Dem Nachdenken eine Spielwiese

Wenn Legenden in den Ruhestand gehen und Nachfolgefragen nicht geklärt sind: Die Zukunft der WDR-Kinoredaktion ist ungewiss

Die letzte Kinostelle gibt es im Bereich „Film, Unterhaltung und Familie“

Wer das anspruchsvolle Kino liebte und im Fernsehen suchte oder wer das Kino im Fernsehen lieben lernen wollte oder wer danach fragte, ob das Fernsehen das Kino lieben kann, für den gab es jahrzehntelang vor allem eine deutsche Adresse: die WDR-Filmredaktion. Legendär ist der in erster Linie für den Dokumentarfilm zuständige Werner Dütsch, als Förderer, Produzent und Koproduzent von Claude Lanzmanns „Shoah“, aber auch vieler Filme von Hartmut Bitomsky und James Benning, von Volker Koepp und Harun Farocki, für die das Verhältnis von Kamera und Welt, von Bild und Wort, von Gegenstand und Darstellung eine stets aufs Neue zu beantwortende Grundfrage des Kinos war und ist.

Legendär sind Georg Alexander und sein Nachfolger Wilfried Reichart als Leiter der Redaktion, die sich als Programmgestalter einer televisionären Kinemathek verstanden und sich nicht scheuten, auch das weniger Gängige und nicht unbedingt Quotenträchtige in den Vordergrund zu stellen – was freilich keineswegs nur europäisches Kunstkino hieß, sondern ebenso Hollywood-Klassiker oder amerikanischer Independent-Film. Legendär ist auch Helmut Merker, der als einer der Ersten hierzulande die Aufmerksamkeit auf das Kino in Hongkong und Ostasien richtete und mit dem Filmkritik-Format „Filmtip“ zudem für eine einzigartige Form des Nachdenkens übers Kino steht.

Legendär ist dieses goldene Zeitalter einer Filmredaktion bekennender Cineasten im Fernsehen heute leider vor allem deshalb, weil es so gut wie vorbei ist. Dütsch und Reichart, die beide in den frühen Siebzigerjahren zum WDR kamen, sind seit einigen Jahren im Ruhestand, Helmut Merker wird demnächst folgen. Die Filmredaktion existiert nicht mehr, die von Merker derzeit noch besetzte Stelle ist nun dem Programmbereich „Film, Unterhaltung und Familie“ eingeordnet. Der verwaltet zwar Produktionsetats gewaltigen Ausmaßes, setzt aber, anders als die klassische Filmredaktion, nicht auf die cineastische Profilierung durch gezielten Lizenzankauf und die Programmierung nach Kinemathekenart.

Im Laufe der Jahre ist die Sendezeit immer weiter geschrumpft – derzeit verteidigt Helmut Merker noch die „KinoZeit“-Bastion am Donnerstagabend und weiß nicht recht, ob er damit schon auf verlorenem Posten steht. Mit bescheidenem Etat werden hier immer noch Entdeckungen und Festivalerfolge der internationalen Filmszene vorgestellt, von Wong Kar Wai zu den Dardenne-Brüdern. „Diese Spielwiese“, insistiert er, „sollte dem Blick auf die Quote entzogen bleiben, die auch in den öffentlich-rechtlichen Dritten immer mehr das Programm bestimmt.“

Einen Nachfolger, so wird versichert, soll es für Merker geben. „Auf dieser Position“, fordert er, „müsste aber unbedingt weiterhin ein Restspielraum für vernünftige Redaktionsarbeit bleiben – auf der Basis von filmhistorischem Wissen und der Kenntnis der gegenwärtigen Kinematografie.“ Davon hängt auch die Zukunft des „Filmtip“ ab, in dem seit beinahe 30 Jahren die deutsche Filmkritik demonstriert, was der sorgfältige Umgang mit den Bildern des Kinos im Fernsehen bedeuten kann. Variabel ist die Länge der Sendungen, was daran liegt, dass sie von jeher eigentlich nur die Lücken füllen, die die unterschiedlich langen Spielfilme im Programmschema frei lassen.

Aus dieser Lücke hat Helmut Merker das Beste gemacht, indem er eine Form erfand, die es so noch nicht gab. „Nun, eigentlich war es Günter Rohrbachs Idee“, sagt Merker und ist sich der Ironie bewusst, die darin liegt. Ausgerechnet der heutige Filmakademiepräsident Rohrbach hat zuletzt mit seiner harschen Polemik gegen eine Filmkritik von sich reden gemacht, die den Blick auf den in Publikumszahlen minoritären Film lenkt. Ganz wie der „Filmtip“, dessen Augenmerk ausdrücklich dem anspruchsvollen Film gilt. Zu sehen sind immer nur von den KritikerInnen selbst ausgewählte Bilder des besprochenen, der Redaktion vollständig vorliegenden Werks, es gibt keine vorformatierten Bild- oder Interviewschnipsel. Und nie geht es um Daumen-rauf-oder-runter-Urteile oder den Glamour roter Teppiche, stets dafür in genauer Abstimmung von Texten und Bildern um die Verbindung von Interpretation und Formanalyse.

Quotenrekorde sind damit natürlich nicht zu brechen. Der „Filmtip“ fordert die Aufmerksamkeit und Geduld der Betrachter, er wendet sich – wie das Filmprogramm der „KinoZeit“ – ungescheut an denkende Menschen. Und das ist inzwischen ja fast ein Alleinstellungsmerkmal inmitten all der zielgruppenfixierten Fernsehfilme und TV-Kulturformate auch der Öffentlich-Rechtlichen. Bleibt zu hoffen, dass diese cineastische Insel der Seligen trotzdem – oder vielleicht doch eben drum– fortbesteht. EKKEHARD KNÖRER