BERLINER ÖKONOMIE 
: Großmeister als Türsteher

Einige Einblicke in die Hauptstadtszene der informellen Nebeneinkünfte – so natürlich wie das Geborenwerden

Auf der Suche nach Geldbeschaffungsmaßnahmen – nicht für uns, sondern für die Kunst – stießen wir am 1. Mai in der Oranienstraße auf ein großes Standbild am Straßenrand, das einen steinewerfenden Autonomen zeigte. Sein Kopf war ausgeschnitten, jeder konnte seinen Kopf reinstecken und sich von Freunden mit Handy fotografieren lassen. Für diesen Spaß verlangte der Besitzer, der das Bild vermutlich selbst gemalt hatte, einen Euro.

Das war war eindeutig eine schnelle informelle Einahmequelle. Etliche Passanten und Demonstranten gingen auf diesen Deal ein. Antonia Herrscher fotografierte einige. Sie arbeitet im „Netzwerk Istanbul-Berlin“ mit und schwärmt von der „informellen Architektur“ dort, die zumeist auf „nächtens besetztem Land“ (Gecekondus) entsteht und bereits ein Drittel der Stadtfläche ausmacht. Etwas Ähnliches gebe es hier nur bei den Wohnwagenleuten und bei den zwei Türken hinterm Mariannenplatz, die sich eine eigentlich zur DDR gehörende Verkehrsinsel aneigneten, sie umgruben und darauf Brett für Brett zwei Datschen errichteten, sagt sie. Drum herum pflanzten die beiden Türken Gemüse an, das sie verkauften. Ansonsten gebe Berlin jedoch in puncto informelle Architektur nicht viel her.

Überhaupt tun sich die Berliner schwer mit Existenzgründungen auf experimenteller Basis. Vor Beginn einer Ich-AG schickt das Arbeitsamt sie erst mal in einen Kursus der Industrie- und Handelskammer. Dort bekommen sie gesagt, wie man als Einzelkämpfer/Unternehmer sich mit Banken, Versicherungen, Finanzamt, Lieferanten etc. zu arrangieren hat – und dass diese alle notwendig sind. Am Ende hat man jedoch eine Existenzgründung mit hohen Schulden, wenn man sich überhaupt noch traut.

Vom Arbeitsamt über die IHK bis zu den Beratungsfirmen ist keiner dabei, der den Arbeitslosen rät, sich gemeinsam selbständig zu machen, also alles Geld zusammenzuschmeißen, um ein kollektives Projekt auf unverschuldetem Niveau anzufangen. Die Jüngeren kommen allerdings selbst darauf: Dauernd eröffnen sie Clubs, wo statt der Preis- eine Spendenliste an der Wand hängt und der Kaffee aus einer Maschine kommt, die 9,90 Euro kostet. Dafür läuft kostenlos ein Film und im Keller spielt eine Punkband.

Wegen des „informellen Charakters“ dieser Kollektivprojekte darf man ihre Existenz nicht publik machen. Alles läuft über Flüsterpropaganda. Dennoch brummen diese Läden. Die Mehrzahl der deutschen Existenzgründer in spe („Eine Existenz gründen muss so natürlich wie das Atmen, wie Geborenwerden oder Sterben sein“, J. P. Sartre) schreckt jedoch selbst vor den abgesichertsten Businessplänen zurück. So dass die Berliner Volksbank es schon fast aufgegeben hat, mit ihnen ins Geschäft zu kommen. Stattdessen stellte sie russische und türkische Sachbearbeiter ein, die nun ihre „Scenen“ beackern: „Die Türken und Russen sind eher bereit, sich selbständig zu machen.“ Das bestätigte bereits die taz-Autorin Ekaterina Beliaeva, die sich als arbeitslose Elektroanlagenbau-Ingenieurin eine Ich-AG ausdachte, die aus zwei Fremdenführer-Touren bestand: einmal aus dem Besuch kleiner Produktionsbetriebe in Mitte und zum anderen aus dem „russischen Berlin bei Nacht“. Beide Touren funktionierten, es kamen aber immer nur etwa so viele Teilnehmer, wie die vielen Heilpraktikerinnen hier Patienten haben: zu wenig, um davon leben zu können, weswegen viele noch nebenbei jobben müssen.

Das tat auch E. B., die dabei jedoch oft derart übel ausländerfeindlich angemacht wurde, dass sie schließlich nach Moskau zurückging. Ihre Scene vermisst seitdem die regelmäßig von ihr im Monbijou-Park organisierten Schachtourniere, auf denen sie eine „informelle Hühnersuppe“ anbot. Dort spielten stets auch einige „Profis“ mit. Diesen stellt sich das Existenzproblem ähnlich wie E. B., denn vom Schachspiel allein können nicht mal die – meist im Kreuzberger Schachclub organisierten – Großmeister wie die Armenier Lewon Aronjan und Gabriel Sagisjan und der Russe Sergej Kalinitschew leben. Sie brauchen daneben noch „informelle Einkünfte“. Einer arbeitet als „Türsteher“, ein anderer als „Werbeprospektverteiler“.

Er träumt von einer genial-antikapitalistischen afrikanischen Subvariante: Zur Vorbereitung des Maji-Maji-Aufstands gegen die deutschen Kolonialherren in Ostafrika verteilte der „Prophet“ Kinjikitile eine vor Kugeln schützende Medizin, zugleich begannen seine „Boten“ mit einer „Flüsterpropaganda“, für die die Empfänger zahlen mussten. Das Geld holten diese sich von weiteren willigen Empfängern der Botschaft wieder. Das System funktionierte also nach Art eines „Pilotenspiels“. Es war so erfolgreich, dass Tansania heute weitgehend deutschfrei ist und Kinjikitile ein Volksheld. HELMUT HÖGE