Matrix IV: Beschleunigung der Multiplikation

Die russische Mathematikerin Olga Holtz hat eine Million Euro und vier Jahre Zeit, um noch schneller zu rechnen

VON VERA BLOCK

Das Arbeitszimmer der jungen Gastprofessorin ist asketisch eingerichtet. Geschlossene weiße Schränke, gerade mal ein Dutzend Fachbücher auf Russisch, Englisch und Deutsch. Unter dem Tisch stehen vier massive Rollkoffer, Olga Holtz ist viel unterwegs. Auf dem Bildschirm ihres PCs wechseln sich Bilder von verschneiten Bergen und von blühenden Wiesen ab. Neben der Tastatur, direkt im Blickfeld, kleben zwei gelbe To-do-Zettel. Auf dem einen steht „math.“, auf dem anderen „non-math.“.

Vor einem halben Jahr kam Olga Holtz als Stipendiatin der Alexander-von-Humboldt-Stiftung von der kalifornischen Eliteuni Berkeley an die Technische Universität (TU) Berlin, um darüber nachzudenken, wie man die Multiplikation von Matrizen beschleunigen kann. Dafür hat sie vier Jahre Zeit und eine Million Euro zur Verfügung.

„Ich habe keine Million!“ – Olga Holtz lacht etwas verschämt, wenn man sie auf ihren Gewinn des bundesweit höchstdotierten Förderpreises anspricht. „Das klingt nur so beeindruckend. In Wirklichkeit ist mein Etat sehr streng und sparsam kalkuliert – von diesem Geld muss ich ein sechsköpfiges Team aus Studenten und Doktoranden zusammenstellen und unterhalten, Ausrüstung – PCs und Fachliteratur – kaufen, Reisen finanzieren und so weiter.“

Wenn sie redet, hilft sich Olga Holtz gerne mit den Händen. Kleine Bewegungen der dünnknochigen Finger, als ob sie nach etwas greifen würde. Neuer Satz – neuer Griff. Eine kleine, fast zierliche Frau mit lotrechtem (oder doch lieber linealgeradem?) Rücken. Ihre Gesten sind schlicht und präzise. Nichts Überflüssiges.

Olga Holtz entwickelt hochkomplexe Matrixmethoden zur Beschleunigung von Computerberechnungen. Um zu verstehen, worum es sich hier handelt, denke man sich ein Spinnennetz (mathematisch: Graph). Die Spinne bekommt eine Reihe von Farbtöpfen und muss jeden Knoten ihres Netzes mit einem Farbpunkt versehen. Dabei sollen zwei benachbarte Knoten unterschiedliche Farben bekommen. Klingt nach Kinderspiel, ist aber von großer wirtschaftlicher Relevanz: Handynetzbetreiber wissen zum Beispiel gerne, wie viele Handyfrequenzen sie brauchen, damit benachbarte Handybenutzer nicht auf derselben Frequenz telefonieren.

Die alltägliche Multiplikation („3 x 5 = 15“) ist im Prinzip die Multiplikation zweier 1x1-Matrizen. Olga Holtz beschäftigt sich dagegen mit sehr großen quadratischen Matrizen, das heißt Tabellen, die viele tausend Zeilen und gleich viele tausend Spalten besitzen.

An der Schnittstelle von reiner und angewandter Mathematik sucht die Mathematikerin nach Wegen, große Zahlenmengen zuverlässig zu ermitteln. Für das Berechnen der Statik aufwendiger Bauwerke, in der Raumfahrt und im Maschinenbau oder beim Regeln der Verkehrsflüsse. Dabei muss Olga Holtz tricksen: Sie lässt in einem sehr genau definierten Rahmen Abweichungen vom exakten Ergebnis zu. Lösungen, die in diesem Rahmen richtig sind, heißen „stabil“, „zu sehr unrichtige“ Lösungen nennt sie „instabil“. Außerdem verwendet Holtz beim Multiplizieren algebraische Methoden, das heißt: Sie nutzt Symmetrien und andere Strukturen in den Einträgen der Matrizen.

Ein Hauch von amerikanischem Akzent ist zu hören, wenn Olga Holtz Russisch spricht. Schließlich lebt die Mathematikerin seit 1996 nicht mehr in ihrer Heimat. Nostalgie? – Das sei zu abstrakt, das verstehe sie nicht. Genauso abstrakt erscheint ihr die Frage nach der Freude, die sie empfindet, wenn ein weiteres mathematisches Rätsel gelöst ist. „Es ist ein kurzes, aber sehr intensives Gefühl. Wenn etwas klappt, ist es ein gewaltiger Augenblick der Selbstbehauptung. Wenn du fühlst: I got it! Dies ist ein Moment, wo deine Kraft getestet wurde und du weißt, dass du es kannst.“ Ansonsten sei der Forschungsprozess ziemlich zäh und quälend.

Mit nicht mal dreißig Jahren hatte Olga Holtz bereits „mehrere herausragende, schwerwiegende mathematische Probleme gelöst“, erklärt der Berliner TU-Professor Volker Mehrmann. Sie sei definitiv ein Star, meint der Wissenschaftler: „In der Mathematik geht vieles über Fleiß, und nur zehn Prozent gehen über Begabung. Zu diesen zehn Prozent gehört sie zweifellos.“

Die kleine, grüne Wandtafel im Büro der Wissenschaftlerin ist bis in die letzte Ecke mit Formeln übersät. Deltas, Omegas, Unbekannte in Klammern, Gleichungen. Mehrstellige Ketten kryptischer Zeichen in weißer und rosa Kreide. Ein Kollege kam vor kurzem vorbei – da hatten sie gemeinsam etwas überlegt, erklärt Holtz die Zeichen auf der Tafel.

Die Welt, in der Prof. Dr. Olga Holtz lebt, ist eine Männerwelt. Gerade mal 10 Prozent Frauen mischen auf der höheren Ebene in der Mathematik mit, der Anteil von Professorinnen liegt in Deutschland bei 4,4 Prozent. Dabei ist diese Disziplin die einzige, in der fast genau so viele Frauen wie Männer ihr Studium beginnen. Abstrahieren und strukturieren – die klassischen mathematischen Arbeitsweisen, gelten oft auch als klassisch männliche Fähigkeiten. Gibt es also auch eine „weibliche“ Mathematik? Auf die Frage reagiert Holtz fast zornig: „Ich weiß nicht, was weibliche Mathematik ist, ich weiß auch nicht, was männliche Mathematik ist. Das ist Bullshit. Quatsch!“ Überhaupt liegt ihr diese Form von Gegensatzpaaren nicht. „Ich kann nicht mal verstehen, wo der Unterschied zwischen der angewandten und der ‚reinen‘ Mathematik liegt. Viele würden meinen, das sei Ketzerei, aber für mich ist Mathematik einfach ein System der Theorien, das es erlaubt, die Aufgaben in anderen Wissenschaftsbereichen zu lösen.“ Mathematik interessiere sich für die großen Zusammenhänge. „Die Mathematik entwickelt sich aus den Versuchen der Menschen, zu begreifen, wie die Welt funktioniert.“

Olga Holtz bringt Glanz in die Berliner Mathematik, findet ihr Kollege Mehrmann. Er möchte sie auch nach dem Ende der Gastprofessur in Berlin behalten. „Sie entspricht nicht dem Bild des introvertierten, weltabgewandten Wissenschaftlers, sie gibt der Mathematik ein menschliches Gesicht.“

Doch Berlin wird es schwer haben, die junge Frau zu halten, schließlich ist Nebenbuhlerin die University of California in Berkeley, wo auf Holtz auch eine Professur wartet. „Ich weiß nicht, was wird.“ Olga Holtz schüttelt die langen, krausen Haare. „Das wissenschaftliche Umfeld und die Forschungsperspektiven müssen stimmen.“

Die Technische Universität als Forschungsort hat sich Olga Holtz selbst ausgesucht. Zwar belegt Berlin, nach Heidelberg und Bonn, nur Platz drei im deutschen Hochschulranking, doch: „In den letzten fünf Jahren kann man hier eine interessante Entwicklung beobachten.“ Damit meint Olga Holtz nicht allein das Matheon-Forschungszentrum, sondern ebenso das mathematische Post-Graduierten-Kolleg, an dem junge Wissenschaftler aller Berliner Hochschulen gemeinsam arbeiten und sich austauschen können. Außerdem wird Berlin immer mehr zum Ballungszentrum der Weltmathematik. An der TU forscht der Leibnizpreisträger Günter Ziegler, an der Freien Universität, im Bereich der diskreten Geometrie, Martin Aigner. Bald werden solche Weltgrößen wie die Mathematiker Bernd Sturmfels und Shmuel Friedland an der Spree gastieren. Das machte ihr die Entscheidung, nach Berlin zu kommen, leicht.

Allerdings gefiel ihr die Stadt anfangs gar nicht. Nach der behüteten Kindheit im russischen Tscheljabinsk am Ural und einigen Jahren als Doktorandin in Madison im US-Bundesstaat Wisconsin kam ihr die Großstadt mit all den Problemen einer Metropole, jugendlichen „Gangster Groups“ und Bettlern in der U-Bahn unfreundlich und befremdlich vor. Mittlerweile mag sie die Mitte rund um die Friedrichstraße, sitzt gerne in Cafés oder geht zum Brandenburger Tor spazieren. Die Menschen in Berlin seien auch deutlich besser angezogen als zum Beispiel in Berkeley, wo alle in ausgewaschenen Jeans herumlaufen würden.

In ihrem Heimatort Tscheljabinsk war Olga Holtz zuletzt vor drei Jahren. Das Leben dort kennt sie nur von den Erzählungen iher Eltern. Olga Holtz wuchs zwischen Rechnern in einer Programmiererfamilie auf. „Tasten drücken“ war ihre Lieblingsbeschäftigung, noch bevor sie in die Schule kam. Schon als Erstklässlerin knackte sie mit Leichtigkeit die Rechenaufgaben der dritten Klasse. Die Eltern versorgten ihre Tochter mit Büchern: „Sie erklärten viel, zwangen aber zu nichts.“ Eigentlich sei sie ein Nesthäkchen gewesen. Als es um die Wahl der Uni ging, traute sich die Familie nicht, die siebzehnjährige Schulabgängerin allein an die renommierte Staatliche Moskauer Universität zu schicken. Später, bereits als Doktorandin der Tscheljabinsker Universität, beschloss Olga Holtz, in den USA ihr Glück zu probieren. Es war der Wunsch, ein neues Leben zu wagen. Ein komplett neues. Ein anderes. Wirtschaftlich und wissenschaftlich.

Ein Vergleich mit ihrer großen Landsmännin Sofia Kowalewskaja, die es Ende des neunzehnten Jahrhunderts als junge Frau trotz aller gesellschaftlichen Widerstände auf den mathematischen Olymp schaffte, schmeichelt Holtz: „Ich glaube, ich kann viele Sachen nachvollziehen, die in ihr vorgingen. Sie war auch kein ‚Blaustrumpf‘, führte ein soziales Leben und hatte nicht nur Zahlen im Kopf.“

Schon während ihres ersten Forschungsaufenthalts in Berlin, kaum hatte sie die Koffer ausgepackt, fragte Olga Holtz ihren Gastprofessor Volker Mehrmann, welche Chöre es in Berlin gibt. Wenig später sang sie im Philharmonischen Chor zu Berlin. Sie mag Bach. Auch deswegen, weil in seiner Musik trotz der fast mathematischen Klarheit noch etwas anderes, Unbeschreibliches schwebe. Das fasziniert. Genauso wie das Tanzen. Dass Slowfox und Wiener Walzer ihr solchen Spaß machen würden, entdeckte sie erst mit Mitte zwanzig. Ein paar Kollegen zerrten sie aus der Universitätsbibliothek heraus zu einer Tanzveranstaltung auf dem Campus. „Da war ein Tänzer – der war unglaublich!“, schwärmt Olga Holtz immer noch. Am nächsten Tag meldete sie sich zu einem Tanzkurs. Mittlerweile tanzt die Dreiunddreißigjährige die europäischen Standardtänze in der A-Klasse und hat schon mehrere Auszeichnungen gewonnen.

In Berlin konnte Olga Holtz noch keinen Tanzpartner finden. Das sei aber nicht schlimm. Momentan sei sie eh ständig unterwegs, von einer Konferenz zur anderen, jettet zwischen den USA, Italien, Deutschland. Gibt es denn vielleicht noch ein anderes Hobby, das sie gern anfangen würde? „Drachenfliegen!“

VERA BLOCK, 1970 in Tbilissi, Georgien geboren, lebt und arbeitet seit 1997 als freie Journalistin in Berlin