Das neue Verwirrspiel von Kabul

Die Nordallianz pocht auf Eigenständigkeit gegenüber der UNO und lässt interne Querelen erkennen. In der Provinz festigen Clanchefs ihre Machtbasis

aus Delhi BERNARD IMHASLY

Er ist wieder da: Professor Burhanuddin Rabbani, von der UNO noch immer als Präsident Afghanistans anerkannt, ist am Samstag nach fünfjährigem Exil in Kabul eingetroffen. Und die Absichten des politischen Chefs der Nordallianz sind zweideutig. Er sei zurückgekehrt, so beteuerte Rabbani, nicht um „unseren Regierungsanspruch auszuweiten, sondern den Frieden“.

Die besänftigenden Worte konnten das Misstrauen der internationalen Gemeinschaft nicht dämpfen. Denn im gleichen Atemzug kündigte Rabbani an, er werde „sobald als möglich eine Regierung bilden“. So unterstrich er stillschweigend den Anspruch, Präsident zu bleiben. Zwar sprach auch Rabbani vom Plan einer „Loya Jirga“ zur Bestimmung einer politischen Zukunft. Doch er machte klar, dass er es ist, der diese einzuberufen beabsichtigt. Er erwähnte Exkönig Sahir Schah, die einzige Persönlichkeit mit Unterstützung in allen Volksgruppen, mit keinem Wort. Rabbanis Anspruch wurde vom Sprecher des Königs in Rom umgehend kritisiert. Auch UNO-Generalsekretär Kofi Annan warnte: „Falls eine Gruppe versucht, die Macht zu kontrollieren, wird das zu einem neuen Problem.“ Bereits 1992 hatte Rabbanis Weigerung, das Amt des Präsidenten unter den siegreichen Mudschaheddin-Gruppen rotieren zu lassen, zur Destabilisierung der damaligen Regierung geführt und den Boden für die Taliban vorbereitet.

Francesc Vendrell, der Stellvertreter des UNO-Sonderbeauftragten Lakhdar Brahimi, versuchte am Samstag und Sonntag in Kabul, die Nordallianz davon abzuhalten, die Bildung einer breit abgestützten Regierung zu verzögern. Schon zeigt die Nordallianz selbst erste Zeichen von Uneinigkeit. Ihr Militärrat hatte noch kurz vor der Ankunft Rabbanis verlauten lassen, der Präsident bleibe der Haupstadt vorläufig fern. In den kommenden neunzig Tagen, während deren eine Konferenz der Stammesführer eine Regierung bestimmen solle, werde der Militärrat Kabul verwalten. Tags darauf zog die Kavalkade Rabbanis in die Stadt ein. Ein weiteres ominöses Zeichen ist das erwartete Eintreffen einer Tausendschaft von Hasara-Truppen, Mitgliedern der Nordallianz. Diese will die Hasaras in der Hauptstadt beschützen. Zwischen 1994 und 1996 waren die Hasaras in Westkabul Opfer von Massakern ihrer eigenen Verbündeten geworden.

Auch die Besetzung der Bagram-Luftwaffenbasis durch hundert britische Marines löste unterschiedliche Reaktionen aus. Während ein Sprecher ultimativ deren Abzug forderte, kritisierte Außenminister Abdullah lediglich das Landen einer ausländischen Truppe ohne jegliche Absprache.

Wechsel in Dschalalabad

Wichtige Vertreter der Paschtunen, der größten Bevölkerungsgruppe, beginnen nun, sich von ihren Taliban-Stammesgenossen abzusetzen. In der ostafghanischen Stadt Dschalalabad wählten Mudschaheddin-Gruppen Haji Qadir zum Gouverneur der Provinz Nagrahar. Qadir, Bruder des kürzlich von den Taliban erschossenen Kommandanten Abdul Haq, war bereits früher Gouverneur und hatte als solcher 1996 Dschalalabad kampflos den Taliban übergeben. Mit seinem Beitritt zur Nordallianz zerstreute er Zweifel an seiner Loyalität, wurde aber für Islambad zu einem Unsicherheitsfaktor.

Um das Feld nicht ganz der Nordallianz zu überlassen, öffnete Pakistan jetzt den Kämpfern von Saman Ghun Scharif die Grenze. Saman wurde von der Ratsversammlung „Ost-Schura“ zum Stellvertreter Qadirs gewählt. Als Polizeichef waltet ein Vertrauter des Mudschaheddin-Führers Yunus Khalis. Dieser war es gewesen, der am letzten Mittwoch den Abzug der Taliban aus Dschalalabad erreicht hatte.

Khalis bemühte sich auch in Kandahar um Vermittlung. Doch haben die Taliban inzwischen beschlossen, die Stadt nicht zu übergeben. Ihr Botschafter erklärte in Quetta, sie würden ihre Hochburg „bis zum letzten Atemzug“ verteidigen. Die Anzeichen mehren sich, dass sie dies gegen ihre eigenen Stammesgenossen tun müssen. In Peschawar und Quetta tagen reihenweise Paschtunen-Führer, um sich mit einem Aufstand ihrer Clans gegen die Taliban für eine Teilnahme an der Macht in Kabul zu legitimieren. Ein Clanführer, Hamid Karazai, befindet sich sogar seit drei Wochen in der Provinz Uruzgai nördlich von Kandahar. Nach eigenen Angaben hat er den Hauptort Tirin Kot besetzt. Von dort verhandelt auch er im Namen von sechs Clans über eine Übergabe Kandahars. Er rechnet damit, dass die anhaltenden amerikanischen Bombenschläge, wenn nicht die Taliban selbst, so doch die sie unterstützenden Kommandanten zum Nachgeben bewegen werden.

Übergabe von Kundus?

In Kundus, der einzigen Stadt, die den Taliban im Norden des Landes verblieben war, sind tausende ihrer Truppen von allen Seiten eingeschlossen. Obwohl ihre Stellungen von amerikanischen B-52 und Kampfjets pausenlos bombardiert wurden und trotz Sicherheitsgarantien der Belagerer gab es lange keine Anzeichen für ein Nachgeben. Aus dem Innern der Stadt gab es Nachrichten, dass Taliban, die sich für die Übergabe der Stadt ausgesprochen hatten, erschossen worden seien. Dies würde die Vermutung bestätigen, dass das Kommando von Ausländern – man spricht von Tschetschenen, Arabern, Pakistanern und chinesischen Uiguren – geführt wird. Diese haben von der Soldateska der Nordallianz, Garantien hin oder her, wenig Gutes zu erwarten. Gestern Nachmittag wurde gemeldet, die Taliban hätten die Kapitulation angeboten. Sie forderten Sicherheitsgarantien der UNO für ihre ausländischen Kämpfer.