie das marode US-System diesmal kurieren will.

Der Stunk, den Moore natürlich auch aus finanziellen Gründen erhofft, hat erwartungsgemäß schon vor dem Kinostart von "Sicko" begonnen. Damit es schön kracht und klotzt, hat Moore, jeglicher Subtilitäten unverdächtig, ein erfahrenes Team politischer Strategen aus den Wahlkämpfen von John Kerry und Al Gore angeheuert. Deren Job ist es, PR-Aktionen zu erfinden - und Moore für die zu erwartenden Attacken seitens der Pharma- und Gesundheitsindustrie zu wappnen. "Es ist wie im Krieg", erklärt Moore die Vorbereitungen. "Wir befinden uns in einer Schlacht mit diesen Konzernen, und die sind nicht bereit, auch nur einen Zentimeter an Boden zu verlieren. Aber wir haben vor, den Wagen ins Schleudern zu bringen." Jedes neue Detail, das vergangene Woche aus den groß annoncierten "Sicko"-Previews nur für Pharma- und Krankenkassen-Lobbyisten drang, wurde in den Führungsetagen der Konzerne mit Gegenangriffen erwidert. Und schon soll aus diesen Büros eine Lawine von Verleumdungsklagen auf Michael Moore zurollen, dessen Interviewpartner erzählen, wie sie wegen ihres Brustkrebses, Hirntumors oder ihrer Leukämie von ihren profitgeilen Krankenversicherungen abgewimmelt wurden.

Noch bevor Moore gemeinsam mit Unterstützenden vor den Hauptquartieren der größten US-Krankenversicherern wie Blue Cross oder Blue Shield demonstrierte, hatten diese bereits Michael-Moore-Hotlines und -Warnsysteme eingerichtet, um verunsicherte Angestellte und Kunden wieder auf den rechten Pfad zu führen. Denkfabriken aus den ideologischen Reihen des freien Marktes wie das Cato-Institut halten bereits Veranstaltungen ab, in denen die Segnungen der Privatwirtschaft im Gesundheitswesen gepriesen werden. Und Vertreter von Health Care America, eines Dachverbandes amerikanischer Pharmaunternehmen und Krankenhäuser, verteilten zu den Previews in Washington und New York eifrig Infomaterial.

Darauf war zu lesen, dass nur ein "genuin amerikanischer Weg" bei der Gesundheitsversorgung die Garantie für Erfolg sei - und wie schlecht in Wahrheit die "sozialisierte Medizin" in Staaten wie Kanada, Großbritannien und Frankreich funktioniere. Irgendwo stand: "In Amerika stehst du in der Schlange, um einen Kinofilm zu sehen. In den Ländern mit staatlichem Gesundheitswesen stehst du in der Schlange, um einen Doktor zu sehen!" Den Effekt, dass für die meisten Amerikaner "socialised medicine" klingt wie "socialist medicine", nun ja, den werden die Texter der Infobroschüren nicht übersehen haben.

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