Dona Marta im Delirium. Michael Jackson, Megastar aus den USA, drehte am Sonntag in dem Elendsviertel von Rio sein neuestes Musikvideo. "They don't care about us", so der Titel seines vierminütigen Songs über das Schicksal der Armen in alle

Dona Marta im Delirium. Michael Jackson, Megastar aus den USA, drehte am Sonntag in dem Elendsviertel von Rio sein neuestes Musikvideo. „They don't care about us“, so der Titel seines vierminütigen Songs über das Schicksal der Armen in aller Welt. Die Slumbewohner freuten sich, aber sie blieben unter sich: Dona Marta war abgeriegelt worden, die Zugänge wurden von Muskelmännern bewacht

Ein Tänzchen in Ehren kann nicht mal Pelé verwehren

Wer ist mächtiger, Brasiliens Fernsehen „O Globo“ oder Michael Jackson? Bevor die Dreharbeiten zu seinem Videoclip „They don't care about us“ (Wir sind ihnen egal) in einem Elendsviertel in Rio de Janeiro begannen, mußte diese Frage unbedingt geklärt werden. Ergebnis: eins zu eins. Ausnahmsweise erklärte sich Jackson gegenüber dem viertgrößten Privatfernsehen der Welt zu einem Interview bereit, beantwortete vielmehr nur eine Frage: „Michael, was ist deine Botschaft an die Brasilianer?“ Antwort: „I love you, Brasil!“

Die Liebeserklärung an Brasilien und an die Bewohner der Favela „Dona Marta“ im besonderen kam nicht ganz freiwillig zustande. Verärgert über Jacksons Anweisung, der Presse den Zutritt zu den Dreharbeiten zu verweigern, ließ der mächtige Medienkonzern drei Hubschrauber unentwegt vor der „Garderobe“ des Stars kreisen. Der lärm- und hitzeempfindliche Jackson, der sich für drei Stunden in der Behausung des örtlichen Drogenhändlers „Ronaldinho“ – aktueller Wohnort: das Gefängnis Bangu II in Rio – verschanzte, gab entnervt auf. Schließlich legte er Wert darauf, seinen vierminütigen sozialkritischen Song ohne Nebengeräusche aufzunehmen.

Nach einem Hubschrauberrundflug um den Zuckerhut und die Christusstatue landete der Popstar auf einem ausgedörrten Fußballfeld und spazierte danach gelassen in den Dschungel aus Müll, Abwässern und Holzbaracken hinein – ohne Hut, nur in Jeans und mit einem T-Shirt der afrobrasilianischen Rhythmusgruppe „Olodum“, mit der er in Salvador Aufnahmen gemacht hatte.

„In der Bronx hätte der nie filmen können“

Michael gibt sich so natürlich wie möglich. Er lächelt, knutscht die kleinen Kinder ab, die kreischend hinter ihm herlaufen und haucht Küsse an die wackligen Wände der Holzbaracken. Ein inbrünstiges Raunen der Zufriedenheit geht über den Hügel. Dona Marta im Delirium. Oder war er es etwa doch nicht? Walter, langjähriger Favela-Bewohner, schwört, dem Popstar die Tasche getragen zu haben. „Er hat nach Kiwisaft und Schokolade gefragt“, erzählt er. Oder war es nur sein Double? In Dona Marta wimmelt es nur so von Imitaten. Der provokative Hüftschwenk gehört mittlerweile zum Bewegungsrepertoire der ansonsten eher mit Samba und Funk vertrauten „Favelados“.

Der offizielle Michael Jackson Nummer 2 lenkt die Fans stundenlang in der brütenden Sonne auf der Terrasse ab, wo sich normalerweise die Drogenbosse zum Grillfest treffen. Den Mietpreis für das Haus hoch oben in der Favela hielt die von Jackson beauftragte brasilianische Produktionsfirma „Skylight“ sorgsam unter Verschluß. Nur soviel ist sicher: Die Schwägerin von „Ronaldinho“, die die Luxushütte zur Zeit bewohnt, bekam für ihre großmütige Geste umgerechnet 500 Mark und die Klimaanlage, die eigens für den Popstar eingebaut wurde. Die Gage für das örtliche Drogenkommando wurde streng geheimgehalten.

Ansonsten zeigte sich der Popstar traditionell publikumsscheu. Eigentlich wollte er absolut ungestört von lästigen Journalisten in dem Elendsviertel arbeiten. Nur die unmittelbaren Anwohner sollten ihm beim Tanzen zuschauen dürfen, der Rest der 12.000 Einwohner von Dona Marta wurde unten am Aufgang der Favela zurückgehalten. Reporter, die sich bereits in der Nacht zuvor in der Favela eingenistet hatten, wurden noch im Morgengrauen die Stufen der Favela hinuntergescheucht.

Der Panzer war undurchdringlich. Über hundert Journalisten wurden mit dem Versprechen auf einen Presseausweis am Fuße der Favela hingehalten. Am Aussichtspunkt „Mirante Dona Marta“, unterhalb der Christusstatue auf dem Corcovado, verbot ein „Produktionsassistent“ der Firma „Skylight“ den Touristen, die Favela von oben zu fotografieren. Alle Zugänge zu dem Elendsviertel wurden hermetisch abgeriegelt.

Worauf beruhte die Autorität der muskulösen „Wächter“? Was für ein Recht haben Michael Jacksons Helfershelfer, mitten am Tag Rios Straßen einfach abzuriegeln? Gouverneur Marcello Alencar, verärgert über die parallele Kommandozentrale, änderte am frühen Nachmittag abrupt den Kurs. „Die Polizei wird niemanden mehr daran hindern, nach Dona Marta zu gehen“, lautete der Befehl.

„Brasilien ist eine Bananenrepublik“, beschwert sich ein Reporter der Zeitung Jornal do Brasil, selbst Opfer der Leibwächterschar. Der Ausdruck stammt von Spike Lee, dem Produzenten von „They don't care about us“. Als der Filmregisseur noch vor seiner Abreise in New York davon erfuhr, daß ein Richter in Rio mit einer einstweiligen Verfügung die Dreharbeiten für 20 Tage blockiert hatte, konnte er nicht an sich halten. Der Gerichtsbescheid wurde zwei Tage später aufgehoben.

Doch warum ist Brasilien nun eine Banenrepublik? Weil es aus Sorge um seinen Ruf einen Popstar daran hindern will, das Elend in Rio de Janeiro zu filmen? Weil die „Favelados“ kein politisches Bewußtsein haben, um den Popstar daran zu hindern, sich an ihrem Elend zu bereichern? „In der New Yorker Bronx hätte der nie filmen können“, ist sich Rios Tourismusbeauftragter Ronaldo Cesar Coelho sicher. Die Schwarzen dort hätten das sicher verhindert. Astrid Prange, Rio de Janeiro