Heimat, eine Plombe

Warum möchten die meisten Menschen irgendwo hingehören? Und woraus speisen sich ihre Gefühle einem Land oder einer Landschaft gegenüber?

von PAUL PARIN

Weil mein erstes Erzählbuch über die Jahre in Slowenien mit dem großzügigen Geburtstagsgeschenk von Kollegen und Kolleginnen für die Übersetzungskosten in slowenischer Sprache herauskam, lud mich Anka Krčmar, die Leiterin der Gemeindebibliothek in Žalec, einer kleinen Stadt nahe von Noviklošter, ein. Wir vereinbarten vorerst einen privaten Besuch. Es gab aber einen Empfang, es gab Ansprachen, Blumen für die Frau Gemahlin, eine Führung zu einigen Schlössern, die renoviert worden sind, und als Geschenk einen Prachtband von einem Professor der Kastellogie über Schlösser Sloweniens.

Für die slowenischen Freunde bin ich seither ein slowenischer Dichter, obwohl ich nicht Slowenisch spreche. Ein Sohn der Heimat, dessen Leben zurückreicht in die mythisch gewordene Zeit der k. und k. Monarchie und der eine Brückenfigur zum Westen ist, in die Zukunft Sloweniens.

Ich konnte in mir aber keine Rührung oder andere Heimatgefühle wahrnehmen. Darum machte ich mich auf die Suche. Wenn alle eine Heimat haben, wieso gerade ich nicht! Schließlich entdeckte ich, dass die Berge, die das liebliche Sanntal umrahmen, den Horizont mit schöneren Linien begrenzen als anderswo. Sonst ist die Gegend nicht spektakulär, Alpenvorland. Immerhin, in meiner ästhetischen Wahrnehmung steckt doch ein Stückchen „Heimat“. Seither sind jedoch Freunde nach Slowenien gereist und haben mir spontan erzählt: „Im Sanntal, in deiner Heimat, ist es wunderschön; die Berge dort haben schönere Linien als anderswo.“

Es ist also wieder nichts mit meinem Heimatgefühl. Hab ich da einen Defekt? Kommt es daher, dass ich als Großbürger, aus dem sozialen Gefüge herausgehoben, aufgewachsen bin? Vielleicht ist so einer in seiner Klasse daheim und braucht keine andere Heimat.

Dagegen sind meine Geschwister Kronzeugen. Mein jüngerer Bruder, der mit mir aufgewachsen ist und 1949 als Dreißigjähriger nach Amerika ausgewandert ist, sprach Slowenisch und hat in kroatischer Sprache die Matura abgelegt. Als er Noviklošter in den Siebzigerjahren zum ersten Mal wieder besuchte, fühlte er sich fremd und hatte beide slawischen Sprachen vollständig vergessen. In Pennsylvania, wo er die letzten Jahre gelebt hat und wo er gestorben ist, hatte er das Gefühl, eine Heimat gefunden zu haben. Meine Schwester, die in Lugano lebt, hat Sehnsucht, die „alte Heimat“ wiederzusehen.

Wahrscheinlich haben die Slowenen recht. Heimat ist einfach dort, wo man geboren ist. Im Französischen heißt es pays natal oder patrie, englisch home, homeland oder einfach native country, italienisch terra natia oder patria. Vaterland ist aber doch noch etwas anderes als das deutsche Wort „Heimat“. Gerade wegen des nationalen Etiketts, das der Heimat anhaftet, ist mir die tatsächliche Trennung vom Land der Geburt immer angenehm gewesen. Internationale Solidarität verbindet mich mit allen Menschen dieser Welt, ich bin Weltbürger. Das ist meine Heimat.

Seit die Werte der Aufklärung obsolet zu werden drohen, seit es anscheinend nur noch Nationen und Stämme gibt oder zu geben scheint und keine Welt der Menschen, die guten Willens sind, gilt das nicht mehr. Ich stamme aus einer verflossenen Epoche. Damit wären mein Begriff von Heimat und meine persönlichen Heimatgefühle hinfällig.

Und dennoch gibt es Heimat: ganz ohne Vaterland oder Nation oder Deutschtum. Am Südrand der Sahara, mehr als zweitausend Kilometer vom Dogonland entfernt, lernten wir den ersten Dogon kennen, einen jungen Soldaten der französischen Kolonialarmee. Im Tornister trug er den dicken Band des französischen Ethnologen Marcel Griaule, Les masques Dogon, mit sich. Wenn er sich einsam fühle oder traurig sei, lese er darin und dann sei er wieder daheim. Er gab uns Grüße mit in die „schönste Stadt der Welt“, Bandiagara im Dogonland.

Es ist also möglich, aus einem kartesianisch trockenen Buch tiefe Heimatgefühle zu beziehen. Wie viel eher aus einem uralten Glauben, einer geistigen Überlieferung, aus heiligen Büchern. Eretz Israel, die großartigste Stiftung von Heimat, war längst zur Heimat von Juden der Diaspora geworden – am wenigsten vielleicht der im Land Israel geborenen Sabra –, lange bevor ihnen der Hitlerstaat ein „Grab in den Wolken“ (Paul Celan) bereitet hatte.

Die Geschichte des Staates Israel seit seiner Gründung dauert erst dreiundfünfzig Jahre. Darum können wir leicht zurückverfolgen, wie sich die biblische Heimat unter dem Druck der Verhältnisse in jenes gefühlsgetragene Vaterland verwandelt hat, das die Bürgerinnen und Bürger, die ihre Vorväter in altehrwürdigen Schriften und archäologischen Grabungen zu finden hoffen, wahrlich nicht gesucht haben; sie vermissen die verheißene Heimat.

Ich habe an die Heimat der Juden erinnert, um nicht in die Falle einer nationalen Etikettierung zu geraten. Allzu leicht sind wir geneigt, „Heimat“ als etwas spezifisch Deutsches, als ein rückständiges, sentimentales und mit Ressentiments beladenes Phänomen zu betrachten: Heimatverbände, Heimatvolksgruppen, Heimatvereine, Heimatchöre und dergleichen. Sie alle enthalten eine Perversion von Heimat, die unschwer auf den Begriff zu bringen ist.

Was ich damit sagen will, ist leicht zu verstehen, wenn man etwa die Gedenktafel aus Bronze betrachtet, die auf dem Schlossberg in Graz angebracht ist. Eine völkische Familie, Vater, Mutter, Söhnchen und Dirndl, richtet den Blick traurig, aber entschlossen nach Süden. „Südsteiermark, verlorene Heimat“, heißt es auf der Tafel, die ein sozialdemokratischer Bürgermeister eingeweiht hat. Die „verlorenen“ Städte sind mit deutschen Namen eingetragen, Marburg, Pettau, Laibach, Gotschee. Die Heimat der Slowenen ist ausgelöscht oder soll ausgelöscht werden.

Diese Art Heimat meine ich nicht, wenn ich von Heimat spreche. Heimatlos sein ist auch kein Gegensatz zu Heimat, die man hat, die man braucht, die man in sich hat oder eben nicht, durch Verlust oder Verzicht. Wer heimatlos geworden ist, kann sehr wohl zeitlebens Heimat in sich tragen, und wer daheim geblieben ist, ohne Heimat sein.

Dichter bezeichnen manchmal ihre Muttersprache als Heimat. Hatte Heinrich Heine, als er in der Nacht an Deutschland dachte, Heimatgefühle, oder war er Patriot oder doch ein Weltbürger und maß sein Preußen, sein Deutschland, am sittlichen Ideal der Menschheit? Von Erich Fried weiß ich: Heimat und Sprache sind zwei verschiedene Dinge. Er bezeichnete sich als deutscher Dichter, der Sprache gemäß. Diese oder jene Heimat, die jüdische, die Londoner, diese alle waren für ihn unwichtige und zumeist überflüssige Etiketten, die einem angeheftet werden.

Ich will Heimat keineswegs verleugnen. Dommo, ein tüchtiger junger Pflanzer aus dem Dorf Andioumbolo im Dogonland, fuhr mit uns in die nächste Stadt Mopti, um seine Geschäfte zu erledigen. Er konnte noch die Säcke mit Hirse gegen Salz tauschen. Dann verlor er die Sprache und wurde starr und gelähmt. Ausgetrocknet und halb verdurstet hockte er in praller Sonne, keine zwanzig Schritt von den Fluten des Nigerstroms.

Wir mussten ihn in den Schatten tragen und ihm Wasser einflößen. Auf der Fahrt zurück ins Dogonland kam er zu sich. Als die Felszacken, die trockenen, gelben Halden und die Brotfruchtbäume des Dogonlandes auftauchten, gewann er die Sprache zurück und war bald wieder der gesprächige, intelligente und tatkräftige Mann, der er vor der Reise gewesen war; so, wie er in seiner Heimat gelebt hatte und weiterleben wird.

Mit Heimatgefühlen, Sehnsucht, Geborgenheit, Verlust und Suche nach Heimat habe ich mich als Psychoanalytiker befasst, beinahe bei jeder Frau und jedem Mann, die zu einer Analyse gekommen sind. Was mich betroffen gemacht hat, war das Allgemeine in der Frage: „Wie viel Heimat braucht der Mensch?“ Heimat ist nach meiner Erfahrung ein obligat individuelles Phänomen, jeder Mann und jede Frau mag Heimat brauchen, eine ureigenste Heimat, wie auch jedes Kind „daheim“ sein müsste, bis es erwachsen ist und unter Umständen der Heimat entraten oder sich eine neue Heimat suchen kann.

Sobald „der Mensch“ danach befragt wird, ob er Heimat braucht, rücken wir ihn in bedenkliche Nähe zu den postmodernen Suchern, Vermittlern und Kämpfern um Identität, mit der heute jede nationale, völkische oder sonstwie kollektive Abgrenzung oder Ausgrenzung legitimiert, jeder beliebige Herrschafts- und Machtanspruch begründet, schließlich jede mitmenschliche Solidarität in Frage gestellt wird. Gewiss sind Kinder auf eine Heimat, auf Sicherheit und Geborgenheit angewiesen, auf ein Minimum, einen Stall von Bethlehem oder auch nur das Tragetuch einer liebenden Nomadenmutter. Was das Heimatgefühl der Erwachsenen betrifft, mag es die Seele nötig haben, wenn Kälte, Einsamkeit, Depression, Verlust und Orientierungslosigkeit drohen, wenn das Selbstgefühl erschüttert ist und zu zerbrechen droht.

Für Psychoanalytiker hat Heimat die Bedeutung einer seelischen Plombe. Sie dient dazu, Lücken auszufüllen, unerträgliche Traumata aufzufangen, seelische Brüche zu überbrücken, die Seele wieder ganz zu machen. Je schlimmer es um einen Menschen bestellt ist, je brüchiger sein Selbstgefühl ist, desto nötiger hat er Heimatgefühle, die wir darum eine Plombe für das Selbstgefühl nennen. Wir sagen: Wer ein gutes Selbstgefühl hat, der hat Heimat; wem es daran gebricht, der habe Heimat.

PAUL PARIN, 1916 als Sohn eines Großgrundbesitzers in Slowenien zur Welt gekommen, Schriftsteller und Psychoanalytiker, lebt in Zürich. Sein (gekürzter) Text entstammt seinem neuen Buch: „Der Traum von Segou. Neue Erzählungen“, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2001, 196 Seiten, 38 Mark