Aus dem Leben geworfen

Das Buch „Einfach abgehängt“ über die neue Armut in Deutschland erhielt den Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung für die politische Schrift des Jahres. Eine bittere Dankesrede

VON NADJA KLINGER
& JENS KÖNIG

Das Buch, von dem hier die Rede ist, ist nicht im Interesse der Menschen entstanden, von denen es handelt. Über zehn Millionen Deutsche sind von Armut betroffen oder bedroht. Einige wenige lernen Sie in diesem Buch kennen. Es war nicht leicht, diese überhaupt zu finden. Sie sind unsere stolze Auslese. Wir baten sie, uns ihre Geschichten zu überlassen. Wir haben ihre Bedenken aus dem Weg geräumt. Wir haben sie überredet.

Dieses Buch ist in unserem Interesse entstanden. Denn es dreht sich um die Frage, wie wir klarkommen mit dem, was wir von diesen Menschen hier erfahren. Es dreht sich um die Frage: Wie lebt die Gesellschaft mit ihren Armen?

„Danke, dass ihr euch für uns interessiert!“ Das hat nur ein Einziger von denen gesagt, deren Geschichte wir erzählt haben: Omid Amiri. Ein optimistischer Mann Mitte dreißig, der mit seiner Frau und zwei Kindern in Wiesbaden lebt. Er blickt im Leben stets nach vorn, so wie man das auch im Auto tut: immer zum Horizont schauen, damit einem nicht schlecht wird. Das Wort Armut erwähnten wir ihm sowie allen anderen Porträtierten gegenüber nie.

Keiner von ihnen behauptete, arm zu sein.

Wir betrachten ihr Leben wie einen langen Gang. Sie gehen diesen Gang entlang von der Kindheit bis zum Alter. Meist tun sie alles, was ihnen möglich ist, um vorwärtszukommen. Sie nehmen Hürden, investieren Reserven. Manchmal zögern sie, lassen sich fallen, machen Fehler. Zu beiden Seiten des Ganges sind Türen. Sobald sie eine der Türen erreichen, öffnen sie sie, um dahinter etwas zu finden: den Schulabschluss, eine Berufsausbildung nach der Schule, einen Job nach der Ausbildung, etwas, womit sie den Lebensunterhalt verdienen können … oder wenigstens ein bisschen Lohn für die soziale Arbeit in Frauenhäusern, Kultur- und Jugendzentren, die sie seit Jahren während ihrer Arbeitslosigkeit verrichten und die sich hierzulande ehrenamtlich nennt.

Hinter den Türen ereignet sich immer etwas: Die Menschen füllen Anträge aus, treten eine Schulung oder zeitweilige Beschäftigung an. Sie werden gelobt für die zahlreichen Bewerbungen, die sie zwar vergebens, aber fleißig schreiben.

Armut ist der Begriff, auf den wir uns festlegen, um auszudrücken, dass die Menschen in unserem Buch einfach abgehängt werden. Ihr Einkommen reicht nicht aus, um am Leben der Gesellschaft teilzunehmen. Oft mangelt es ihnen an Bildung, die notwendig wäre, um an dieser Situation etwas zu ändern. Hinter keiner Tür, die sie in ihrem Leben öffnen, gibt es wirklich eine Chance: keine ihren Fähigkeiten angemessene Aufgabe, keine Möglichkeit, selbst Entscheidungen zu treffen, und dadurch nicht einmal die Chance, an den eigenen Entscheidungen zu scheitern. Worauf auch immer sie sich einlassen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen: Es hat kaum etwas gemein mit dem, wofür sie sich ins Zeug gelegt haben – wofür sie quasi geschaffen sind. Die Menschen in unseren Geschichten haben ihre Biografien verlassen. Je jünger sie waren, als das geschah, desto schlechter sind die Aussichten, je in diese Biografien zurückzufinden.

Armut ist der Begriff, mit dem wir die Grenze zwischen uns und diesen Menschen markieren. Heute Abend möchten wir uns für die Wertschätzung bedanken, die Sie unserer Arbeit entgegenbringen. Sie halten ein Buch für wichtig, das nicht behauptet, die neue Armut genau zu kennen. Wir definieren nicht, sondern fragen. Wir legen uns nicht fest, sondern brechen auf. Unser Buch ist eine Exkursion an die Grenze, die es zu überwinden gilt.

Viele der Menschen in diesem Buch haben gesagt, sie sähen ihr Leben, indem es über Seiten hinweg erzählt wird, zum ersten Mal gewürdigt. Jedoch drückt der Brief, den uns Omid Amiri im Herbst schrieb, wohl eher das aus, wonach sie alle sich eigentlich sehnen. Amiri erzählte, welche kleinen Jobs zu mehr und weniger guten Konditionen er und seine Frau in Wiesbaden gefunden hatten. Er rechnete vor, wie viele Jobs sie noch brauchten, damit sie nicht mehr aufs Amt müssten. Sein Brief war eine Art Abschiedsbrief. „Wir brauchen noch siebenhundert Euro“, triumphierte er. „Dann schreibt nie wieder jemand so eine Geschichte über uns!“

Die Grenze zwischen den Armen und den Reichen in der Gesellschaft bleibt, auch wenn sich mit einem Buch viele Leser an diese Grenze begeben. Auch wenn die Erfahrung mit der Grenze ein Schritt zu deren Überwindung ist. Auch wenn das Buch durch einen Preis Anerkennung findet, bleibt es – ein Buch. Es geht seinen eigenen Weg.

Hier und da bewegt es kleine Dinge. Von einer Frau aus dem Rheinland hat eine der Frauen aus dem Buch, die sich in der Oberpfalz durchs Leben kämpft, zum Weihnachtsfest voriges Jahr etwas Geld geschickt bekommen. Sofort ist sie losgelaufen, um ihrem Sohn Geschenke zu kaufen. Im Buch erzählt sie, dass ihr Sohn einen sehnlichen Wunsch hat: Er will mit seiner Mutter einmal Pizza essen gehen. Ein Mann aus Berlin, Richter von Beruf und selbst Vater eines kleinen Jungen, hat die beiden vor Wochen dazu eingeladen.

An der Situation der Frau ändert das alles nichts. Immer wenn wir bei ihr waren, hat sie viel gelacht. Im Herbst, kurz nach Erscheinen des Buches, verspürte sie Lust, mit uns in eine Talkshow zu gehen. Dort saßen Politiker. Sie wollte sich ein Herz fassen und ihnen einiges sagen. Aber dann wurde sie krank. Während die Dreißigjährige sich tapfer mit Teilzeitjobs als Verkäuferin durchschlug, dazu in Amberg und Umgebung Kosmetikprodukte vertrieb – was ihr bislang nicht mehr Geld einbrachte, als sie für das Benzin ausgeben musste –, signalisierte ihr Körper, dass er nicht mehr konnte. Sie litt nun an einer schweren Allergie. Sie reagierte allergisch auf das Leben, das sie führte: auf Papiergeld und Kosmetikprodukte.

Unser Buch haben scheinbar viele Menschen gelesen. Die Medien haben fast überschwänglich reagiert. Wir gaben Interviews, saßen in Talkshows, in Frühstücks-, Mittags- und Nachtmagazinen, in der „Abendschau“, in Kulturmagazinen, Literatursendungen. Wir wurden geschminkt, unter Scheinwerfern zurechtgerückt. Man ermahnte uns, keine karierten Sachen zu tragen, weil sonst das Fernsehbild flimmere. Keine bunten, weil die nicht zum Thema passten. Man glättete unsere Haare. Wir sollten die Köpfe leicht schräg halten, die Oberkörper nach vorn kippen, und sobald die rote Kameralampe leuchtete, sollten wir uns gar nicht mehr bewegen. Schon an den telefonischen Anfragen für Interviews merkten wir, dass etwas nicht stimmte. „Schönes Buch, das Sie da geschrieben haben“, sagte man zu uns am Telefon. Wir fragten: „Was hat Ihnen denn besonders gefallen?“ – „Das kann ich nicht sagen“, lautete die Antwort. „Ich hab nur darin geblättert.“

Man war nicht auf der Suche nach Erfahrungen. Man bediente Themen. Themen entfalten eine gewisse Kraft. Sie machen auf ein Problem aufmerksam. Und wehe dem Problem, das nicht zu einem Thema wird! Jedoch unterliegen die Themen – von Journalisten für die Öffentlichkeit aufgearbeitet – festen Formen. Sie müssen den Anforderungen eines Mediums genügen, sind auf ein Layout beschränkt, durchlaufen Sendeminuten und bekommen Sendeplätze. Sie müssen beim Leser, Hörer oder Zuschauer ankommen, also entsprechend verpackt werden. Es geht um Überschrift und Unterzeile, um einen gewissen Ton, um Kameraeinstellung, Kulisse und Licht. Nicht selten wünschte man von beiden Autoren des Buches unbedingt die Frau. Es hieß: „Wir haben im Studio eine ungünstige Genderkonstellation. Da würde Frau Klinger gut passen.“

Obgleich niemand in unserem Buch trübsinnig ist oder jammert, setzte man uns bei Aufnahmen in der Stadt gern vor Sperrmüllhaufen und graue Betonwände. Wir gingen geduckt durch den Regen oder vor maroden Bauzäunen auf und ab. Wir kletterten die Stufen einer vom Kameraobjektiv ins Endlose gezerrten Treppe hinauf. Oben angekommen, sollten wir so ins Mikrofon sprechen, dass unsere Aussagen zerschnitten und später beliebig zusammengesetzt werden konnten. Man bat darum, dass wir uns gegenseitig auch mal ins Wort fallen, einfach damit die Sache lebhafter wurde. Besonders freute man sich über kurze Sätze mit kühnem Schwung und einem gewissen brutalen Klang.

Themen unterliegen der Konjunktur. „Perfektes Timing für euer Buch!“ Das waren die Worte, mit denen uns am häufigsten gratuliert wurde. Wir sind Teil der Unterschichtendebatte geworden. Diese Debatte genügte sich selbst. Sie wollte einfach nur da sein. Sie tat so, als hätte das Land sie bitter nötig. Gleichzeitig lief sie ab wie alle Debatten zuvor: Sie brauchte Definitionen, um Ordnung in die Probleme zu bringen. Sie suchte nach Schuldigen, damit sich aufkommende Emotionen rasch entladen konnten. Es mangelte ihr an Fragen. Sie protzte mit Antworten.

Nach Experten gierte die Debatte. Wie die neue Armut im Land nun beseitigt werden könne, wurde ich gefragt. Es war in einer Livesendung des Rundfunks. Es verschlug mir die Sprache. Ich war froh, mich gerade mal einem Problem genähert zu haben. Da sollte ich es schon lösen. Sekunden der Stille vergingen, in denen sich die Hörerschaft wohl schändlich alleingelassen fühlte. Als hätten wir eine seltene Spezies entdeckt, als existierte Armut nicht mitten in dem Leben, das wir alle miteinander verbringen. Wenn Experten schweigen, sagt überhaupt niemand mehr etwas. Dann zeigt sich, was Experten der öffentlichen Debatte eigentlich antun: Sie beenden sie.

Mit der Zeit beherrschten wir es, die Sätze mit Schwung und Klang gekonnt zu platzieren. Rasch brachten wir Interviews in Sack und Tüten. Wir redeten wie am Fließband, sodass an manchen Abenden auf mehreren Programmen Beiträge mit uns liefen. Wir saßen vorm Fernseher und schalteten per Knopfdruck hin und her. Die Debatte verlief genau so, wie es zu erwarten gewesen war. In den Schnitträumen aller Sender hatte man exakt dieselben fünf, sechs Sätze aus den Gesprächen mit uns herausgeschnitten und in die Filmbeiträge eingearbeitet.

Recht bald hatten wir uns dazu entschlossen, die Menschen aus unserem Buch vor der Unterschichtendebatte zu beschützen. Denn diese Debatte hielt nicht inne, um diese Menschen mitzunehmen. Sie ließ ihnen keinen Raum, um sich in ihr zu behaupten. „Was möchten Sie denn filmen?“, fragten wir eine Redakteurin, die unbedingt drei Porträtierte mit der Kamera aufsuchen wollte. Jeweils anderthalb Minuten sollten sie im Fernsehen zu sehen sein. „Ich will wissen, wie sie aussehen“, antwortete die Frau, „was sie den ganzen Tag so machen und wie sie an Geld kommen.“ Sie kannte die Bilder, die sie suchte, schon. Unser Buch begann dort, wo sie sich keine Vorstellungen mehr machte.

Armut. Das Thema ist nicht neu. Neu wäre, ihm einen neuen Platz in unserem Denken einzuräumen. „Das Buch hat uns sehr berührt“, schrieben die Leser vor den Weihnachtstagen. „Aber leider ist es nichts fürs Fest.“ Auch aus Obdachlosenunterkünften, von Caritas und Diakonie und aus Schuldnerberatungen kam Post. Menschen, deren Alltag darin besteht, sich der Armut zu widmen, teilten mit, sie hätten das Buch stapelweise gekauft, um es zu verschenken. „Es ist genau das Richtige für Weihnachten“, schrieben sie.

Unser Publikum hat bei Lesungen stets zögerlich applaudiert. Wir mussten uns daran gewöhnen. Es war, so zeigte sich, eine Erfahrung, die zu unserer Exkursion an die Grenze dazugehörte. Erschöpfung und Stille waren angemessene Reaktionen.

Erschöpfung und Stille muss man aushalten. Und öffentliche Veranstaltungen sind nicht dafür geschaffen, dass man gemeinsam dasitzt und schweigt. Jedoch wird auch das Miteinanderreden auf solchen Veranstaltungen oft auf eine Weise organisiert, die vor allem diesem Prinzip folgt: Ein Problem ist kein Ort, an dem man sich lange aufhält. Nur selten ließ man uns beide nach dem Lesen allein auf dem Podium sitzen. Politiker wurden uns an die Seite gesetzt, Gewerkschafter, Chefs von Arbeitsagenturen, Wissenschaftler. Kaum hatte das Publikum nach einer einstündigen Lesung eine vage Ahnung, worum es sich beim Problem der neuen Armut handeln könnte, gab es schon wieder eine Rednerliste, Redezeiten, einen Moderator und – Experten zum Thema. Es bot sich die Möglichkeit, direkt vor Ort nach einem Schuldigen zu suchen. Jemanden verantwortlich zu machen. Frust abzulassen, zu schimpfen. In nahezu allen Lesungen mit anschließend aufgefülltem Podium bewegten wir uns meilenweit von unserem Buch weg: von der Empfehlung, vermeintlich Bekanntes in aller Ruhe mit anderen Augen zu betrachten. Von dem Versuch, über das Problem und nicht sofort über dessen Beseitigung zu sprechen. Von ebenjener Frage: Wie lebe ich mit dem, was ich erlebe?

Es gibt zwei bemerkenswerte Erfahrungen, die wir mit unserem Publikum gemacht haben. Zum einen ist das die Ohnmacht, in der sich die Menschen anscheinend befinden. Sie sprechen das nicht aus. Doch ist diese Ohnmacht eindeutig zu diagnostizieren. Es gibt im Publikum kaum Ideen. Die Menschen scheinen – sei es aus Erfahrung, sei es aus Resignation – keinen Sinn darin zu sehen, sich irgendwie zu bewegen. Sie haben Fragen über Fragen, die sie loswerden wollen, und sie haben jegliche Antworten satt. Sie scheinen nur noch ein Erfolgserlebnis zu haben: wenn jemand auf dem Podium ausspricht, was auch sie denken. Dieser Erfolg fühlt sich nur sehr kurz sehr gut an.

Außer vielen Arbeitslosen sitzen im Publikum stets auch Sozialarbeiter aus Arbeitslosenzentren und Beratungsstellen. Ohnmächtig sind sie, die aus eigener Kraft die Not der Armen tagtäglich, so gut sie können, lindern, eigentlich nicht. Wäre da nicht diese Haltung, die sie miteinander verbindet. Sie sagen: Wir werkeln fernab der Gesellschaft. Dort, wo sich nach deren Auffassung die sogenannte Unterschicht befindet – von der im Moment zwar alle sprechen, mit der aber niemand wirklich etwas zu tun haben will.

Die zweite bemerkenswerte Erfahrung ist: Das Verständnis für den jeweils Anderen reicht kaum über den eigenen Lebenshorizont hinaus. Menschen sind berührt von Schicksalen, die dem ihren gleichen. Wer schlechte Erfahrungen mit dem Jobcenter gemacht hat, jubelt schon, wenn wir die Überschrift zur Geschichte über eine der Frauen vorlesen: „Hartz IV als Extremsportart“. Wer Familie und Kinder hat, schluchzt, wenn Anna Junkermann die Frau im Jobcenter um Geld bittet, um der Tochter wenigstens einen Joghurt kaufen zu können. Am Schicksal von Markus Schirmer aus Frankfurt am Main, der sich mit Immobilien verspekuliert hat und nun hoch verschuldet ist, der aus der Gesellschaft, in der er aktiver als manch anderer lebte, herauskatapultiert wurde, mag jedoch kaum jemand Anteil nehmen. Dem Chef der Arbeitsagentur auf dem Podium nimmt niemand ab, dass ihn die Schicksale der Menschen, die durch sein Haus kommen, interessieren. Dem Wissenschaftler wünscht man Hartz IV an den Hals, nur weil er das, was er zur Arbeitslosigkeit erforscht hat, etwas abgehoben formuliert. Dem Politiker glaubt man keine einzige Antwort. Aber wenn er sagt, er wisse gerade nichts zu sagen, ertönt höhnisches Gelächter.

Das Zusammenleben in einer Gesellschaft funktioniert wie in einer Langzeitbeziehung. Man lebt nicht mit dem anderen, sondern mit dem Bild, das man sich von ihm macht. Anstatt ständig neue Eindrücke zuzulassen, greift man auf Bekanntes und Gehabtes zurück. Das ist eine wichtige Leistung unseres Gedächtnisses. Eine Gedächtnisleistung, die uns in der Gesellschaft zum Verhängnis werden kann.

Einmal bot ein Fernsehsender einer von uns porträtierten Frau vierhundert Euro, damit sie in einer Talkshow auftrete. Es war kurz vor Weihnachten. Sie konnte das Geld mehr als gebrauchen. Wir beteuerten ihr, dass man sich für ihre Geschichte interessierte. Dass es um eine ernsthafte Runde gehe. Mit der Redaktion klärten wir die Gesprächsbedingungen. Vielleicht aus Gewissensbissen heraus redeten wir uns ein, den Verlauf der Sendung beeinflussen zu können. Wir fuhren mit ins Studio. Kurz bevor wir guter Dinge gemeinsam aufbrachen, kam von dort noch ein Anruf. „Mal ganz unter uns“, fragte der Redakteur: „Was macht denn diese Frau optisch so her?“

Ebenso das sehr interessierte, aufmerksam zuhörende Publikum im Mülheimer Theater an der Ruhr meinte sofort zu wissen, was Arme Menschen in diesem Land zu tun haben: Sie sollten sich zusammenschließen, auf die Straße gehen, protestieren. Man sprach von Demonstrationen, von Arbeiterbewegung, von Barrikaden. Man wusste nicht, wovon man sprach. Wie immer an Abenden wie diesem war es ein Sozialarbeiter, der erst lange stillschweigend zugehört hatte, sich dann erhob und ganz ruhig sagte: „Bitte, liebe Gutmenschen, verlangt von den Langzeitarbeitslosen nicht, auf die Straße zu gehen! Lasst sie in Ruhe! Sie haben andere Sorgen. Geht doch bitte selber auf die Straße!“

Mitunter ist es dazu gekommen, dass sich jemand im Publikum in der Stille, die zunächst entstand, ein Herz fasste. In Delmenhorst stand ein Mann auf und erzählte, wie er seit Jahren mit der Arbeitslosigkeit lebt und dass er daran denkt, lieber gar nicht mehr zu leben als so. Die Leute, die in der Buchhandlung saßen, kannten ihn wohl vom Sehen. „Warum wissen wir nichts davon?“, fragte eine Frau. Die Blicke richteten sich aufs Podium, wo wir mit diversen Politikern der Stadt und dem Lokalredakteur saßen. „Gucken Sie nicht nach vorn!“, sagte eine andere Frau zu ihren Mitbürgern. „Die Frage richtet sich an uns!“

In einem Saal voller Hartz-IV-Empfänger in Frankfurt (Oder) erhob sich eine Frau. „Ich kenne das alles in- und auswendig!“, sagte sie, nachdem wir gelesen hatten. „Das macht doch nur traurig!“ Sie war richtig wütend. Es war Samstagvormittag. Man hatte vergessen, im Haus die Heizung anzudrehen, draußen regnete es, und wir nahmen die Leute mit auf unsere Exkursion, bei der sie genau vor der eigenen Haustür landeten. Leute sprangen auf, erzählten aus ihrem Leben, um vom Nächsten zu hören, dass es ihm noch viel schlechter erging. Sie redeten und redeten, sie waren unter sich, in einem geschützten Raum. Reden Sie nicht nur hier, sagten wir, denn da wo wir herkämen, kenne man diese Geschichten nicht. „Da brauchen Sie doch nur mal den Fernseher einzuschalten und die Zeitung aufzuschlagen!“, rief jemand. Es entstand Tumult. „Aus uns macht man doch nur Schlagzeilen!“, rief ein anderer. „Uns kennt das Land nur als Jogginghose und als Bierbüchse!“

Wir können nicht wissen, ob unser Buch etwas verändert hat. Was wir mit Sicherheit sagen können, ist: Es hat uns verändert. Unser Respekt vor dem, was wir nicht wissen, ist groß geworden. Wir schätzen offene Fragen. Und wir haben große Ehrfurcht vor den Worten bekommen, mit denen wir das, was wir erleben, beschreiben. Dass die Jury das ausdrücklich gelobt hat, freut uns ganz besonders.

Am Stuttgarter Flughafen hat uns im Januar ein Taxifahrer empfangen. Der Südwestrundfunk hatte ihn geschickt. Er holte öfter Leute ab, um sie zur Literaturtalkshow des Senders ins Theater zu bringen. „Welcome! Ich bin der Winne!“, rief er. Beim Fahren redete er gern über Bücher. „Armut? Gibt’s hier nicht“, sagte Winne. „Bei uns fährt jeder Arme einen Daimler.“ Dann erzählte er von seinem Taxiunternehmen. Tagtäglich war er unterwegs, um seine Brötchen zu verdienen. Jemanden einzustellen, all den Behördenkram und das Geld, das ihn das zusätzlich kosten würde, könne er sich nicht leisten. Winne hielt mit der linken Hand das Lenkrad, mit der Rechten fuchtelte er ins Wageninnere hinein, nach hinten, wo wir saßen. Er fragte nichts, er redete. Es ging um Mietschulden, Gerichtsstreitigkeiten, um lauter Geldsorgen, der sogar seine Ehe kaputt gemacht hatte. Sein Auto raste durch das Thema. Als wir vorm Hotel waren, hatte es sich erledigt.

Zufrieden öffnete er den Kofferraum. Er reichte uns die Taschen, dann löste sich unsere kleine Expertenrunde mit ungünstiger Genderkonstellation auf. Beim Verabschieden schien er mich, die Frau, zum ersten Mal überhaupt zu bemerken. „Na?“, fragte er. „Hascht auch e Büschle geschrieben?“

JENS KÖNIG, Jahrgang 1964, ist Leiter des taz-Parlamentsbüros; NADJA KLINGER, Jahrgang 1965, ist freie Autorin, unter anderem auch für die taz. Für ihr Buch „Einfach abgehängt. Ein wahrer Bericht über die neue Armut in Deutschland“ (Berlin 2006, Rowohlt Berlin, 224 Seiten, 14,90 Euro) erhielten die beiden jüngst den Preis „Das politische Buch 2007“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ihr Text ist eine leicht gekürzte Version ihrer Dankesrede