Viel zu viele Vokabeln zu lernen

Sie kommen mit den leckersten Rosinen im Kopf nach Berlin, junge Frauen mit Ehrgeiz. Manche ziehen wieder fort, befürchtend, keine Spuren hinterlassen zu haben: moderne Schicksale

VON JAN FEDDERSEN

Ihre Mutter würde ihr vermutlich ein „Mensch, das hatte doch alles so schön angefangen!“ sagen. Als Trost. Und ihr über den Kopf streicheln, ein „Wird schon!“ seufzen. Dass es jetzt schon wieder Kistchen und Köfferchen packen hieß, war nicht erwartet worden. Aber Anne, wie sie hier heißen soll, brauchte in diesen Stunden weder ihre Mutter noch deren Aufmunterung. Sie musste jetzt alles beieinanderhalten.

Die Party vorigen Samstag hatte ihr doch recht gegeben. Dreißig Frauen und Männer hatten in ihrer Wohngemeinschaft haltgemacht, um sie zu verabschieden. Nach Köln. Anne hat sie alle empfangen. Ein Zimmer hatte sie vor drei Jahren gemietet, ach was, hatte sie in diesem Projekt bezogen. In einer WG! Die Küche als Gemeinschaftszimmer. Einer ihrer Gäste vom Wochenende sagt, man werde ihr Lachen vermissen, ihren strahlenden Blick, ihre Art, die Dinge vielleicht nicht schlicht, aber gründlich zu nehmen.

Was man so sagt, wenn eine geht, mit der man seit etwa zwei Monaten sehr eng befreundet ist, die man möglicherweise nicht allzu genau kennt, nicht ihr dauerhaftes Kichern oder ihre leicht gurgelndes Timbre, wenn sie in ihrem Job mit Vorgesetzten zu tun hatte.

Anne geht nun, heute fährt sie ab. Eine von den vielen jungen Frauen, die ihr Studium, gern eines der weicheren Fächer, Kulturwissenschaft, Kunst, Psychologie, Medientaugliches, hinter sich brachten, um sich auf den Weg nach Berlin zu machen. Ihre Wurzeln liegen in einer anderen Stadt, dort aber weder in den exzellenten noch in den schmutzigen Vierteln, sondern in einem Quartier irgendwie dazwischen. Eines mit strengem Gymnasium, dessen Elternschaft als ökologisch aufgeklärt verstanden werden möchte, dennoch den Blick immer zu Höherem richtet, niemals, aus nackter Angst, nach unten.

Hier hat Anne alles gelernt, was für ihr Leben wichtig sein könnte. Ein fleißiges Mädchen, nie säumig mit Hausaufgaben. Schon in der Grundschule war sie anerkennenswert beflissen, beispielsweise zum Herbst der Lehrerin einige Laubblätter mitzubringen, sodass sie im Biologieunterricht als Anschauungsmaterial genommen werden konnten. So zog es sich hin. Englisch, Französisch, alles fiel Anne leicht. Ein sympathisierender Beobachter hätte ihr eventuell geraten, fünfe auch mal gerade sein zu lassen, nicht alles so konsequent auf einen Abi-Schnitt von 1,9 zulaufen zu lassen, das Signum der immer Bemühten und Fleißigen, denen es zur vollen 1,0 dann doch an flirrender Inspiration gebricht.

Eine Kollegin, ihr durchaus unwohl gesinnt, hätte kommentiert, dass das Prinzip Anne sich zu Lebenslust verhält wie muffiges Mehl zu duftendem Weißbrot – aber das in gloriosem Brotbeutel. Gemeine Ziege! In Wirklichkeit ist die Neu- wie Exberlinerin nur tapfer. Auf ihre Weise, sozusagen, mutig. Hat doch nichts gemacht, außer ihrer Sehnsucht ein Forum zu geben. Endlich bei den Coolen, den Wichtigen, den Exzellenten mitspielen. Nicht scheel angeguckt werden, weil man es früher, noch in der Schule, so schwer hatte, die Codes der Gleichaltrigen aus der besseren Schule zu verstehen. Was zieht man an? Was spricht man? Was lässt man aus? Anne hat ihre Schlüsse daraus gezogen. Sie lernte noch intensiver.

So kannte man sie auch aus Berlin. Was für ein Auftritt. In der Werbeagentur überzeugte sie auf Anhieb. Konnte Vorschläge machen, was an den Konzepten sie besser machen würde. Dass ihrer Vorgesetzten schon damals ein leicht überkicherter Ton auffiel, ein stetes „Hi-hi-hi“, ihr Lachen, das eine auffallend dunkle wie dünne Stimme verriet, ein Einvernehmen atmosphärischer Art vor allem mit gleichaltrigen Kolleginnen, mochte damals noch nicht zu denken geben.

Was aber auffiel, war ihre entschieden unangreifbare Art, sich der vielen HospitantInnen zu bedienen, die das Haus in Prenzlauer Berg besuchten, als sei es ein Coffeeshop, in dem nur beiläufig noch Umsatz gemacht wird, um den Laden in Schwung zu halten. Aber dieser leicht lehrerinnenhafte Zug fiel nicht weiter ins Gewicht, man war ja dankbar, dass da endlich eine diese Arbeit machte, verlässlich, planbar, absolut sicher. Dass es keine Ideen gab, die von ihr stammten, fiel nur einer Assistentin auf, die über Annes Lieblingswendung lästerte. Und zwar eine, die zum Hit aller Meetings wurde. Da konnte was auch immer gesagt werden, Anne kicherte, tuschelte, ließ ihre Augen strahlen und sagte: „Ja, aber.“

Das ging zwar mit der Zeit allen auf die Nerven, diese Floskel uneigentlichen Sprechens, diese Abwehr aller Gedankenspinnerei, die jeder Konferenz ja eigen zu sein hat. Das schleppt sie noch aus der Schule mit, ist ihr eingewoben in jede Zelle – und spricht ja auch für sie: mit gezielten wie freundlichen Eingriffen zu verhindern, dass schlechte Konzepte den Weg zur Produktion finden. Sagte einer, man könnte das oder jenes mal probieren, kam zuverlässig ihr „Ja, aber …“ – und zwar als Ausruf des Durchdachten, gelegentlich Diktathaften. Man verdrehte die Augen, redete über sie, obwohl keiner hätte sagen können, was sie so lästig machte. Warum bloß hat sie niemandem einmal gebeichtet, dass sie dieses Zensorische, diese Liebe zu Zensuren so nötig hatte, hatte sie sich doch selbst schon als Kind immer an der Latte von Ziffern und Zensuren messen wollen. Das hat zwar niemals Sexyness, das atmet nicht die Air von Risiko und Aufbruch, aber das war Anne ja ohnehin längst klar – ein „Keine Experimente!“ hätte ihr Motto sein können.

Freundinnen hatte sie viele, einen Freund zeitweilig auch. Sie war eigentlich angekommen. Berlin war doch ihr Terrain. Hin und wieder ging ihr durch den Kopf, sie könne es nun leicht haben. Alles hatte sie drauf, den Stoff, der früher aus Schulbüchern kam und nun einfach Berlin hieß. Freilich war ihr nie ein Rätsel, weshalb sie ihre Viertel keine Stunde je verlassen musste. Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Mitte – mehr wollte sie nie von Berlin. Kreuzberg, das Multikultiquartier, war ihr schon unheimlich. Das Unbehagen schob sie allerdings auf ihre Kenntnis, dass dort alles gestrig sei. Sie bevorzugte dann doch, als sei sie auf Bildungsausflug der Volkshochschule, den Fortgeschrittenenkurs Modernes Theater. Die Volxbühne war einfach ein Muss, das jedoch, ihr Radar nahm es fein wahr, modisch recht abzusacken begann.

Sie erwähnte es einmal als „Da gehen ja jetzt alle Provinzler hin“, um dann selbst keine Premiere zu verpassen. Die, keine Frage, nicht ohne Zutritt zur Afterparty. Wozu hatte man Kontakte, ein Netzwerk ohne Fadenscheinigkeiten? Das möchte man ihr anerkennend attestieren: eine fest vertäute Plane gespannt zu haben, auf die sie sich wie auf dem Spielplatz ihrer Kindertage hinlegen konnte, um dem Himmel entgegenzustarren.

In diesen Zirkeln der Netzwerke, der Agenturen und Clubs kannte man sie recht schnell. Die Anne! Ein Gesicht in der Menge, das man nicht ungern sah. Wie eine nahbare Frau, die sich leider auf den vierten Blick als absolut unbegabt erwies, die Kunst des Smalltalks zu üben. Ein Defizit, ein ihr innewohnendes, denn, so lässt sich doch sagen, Anne hatte nie gelernt, selbst in die beiläufigste Rederei etwas Persönliches einsickern zu lassen. Da, wo andere wissen, dass eine Plauderei ohne den gewissen Pfiff des Privaten nicht erinnerlich bleibt, hatte sie meist ein Gefühl von Taubheit. Anne, die es den Arrivierten doch nur recht machen wollte, wusste nicht aus diesem Dilemma heraus. Wie bloß konnte sie ihre ersehnten Spielplätze betreten, ohne gleich wieder übersehen zu werden?

Mit der Zeit, ja, nach zwei Jahren, bemerkte sie selbst einen Posten in ihren Kontoauszügen, der sie leicht frösteln ließ. Sehr viele Fahrkarten nach Hause, in die bestens vertraute Umgebung. Wochenenden bei der Mutter, bei ihrem Vater, bei Klassenkameraden, die jetzt auch studierten. Sie ertappte sich sogar bei einem Hungergefühl, als ihr eine Freundin Schnitzel mit Bratkartoffeln zubereitete, „alte Zeiten, gute Zeiten“, hatte diese gesagt, und Anne stimmte herzhaft mit ein.

Wir sehen natürlich längst in ihr diese allgemeine junge Frau wieder, diese Sorte der Leidenschaft, es eben auch in der Hauptstadt, im Knäuel der mächtigsten Urbanität, zu schaffen. Wissen, dass sie alle diese Neigung zeigen, besonders beflissen zu sein, das Vokabular zu beherrschen. Was man trägt, welche Taschen, Blüschen und Hosen, welcher Look sich ziemt. Wenigstens, das ließ sich mit Annes Typ wunderbar vereinbaren, wie Nelly Furtado sein, die Wunschhexe aller Mädchenträume, die sich in höchste Kreise emporranken – ein Idol, das sich durchsetzt, wenigstens einen Frühling lang in den Hitparaden.

Sie haben es nicht einfach. Nicht in ihren Agenturen, in den Clubs und nicht in den Nächten, die sie auch nicht dazu bringen, die Hüften mal auszustellen, nicht nur als Zitat von Körperlichkeit. Sie bleiben einfach steif.

Anne hat sich cool von ihren KollegInnen verabschiedet. Sie hat an diesem Nachmittag kichernd versichert, niemals Starbuck’s betreten zu haben, als ob das noch etwas änderte. Die Party war schön. Die Assistentin der Volxbühne, der DJ aus diesem gewissen Club, der doch gerade echt cool war, einige Kollegen und Bekannte. Man küsste sich auf die Wange, des Nachts. Man schwor, die Mailadressen voneinander längst zu haben – Spurenversicherung.

Berlin als Vokabelaufgabe hat sie einfach überfordert. Was man ihr und den vielen, die an Berlin der Beflissenheit wegen scheitern, raten müsste? Nichts. Es hätte einfach keinen Zweck.

JAN FEDDERSEN, 50, taz.mag-Redakteur, wuchs auf der Hamburger Veddel auf und lebt seit 1996 im Neuköllner Rütlischulviertel