Nächstes Jahr in Marxbad

Auf dem 36. Filmfestival von Karlovy Vary machten sich die Filmemacher wehmütige Gedanken über die Mutter. Oder sie setzten mit Karl-Marx-Bart auf den Look als Utopie

Karlovy Vary, das alte Karlsbad, hat inzwischen den Namen Carlsbad angenommen. So steht es jedenfalls an den Podesten auf den schönsten öffentlichen Plätzen; dort thronen die neuen Modelle von Mercedes und Škoda (VW). Verkauft wird wie rasend, gerade wurde der Angestellten vom Hotel Exzelsior ihr neuer Mercedes geklaut. Sie saß am Computer in der Rezeption und nahm’s erstaunlich gelassen, „bloß, ich kann mir doch nicht jedes Mal einen neuen kaufen. Es reicht einfach nicht.“

Andererseits reicht es für das Filmfestival. Für die Betreiberfirma rechnet es sich, war das allgemeine Urteil. Goldgräberstimmung in der Stadt. Gold auf den Jugendstilornamenten. Gold auf den Türmen der neuen Moschee. Die neuen Steinreichen haben ihr Geld in der Stadt angelegt. Oder gewaschen. Aber das ist nur so ein Gemunkel. Die Piste wird nahezu ausschließlich von russischen Flugzeugen angeflogen. Die Edelrestaurants werben kyrillisch. Für die Mittelschicht wird in Restaurants, die Egerländerhof heißen, auf Deutsch Schweinebraten angeboten oder böhmische Küche. Oder in goldenen deutschen Lettern das „Kaffeegedeck“ im Grandhotel Pupp, www.pupp.cz, das das beste in Tschechien sein soll. In unserer Zeitspirale sind wir auf der Höhe von 1930, drüber oder drunter, je nach Richtung. Ich kann das so genau sagen, weil diese Jahreszahl auf dem frisch renovierten Grab „unserer guten Mutter Frau A. M. Heinrich“ steht, mitten im Spaziergehwald beim „Hirschensprung“: „Das schönste Wort . . . so tief und weich / so ungelehrt gedankenreich . . .: / Mutter!“

Auf dem Filmfestival von Karlovy Vary machten sich die ergreifendsten Filme ausgesprochen wehmütige Gedanken über die Mutter. Man kann damit offenbar nicht früh genug anfangen: mit spätestens 21. So alt ist jedenfalls Carlos, der Punkrocktrommler im argentinischen Film „Toca para mí“ von Rodrigo Fürth. Er hitchhiket in die Pampa, sät Bohnen zwischen die Gleise der stillgelegten Bahn und findet sowohl die Rasenbank am Muttergrab als auch sich selbst. Das ist traumhaft weich, von tiefgründiger Naivität und rechtzeitig.

Andere fangen recht spät mit der Muttersuche an. Jan Nemec guckt in „Nächtliche Gespräche mit Mutter“ durchs Fischauge. Die Digitalkamera nimmt dies und jenes Seelenvolles auf sowie Václav Havel, wie er Kartoffelsalat spendiert. Im Off stellt sich Nemec offen aus, Alkoholkrankheit inklusive. Mutter macht weich, und ich war gerührt. Tränen kamen mir drittens bei der schwedischen Muttersuche in „Mormor, Hitler och jag“ („Meine Großmutter, Hitler und ich“), denn da steht einer (Carl Johan De Geer) zu seiner Mutter, auch wenn sie unbelehrbar gewesen war: Nazisse und Hitlerfan bis weit nach 1945. In den 17 Filmminuten sehen wir aus ihrer Sammlung die schönsten Hitlerporträts, und da können wir nichts gegen sagen, weil wir aus dem Off hören, dass der Sohn hebräisch geheiratet hat und mit Holocaust-Opfern versippt ist.

Und wie soll ich mich nun absichern, wenn ich über meine eigene Mutter schreibe? Jürgen Kiontke, mein Lektor vom Verbrecherverlag, will mein „Erinnerungsbuch“, http://ourworld.compuserve.com/homepages/DKuhlbrodt, nicht runterladen, aber ausdrucken mag ich’s nicht, wie ich auf Mammi stolz war, wenn sie neben dem Parteiabzeichen das 6-Kinder-Mutterkreuz-mit-dem-blaubsilbernen-Band anmachte. Dann mussten im Zug nach Bad Segeberg die andern im Abteil aufstehen. Und keiner wusste, dass das 6. Kind noch fehlte, weil Detlef noch nicht geboren war, und mein Bruder wäre er auch nicht gewesen. Jetzt war ich also in Carlsbad und fand Erinnerung plötzlich Scheiße. Denn ich wusste jetzt, was ich nicht wissen wollte, nämlich dass mein schönster antifaschistischer Orden, der Kommandeur des Friedenskreuzes der alliierten Widerstandskämpfer in Europa, der mit dem blausilbernen Band – dass ich den wegen meiner Mutter geliebt habe?!

Karl Marx, 1874 bis 1876. In diesen zwei Jahren hatte er in Karlsbad gewohnt. Jetzt liebt man ihn wegen seines Barts. Behauptet Knut Erich Jensen in seinem wunderschönen Dokumentarfilm „Heftig og begeistret“. Dem Nordlandfilm zufolge trägt der Unbelehrbare, der immer noch Kommunist ist, Marxbart. Der Look ist die Utopie. Die Jungen setzen dagegen auf Fantomasmasken oder Sturmhauben. Um in schönster Popmanier fassadenkletternd neue Steinreiche auszuplündern („Yamakasi“ von Ariel Zeitoun) oder um auf die SM-Tour sexuelle Obsessionen auszuleben („O Fantasma“ von João Pedro Rodriguez). Und was mach ich nun, Alter? Nächstes Jahr in Marxbad?

DIETRICH KUHLBRODT