Der uniforme Block

Ortstermin Jahreskongress der Zeugen Jehovas in Berlin: Obwohl die Suche nach Sinn in der Gesellschaft wächst, stagniert die Mitgliederzahl der religiösen Gruppierung. Zu viel Gehirnwäsche?

VON JULIA TRINKLE

Uniformen tragen die Zeugen Jehovas nicht, die sich am Wochenende ins Berliner Velodrom zu ihrem jährlichen Bezirkskongress aufgemacht haben. Wozu auch? Sie sehen dennoch alle gleich aus: Die Röcke der Frauen sitzen ordentlich, genau wie ihre Haare und Blusen. Die Krawatten der Männer haben kleine Rauten und Punkte auf blauem oder braunem Grund. Die Schuhe sind sauber, das glatte Leder ist aber nicht zu stark poliert.

Alle der rund 8.000 legen ein Permanentlächeln auf, halten sich höflich die Türen auf, blicken das Gegenüber an, bis es zu Ende gesprochen hat. Wobei Gespräche bei der dreitägigen Veranstaltung beinahe ausschließlich in den Pausen zwischen den Vorträgen, Bibel-Rollenspielen, der Taufe am Samstag, den Liedern und Gebeten zu beobachten sind. Ansonsten sind die Zeugen Jehovas andächtig, wenn der Redner am Pult spricht. Mikrofone transportieren seine Stimme ins Parkett, in die oberen Ränge, die Flure, Nebenräume und Toiletten. So hören zwar alle Velodrombesucher die Stimme des Redners, tatsächlich aber bekommen sie den Inhalt eines Manuskripts vorgesetzt, das die geistige Leitung der Zeugen Jehovas erarbeitet hat, die auch die Schrift Wachtturm verfasst.

Die Manuskripte sind auf allen Jahreskongressen in allen acht Bezirken in Deutschland dieselben, sagt Dr. Peter Rahn, der seit Ende der 50er-Jahre bei den Zeugen Jehovas ist. Dass sich der Tonfall der Redner unterscheidet, kann die geistige Leitung nicht verhindern. Beim biblischen Drama mit dem Titel „Kleidet euch in Demut“ hingegen schon: Die Darsteller sprechen nicht selbst, sondern bewegen ihre Lippen zu einer Ansage vom Band. Demselben, versteht sich, wie es in den anderen Kongressen zu hören sein wird.

Der Sprecher eines Hörspiels erzählt, wie Jesus „unreine Geister“ aus Menschen austreibt. Andächtig lesen die Besucher in ihren ordentlich eingebundenen Bibeln mit. Sie blicken auf, als ein Ansager fragt: „Was lässt sich in dem Text entdecken?“ Zeit, zu antworten, bleibt nicht. Das erledigt der Sprecher: „Manchmal kommen wir mit Menschen in Berührung, die so ganz anders leben als wir. Vielleicht ist ihr Zuhause primitiv und schmutzig.“ Doch wie Jesus einst sollten sich die Zeugen Jehovas beim Predigtdienst an den Haustüren auch mit andersartigen Leuten abgeben, fordert der Ansager auf.

Eine der Frauen auf der Empore schreibt hastig mit. Jedes Wort. „Für mich, für daheim“, erklärt sie. Die Bibel selbst interpretieren, selbst denken? Das ist bei den Zeugen Jehovas nicht erwünscht, sagt Stephan Weisz, Referent für Religions- und Weltanschauungsfragen der Katholischen Sozialethische Arbeitsstellen (KSA) in Deutschland. Dass die Zahl der aktiven Zeugen Jehovas in der Bundesrepublik seit langem bei 170.000 liegt, also stagniert, obwohl die Gruppe die missionarisch wohl aktivste Religionsgemeinschaft hierzulande ist, liege mitunter an ihrer Starrheit, erklärt Dr. Michael Utsch, Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Von der zunehmenden Suche der Menschen nach Halt und Sinn könnten die großen Sekten nicht profitieren. Es seien kleine Religionsgruppen, gar Hauskreise, in denen Menschen vermehrt ihr Bedürfnis nach Gemeinschaft und Orientierung stillen. Sie dienen als „Familienersatz“, meint Utsch. Denn die klassische Familie werde in „unserer Multioptionsgesellschaft“ seltener.

Auch Thomas Gandow, Sektenbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, beobachtet, dass im religiösen Bereich immer mehr spezielle Gruppen entstehen. „Für jede Weltanschauung gibt es bald eine eigene Sekte“, sagt er. Das hänge mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft zusammen. „Die Leute suchen sich ihre Religion selbst“, meint Weisz von der KSA. Der Mensch habe heute mehr Informationsmöglichkeiten als früher, denke selbstständiger. Dass diese hinsichtlich der Freiheit des Menschen positive Entwicklung auch die katholische und evangelische Kirche zu spüren bekommen, leugnet er nicht. 2005 gab es in Deutschland rund 25,9 Millionen katholische und 25,4 Millionen evangelische Christen. Das sind je 31 Prozent der Bevölkerung, 4 beziehungsweise 5 Prozent weniger als 1991. Um die Bedürfnisse der Menschen abzudecken, müssten die Kirchen ein breites Spektrum bieten, sagt Weisz. So vereine die katholische Kirche verschiedene Gruppen: Kreise, die für das Frauenpriestertum kämpfen, genauso wie sehr konservative.

Eine solche Pluralität wäre bei den Zeugen Jehovas undenkbar. „Wir sind eine Einheit“, sagt Peter Rahn und blickt von der Empore auf die uniformen Menschen im Velodrom herunter.