Eine schrecklich normale Ehe

Nachbetrachtungen zum Selbstmord Hannelore Kohls: Im Rückblick ist vor allem die Selbstdisziplin bemerkenswert, mit der die deutsche Presse beinahe einhellig jegliche Zweifel an den offiziellen Erklärungen unterdrückte. Verwunderte Beobachtungen eines britischen Deutschlandkenners

von ANDREW GIMSON

Helmut Kohl hat in seinem Leben schon viele Menschen beerdigt und nun beerdigte er seine Frau Hannelore. Anfang Juli, während Kohl in Berlin war, nahm sie sich in ihrem gemeinsamen Haus in Ludwigshafen am Rhein mit einer Überdosis Schmerz- und Schlaftabletten das Leben. Die Art und Weise, wie er die Beerdigung organisierte, war mit einer Mischung aus Verlogenheit, Frechheit und der Fähigkeit, die Umgebung zu dominieren, charakteristisch für ihn. Er versammelte das gesamte deutsche Establishment zu einem Requiem in einer römisch-katholischen Kathedrale, ein Requiem für eine Protestantin, die Selbstmord begangen hatte.

Die deutschen Medien hatten bereits fast ausnahmslos Helmut Kohls Begründung für ihren Tod geschluckt. Diese besagte, dass sie in den letzten fünfzehn Monaten an einer derart schmerzhaften Lichtallergie litt, dass sie ihr Zuhause nur im Schutz der Dunkelheit verlassen konnte. Kein Arzt war in der Lage, ihre Krankheit mit Hilfe der spärlichen Angaben zu identifizieren, zumal sie ohne Autopsie beerdigt wurde. Es gibt Berichte, nach denen sie in den letzten Monaten durchaus in der Lage gewesen zu sein schien, Tageslicht zu ertragen. Einer meiner Freunde sah sie erst kürzlich auf einem Spaziergang im Grunewald am Stadtrand von Berlin. Helmut Kohl selber machte einen Tag vor ihrem Tod Andeutungen über die nächsten gemeinsamen Sommerferien in Österreich.

Nur der Stern traute sich anzumerken, dass die offiziellen Angaben zusammenhangslos seien. Außerdem wies er darauf hin, dass vor einigen Wochen, als Peter, der Sohn der Kohls, die Türkin Elif Sözen in Istanbul heiratete, Herr Kohl nicht mit seiner Frau erschien, sondern mit seiner Sekretärin Juliane Weber. Sie fing bereits 1964 in Mainz an, für ihn zu arbeiten und ist seitdem seine rechte Hand. Was Frau Kohl davon hielt, werden wir nie erfahren.

Deutsche Journalisten spekulieren seit Jahrzehnten über die Beziehung zwischen Herrn Kohl und Frau Weber. Dennoch verhielt sich der Stern ungewöhnlich, ihren Namen zu drucken, da deutsche Journalisten stolz sind, weder über das Privatleben der Politiker noch über von diesen unerwünschte Themen zu berichten. Diese selbstlose Disziplin ist in mancherlei Hinsicht bewunderswert. Sicherlich gibt es der deutschen Presse einen seriöseren Ton als vieles, was man in London findet. Lord Reith würde sich dort eher zu Hause fühlen als hier, was teilweise der Rolle der altmodischen BBC bei der Ausbildung der Nachkriegsgeneration der deutschen Journalisten geschuldet ist.

Es gibt eine moralische Ernsthaftigkeit in Deutschland, die wir Briten in unserer entwürdigenden Frivolität verloren haben. Aber es existiert auch eine beinahe kriminelle Naivität, wenn es um die Berichterstattung über die Aktivitäten eines Machers wie Helmut Kohl geht, ein lächerlicher Wille, jemanden wie ihn in seinen Aussagen ernst zu nehmen, und einen Glauben, dass es geschmacklos und unprofessionell wäre, unangenehme Fragen zu stellen.

Diejenige, die Herrn Kohl am längsten toleriert hat, war seine bedauernswerte Frau. Geboren im März 1933 pflegte Hannelore Renner, wie sie mit Geburtsnamen hieß, im Alter von elf Jahren deutsche Soldaten in Döblin zwischen Dresden und Leipzig, die mit ihren Krankentransporten auf ihrem Weg von der Ostfront Halt machten. Auch die deutsche Zivilbevölkerung floh westwärts in die Tiefen des Winters, während die Russen vorwärts marschierten. Hannelore konnte sich an Mütter erinnern, die sich weigerten, ihre erfrorenen Kinder loszulassen. Sie erinnerte sich an den Geruch von verbranntem Fleisch während der Bombenangriffe. Als die Russen kamen, sah sie Vergewaltigungen von Frauen und deutete an, dass auch sie vergewaltigt wurde. Über Monate hinweg war sie als Flüchtling auf ihrer beschwerlichen Reise Richtung Westen zum Rhein unterwegs.

Sie äußerte sich niemals genauer oder länger über diese Erfahrungen. Wie bei vielen ihrer Zeitgenossen und deren Eltern war ihre Antwort auf die Schrecken, die sie durchlebt hatte, das denkbar tiefste Schweigen. Was geschehen war, konnte nicht in Worte gefasst werden.

Im Alter von fünfzehn Jahren traf sie den achtzehnjährigen Helmut Kohl auf einem Fest. Hannelores Familie befand sich in schwierigen Umständen und ihr Kleid bestand aus drei Flaggen, wobei die Mutter bei zweien das Hakenkreuz entfernt hatte. Hannelore selbst sagte, nichts sei praktischer, wenn man arm sei und tanzen wolle. Sie war eine von Millionen westdeutscher Frauen, die nach dem Krieg einen verzweifelten Versuch unternahmen, ein normales Leben zu führen: Kuchen mit modernen Küchengeräten backen, sich vom Ehemann schikanieren lassen und sich mit einem Mut, der aus anfänglicher Dummheit resultiert, an jeder kleinbürgerlichen Banalität festklammern.

Respekt und Spott

Hannelore wurde schrecklich normal. Sie machte einen Abschluss als Englisch- und Französischübersetzerin und heiratete Helmut erst 1960, „als wir uns eine Waschmaschine leisten konnten“. Die Einsamkeit der Ehefrau eines Politikers brach über sie herein. Tagsüber arbeitete Helmut Kohl, und nachts ging er mit seinen Kumpel essen, trinken und über Politik reden. Sie erzog ihre beiden Söhne fast im Alleingang, verteidigte wild ihr Privatleben, weigerte sich, in Selbstmitleid zu zerfließen, gewann Respekt für ihre wohltätige Arbeit, aber musste mit ansehen, wie sie wegen ihrer extrem ordentlichen Frisur und anderen häuslichen Gewohnheiten verspottet wurde. In den Siebzigern wurde eine große Betonmauer um das Familienanwesen herum errichtet und Panzerglas zum Schutz vor Terroranschlägen in die Fenster eingesetzt. Man sah sie selten in Bonn. Als ihr Mann 1998 die Wahl zum Bundeskanzler verlor, mochte sie noch gehofft haben, ihn öfter in Ludwigshafen zu sehen, aber er setzte seine Karriere als Hinterbankparlamentarier fort. Er schloss sich dem Umzug der Politiker nach Berlin an und wurde darauf in einen nicht endenden Kampf um seinen Ruf verwickelt.

Der Vorwurf gegen Helmut Kohl besteht nicht darin, dass er seiner Frau gegenüber abscheulich war. Viele Männer sind gemein zu ihren Frauen und können nicht mit deren Depressionen umgehen. Dennoch ist Frau Kohls Not lehrreich. Soweit man sehen kann, unterdrückte sie jeglichen Zweifel an ihrem Ehemann und wurde doch von ihm ausgebeutet. Soweit man sehen kann, unterdrückte auch die deutsche Presse ihre Zweifel an den Umständen ihres Todes und ließ es wieder einmal zu, als Teil der Werbemaschinerie Helmut Kohls ausgebeutet zu werden.

Die Leitung des Verlagshauses Bertelsmann, das die Mehrheit der Anteile am Stern besitzt, hat sich bereits für die geschmacklose und unprofessionelle Berichterstattung des Ereignisses durch das Magazin entschuldigt, während die übrige Presse ihrem Schrecken über die Tatsache Ausdruck verliehen hat, dass deutsche Journalisten derart tief fallen können.

Während meiner sechs Jahre als Auslandskorrespondent in Berlin erregte meine Arbeit ein einziges Mal die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit, als ich Helmut Kohl im Februar 1997 im Daily Telegraph als Lügner beschrieb. Der Spiegel druckte meinen Artikel nach, und deutsche Leser überschwemmten mich mit Briefen und Anrufen, wobei ungefähr 98 Prozent von ihnen mich zu meiner Wahrnehmungsfähigkeit beglückwünschten.

Aber es bedarf keiner besonderen Wahrnehmungsfähigkeit, um Herrn Kohl als genialen Intriganten zu erkennen, der eine offensichtlich falsche Erklärung nach der anderen abgab, wobei sich seine Vorstellung von Wahrheit in keiner Weiser von seiner cleveren Einschätzung, mit wie viel er davon kommen könnte, unterschied.

Partei fest im Griff

Während der Wahlen im September 1998 ließ das deutsche Volk Helmut Kohl nach 16 Jahren als Kanzler fallen. Ein gutes Jahr später, im November 1999, traten Details über geheime Netzwerke von Bankkonten ans Tageslicht, die, angefüllt von Waffenhändlern und noch unbekannten Spendern, Helmut Kohl benutzte, um seine Partei fest im Griff zu behalten. Es sah so aus, als ob das komplizierte Netz aus Gefälligkeiten und Verpflichtungen, das er seit den frühen Sechzigern, als er der aufgehende Stern in Rheinland-Pfalz war, aufgebaut hatte, plötzlich aufgedeckt werden würde.

Aber jeder, der dies erwartete, überschätzte den Eifer der deutschen Staatsanwälte, den Morast der Korruption zu erforschen, in dem die Finanzierung der politischen Parteien längst versunken war. Ebenso unterschätzten sie die Unverwüstlichkeit von Helmut Kohl selbst in Bedrängnis und die Gewohnheit der deutschen Presse zur Selbstzensur.

Der eigentliche Vorwurf gegen das alte Monster besteht keineswegs darin, dass er nicht wusste, wie er sich um seine depressive Frau kümmern sollte, sondern dass er die brackigen Brunnen der deutschen Demokratie vergiftete. Durch seine Weigerung, die Herkunft der illegalen Spenden anzugeben, und durch die Zerstörung der Beweise, soweit es ihm, bevor er aus dem Kanzleramt ausschied, möglich war, hat er die Legitimität des Systems unterhöhlt. Dies ist aber nur einer von vielen Gedankengängen zu Helmut Kohl, den die deutsche Öffentlichkeit mit bewundernswerter Klarsicht längst verstanden hat, während die deutsche Presse ihm bislang nur widerwillig folgte.

Zuerst veröffentlicht in „The Spectator“. Aus dem Englischen von Carmen Becker