Nachrichten aus dem Strudel des Denkens

Ein 20.000 Seiten umfassendes Gewebe aus Texten, die sich Wortgefechte liefern: Der Nachlass des Philosophen Ludwig Wittgenstein ist der Traum jedes postmodernen Texttheoretikers. Aber auch der Albtraum eines jeden Herausgebers. Die neuen Ausgaben von Michael Nedo und von Joachim Schulte kommen immerhin voran. Die Querverweise sollen es jetzt richten

Was sie sagen wollen, zeigt sich in dem, was sie tun, in ihrer Performance

von DAVID LAUER

„Gott ist angekommen. Ich traf ihn im Fünf-Uhr-fünfzehn-Zug“, notierte der Ökonom John Maynard Keynes, als Ludwig Wittgenstein im Januar 1929 nach langer Abwesenheit an die Universität Cambridge zurückkehrte. Wittgensteins legendärer Ruf gründete sich zu diesem Zeitpunkt allein auf ein acht Jahre zuvor erstmals erschienenes dünnes Bändchen, dessen durchnummerierte Sätze mit beispielloser Radikalität abräumten, was man bis dahin in Europa unter Philosophie verstanden hatte. Der „Tractatus Logico-Philosophicus“ war das Werk eines 29-Jährigen, der mit atemberaubender Hybris im Vorwort verkündete, mit seinen „unantastbar und definitiv“ wahren Ausführungen die philosophischen Probleme „im Wesentlichen endgültig gelöst“ zu haben. Folgerichtig hatte sich der junge Autor im Anschluss mit anderen Dingen beschäftigt. Dass Keynes ihm 1929 trotzdem im Zug Richtung Cambridge begegnete, war die Folge eines Sinneswandels. Wittgenstein hatte „schwere Irrtümer“ in seinem Frühwerk diagnostiziert und sollte den Rest seines Lebens dem Projekt widmen, dem „Tractatus“ ein „zweites Buch“ folgen zu lassen, um diese Irrtümer zu korrigieren. Doch vergeblich: Wittgenstein starb 1951, ohne eine weitere Zeile veröffentlicht zu haben. Unter seinen Hinterlassenschaften aber fanden sich weit über 20.000 beschriebene Seiten, die Früchte eines 22 Jahre währenden, unermüdlichen und doch erfolglosen Ringens um jenes zweite Buch: Wittgensteins Nachlass.

Zeitlebens sah Wittgenstein sich von philosophischen Fragen gepeitscht, in einen ewigen Ringkampf verstrickt. Gleichzeitig war er überzeugt, dass solche Fragen sich gar nicht beantworten lassen, weil sie unsinnig sind: Symptome für Störungen in menschlichen Kommunikations- und Lebensformen, leeres Wortgewölk, erzeugt durch den Missbrauch der Sprache. Daher sein berühmtes Bild: „Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit. Wenn die philosophische Therapie erfolgreich ist, hat sie nicht eine Antwort auf eine Frage gegeben, sondern die Frage selbst zum Verschwinden gebracht.“ Wittgensteins Texte stellen daher keine Theorien auf, sondern führen Techniken zur Schaffung von Klarheit vor. Was sie sagen wollen, zeigt sich in dem, was sie tun, in ihrer Performance. Deshalb haben sie auch keinerlei Ähnlichkeit mit gewöhnlichen philosophischen Abhandlungen. Wittgenstein philosophiert in Bemerkungen: Kurze, oft aphoristisch verdichtete Abschnitte, durch Leerzeilen voneinander getrennt, mit maximaler Präzision gefeilt, in scheinbar endloser Reihung aufeinander folgend, ohne Einleitung, Kapiteleinteilung oder Resümee. Gern verglich Wittgenstein sich mit einem Fremdenführer: Das Wandern auf dem mäandernden Lehrpfad der Bemerkungen soll dem Leser „Übersicht“ über ein Gelände verschaffen, ihn von der philosophischen Angst erlösen, sich nicht auszukennen.

Nach der für diesen Zweck optimal geeigneten Anordnung seiner Bemerkungen suchte Wittgenstein 22 Jahre lang. In der Regel schrieb er sie in einen Manuskriptband, aus dem er dann eine Auswahl besonders gelungener Bemerkungen diktierte. Dieses Typoskript bearbeitete er weiter, indem er strich, variierte, hinzufügte und umstellte. Manchmal zerschnitt er alles in Zettel und klebte diese in neuer Reihenfolge auf, nur um sie anschließend erneut abzuschreiben und umzumontieren. Dabei wurde das Material jedoch pausenlos durchmischt mit frischen Bemerkungen aus parallel dazu längst wieder voll geschriebenen Bänden. Dann wieder kramte Wittgenstein schon vor Jahren liegen gelassene Texte hervor, schnitt daraus neue Typoskripte zusammen, verwob sie mit ganz neuem Material, schrieb das Ergebnis erneut ab und begann wiederum mit Umstellungen und Ergänzungen. So entstand ein 20.000 Seiten umfassendes, in keine lineare Folge mehr auflösbares Gewebe miteinander kommunizierender Bemerkungen – ein Selbstgespräch, das der Autor unter seinen Manuskripten veranstaltet hat. Daher auch die polyphone, fast dramatische Struktur von Wittgensteins Texten, in denen die Stimmen der philosophischen Versuchung und der therapeutischen Klärung sich Wortgefechte liefern.

Wittgensteins Nachlass ist, mit anderen Worten, der Traum jedes postmodernen Texttheoretikers, aber der Alb eines aufrechten Herausgebers. Wie dieses Gewebe buchweise portionieren, ohne es zu zerstören? Auf diese Frage gab es lange keine überzeugende Antwort. Zwar veröffentlichten Wittgensteins Nachlassverwalter im Laufe der Jahre etwa ein Fünftel der Skripte, doch die Kritik an diesen Ausgaben wog schwer: Massiv hatte man im Namen der Lesbarkeit in die Texte eingegriffen, ohne dies im Einzelnen kenntlich zu machen oder zu begründen. Viele der so entstandenen „Werke“ sind nur Potpourris aus verschiedensten Nachlassstücken, die mehr oder weniger ausgeschlachtet und deren Inhalte nach thematischen Gesichtspunkten regruppiert wurden.

Eine bereits sehr früh ins Auge gefasste alternative Idee lautete, der Nachlass müsse in seiner Gesamtheit veröffentlicht werden. Der Verwirklichung dieser Idee hat sich Michael Nedo verschrieben, der 1994 die ersten Bände seiner viel gepriesenen „Wiener Ausgabe“ vorlegte. Nedo sieht den Nachlass im Ganzen als „das Werk“ Wittgensteins an, in dem jeder Teil zu jedem anderen in organischer Beziehung steht. Das heuristische Herz seiner Ausgabe schlägt deshalb in den Ehrfurcht gebietenden Registerbänden, in denen tabellarisch die Wanderschaft jeder einzelnen Bemerkung durch alle ihre Texte und Kontexte verzeichnet ist. Vor den Augen des Lesers entsteht so die Topografie jener weiten thematischen Landschaft, die Wittgenstein „kreuz und quer“ durchreiste. Der zuletzt erschienene Band 11 präsentiert einen ihrer höchsten Gipfel, das 1933 diktierte „Big Typescript“. Niemals zuvor und auch niemals mehr danach ging Wittgenstein so weit in dem Bemühen, seine Gedanken in die traditionelle Form eines Buches zu zwingen. Freilich umsonst: Noch während er die hinteren Abschnitte diktierte, begann er vorne mit den üblichen Bearbeitungen (die weitere Bände der Ausgabe füllen werden), sein eigenes Werk erneut im Strudel des Denkens auflösend.

Doch auch von anderswo gibt es Neues aus dem Nachlass: Joachim Schulte legt, über zehn Jahre nach der von ihm und Brian McGuinness besorgten „kritisch-genetischen Edition“ des „Tractatus“, eine ebensolche Ausgabe der 1953 erstmals erschienenen „Philosophischen Untersuchungen“ vor – jener Schrift, die allgemein als das „zweite Buch“ Wittgensteins gilt. Schultes Edition enthält alle fünf zwischen 1936 und 1946 entstandenen Fassungen dieser Schrift, die er durch Querverweise zu ebenfalls jeder einzelnen Bemerkung feinmaschig miteinander vernetzt hat. Minutiös wird hier die Geschichte eines Buches erzählt, dessen Gestalt sich immer wieder radikal wandelte, von den fulminant hingeworfenen und später kaum noch verbesserten Bemerkungen der „Urfassung“ bis zur „Spätfassung“, zu der Wittgenstein den Text mit einer Auswahl teilweise sehr alter Bemerkungen verwob, darunter zahlreiche aus dem 13 Jahre älteren „Big Typescript“. Nie ist Wittgenstein seinem „zweiten Buch“ näher gekommen als mit der Spätfassung der „Untersuchungen“, und doch war das Ringen nicht beendet: Nur als „ersten Band“ zu seinem zukünftigen Werk ließ er sie gelten.

Wittgensteins Texte führen Techniken zur Schaffung von Klarheit vor

Die Wiener Ausgabe und die Kritisch-genetische Edition lassen erstmalig unverstümmelt und mit allen bislang unterschlagenen Varianten sehen, was und wie Wittgenstein wirklich schrieb, und sind darin nicht genug zu loben. Ihre Konzeptionen aber könnten unterschiedlicher nicht sein: Nedos Ausgabe zielt auf nicht weniger als die kompromisslose Eins-zu-eins-Kartografierung von Wittgensteins Denkweg mit all seinen Schleifen und Sackgassen. Ihre edlen, schweren Folianten inszenieren den intimen Einblick in die geistigen Wanderungen des Jahrhundertgenies auch ästhetisch als sakrale Offenbarung. Schultes Ausgabe, wiewohl editorisch nicht weniger anspruchsvoll, ist pragmatischer: Er hält nicht alles im Nachlass für gleichermaßen wichtig. Deshalb folgt er nicht jedem Schlenker durch das Territorium, sondern baut eine gut gepflasterte Straße hindurch. Durch die außergewöhnlich übersichtliche Vernetzung der einzelnen Fassungen in Text und Anhängen erlaubt sein handlicher Band eine völlig neue Lektüre des Klassikers. Gleichzeitig zeigen sich die Grenzen seiner Edition an den Stellen, wo man die Hauptstraße gerne verlassen und jenen Bemerkungen folgen würde, die aus dem Korpus ausscheren und sich auf Nebenpfaden in den Weiten des Nachlasses verlieren: Schulte vermerkt diese Abzweigungen zwar, doch er erlaubt uns nicht, sie zu gehen.

Ob es je eine gedruckte Nachlass-Gesamtausgabe geben wird, steht derweil in den Sternen. Michael Nedos Lizenz für die Wiener Ausgabe umfasst allein die Schriften zwischen 1929 und 1934. Mit einer Erweiterung der Ausgabe über diesen Zeitraum hinaus ist nicht zu rechnen, da die Beziehungen zwischen Nedo und dem Gremium der Nachlassverwalter (dem nicht er, wohl aber Joachim Schulte angehört) seit vielen Jahren frostig sind. Schulte selbst hält eine gedruckte Gesamtausgabe eher für überflüssig, seit die Universität Bergen und Oxford University Press vor einem Jahr den kompletten Nachlass auf einer CD-ROM herausbrachten. Allerdings realisiert auch diese elektronische Edition noch nicht, was die eigentliche Chance der Aufbereitung des Nachlasses sein könnte, die Befreiung von Wittgensteins Denken aus dem Zwang der Linearität, an der sein „zweites Buch“ scheiterte. 1937 notierte er: „Wenn ich für mich denke, ohne ein Buch schreiben zu wollen, so springe ich um das Thema herum; das ist die einzige mir natürliche Denkweise. In einer Reihe gezwungen fortzudenken ist mir eine Qual. [. . .] Ich verschwende unsägliche Mühe auf ein Anordnen der Gedanken, das vielleicht gar keinen Wert hat.“

Zeitweilig experimentierte er mit nummerischen Verweissystemen, um nichtkursorische Lektüren seiner Texte zu ermöglichen. Es wäre daher nur konsequent, Wittgenstein post mortem die Logik eines ihm adäquaten Mediums zur Verfügung zu stellen und den Nachlass als Hypertext zu realisieren, in dem jede Bemerkung eines Manuskripts verlinkt ist mit ihren parallelen Vorkommnissen an anderen Stellen des Gewebes, durch das man sich „kreuz und quer“ klickend bewegen kann. Bislang wird keine der vorliegenden Ausgaben Wittgensteins dem Wert des Nachlasses ganz gerecht, von dem sein Schöpfer vor fünfzig Jahren hoffte, er könne einst einem Leser von Nutzen sein: „Wenn ich auch nur selten ins Schwarze getroffen habe, so würde er doch erkennen, nach welchen Zielen ich unablässig geschossen habe.“

Ludwig Wittgenstein: „Wiener Ausgabe“. Hrsg. Michael Nedo. Band 11: „The Big Typescript“. Springer, Wien, New York 2000. 546 S., 155,94 € (305 DM);Derselbe: „Philosophische Untersuchungen“. Kritisch-genetische Edition. Hrsg. Joachim Schulte, in Zusammenarbeit mit H. Nyman, E. von Savigny und G. H. von Wright. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001. 1.164 S., 101,23 € (198 DM)