„Unsere Vision ist mächtiger“

Die indische Physikerin und Globalisierungskritikerin Vandana Shiva über Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sowie die Ziele der Bürgerbewegungen

taz: Frau Shiva, was bedeutet das Weltsozialforum für die globalisierungskritische Bewegung?

Vandana Shiva: Das Gefühl, dass es eine große Gemeinschaft gibt. Die Leute fühlen sich nicht mehr isoliert. Wir waren in der Defensive, weil man uns oft in einem Atemzug mit den Terroristen genannt hat.

Was ist neu im Vergleich zum Vorjahr?

Es hat einen qualitativen Sprung gegeben. Im letzten Jahr ging es vor allem um Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Jetzt sind zwei zentrale Bereiche hinzugekommen: Frieden und Nachhaltigkeit. Das ist die Botschaft von Porto Alegre: Ohne Gerechtigkeit kein Frieden, ohne Nachhaltigkeit keine Gerechtigkeit.

Sollte die Bewegung ein gemeinsames Programm haben?

Wir wollen keine Erklärung nach Art der Welthandelsorganisation (WTO), ein hinter verschlossenen Türen ausgehandeltes Programm, das dem Rest der Welt aufgedrückt wird. In Porto Alegre fließen die Energien zusammen, da wird ein Prozess weiterentwickelt. Wir stampfen hier nichts aus dem Boden, sondern wir bauen auf etwas auf, das bereits in unseren lokalen und nationalen Zusammenhängen existiert. So sollte man Porto Alegre sehen, nicht als eine Art Masterplan für die Welt.

Aber die Erwartungshaltung ist da …

Wir arbeiten an sehr konkreten Vorschlägen. Ich zum Beispiel mache bei drei Gruppen mit, die Alternativen ganz klar definieren. Eine davon ist das „International Forum on Globalization“. Dort fragen wir uns, nach welchen Prinzipien Wirtschaft und Gesellschaft aufgebaut sein müssen. Dann beteilige ich mich an einer Arbeitsgruppe gegen die Privatisierung des Allgemeinguts Wasser und schließlich an einer Initiative, die die Debatte um intellektuelle Eigentumsrechte, die Patentierung genetischer Ressourcen und die Aneignung des biologischen und intellektuellen Reichtums des Drittten Welt vorantreibt.

Den weltweiten Diskurs dominiert immer noch die Gegenseite.

Inhaltlich sind die Bürgerbewegungen den Multis weit voraus. Ich bin davon überzeugt, dass unsere Vision mächtiger ist. Die Globalisierer haben Angst vor der Demokratie.

Was meinen Sie zur Wiederaufnahme der Freihandelsverhandlungen, die auf dem WTO-Treffen im November in Katars Hauptstadt Doha beschlossen wurde?

In Doha ist vereinbart worden, dass es eine neue Welthandelsrunde geben soll. Das war bis zuletzt höchst umstritten, vor allem bei einigen Entwicklungsländern. Die Vereinbarung ist dann in letzter Minute von ein paar G-8-Ländern erzwungen worden, die bestimmte Entwicklungsländer unter Druck gesetzt haben, und hat daher keine demokratische Legitimation. Der Freihandel ist diskreditiert, doch der militärische Kontext wird nun dazu genutzt, um die Handelsabkommen voranzutreiben. Mit derselben Begründung hat George W. Bush erreicht, dass ihn der US-Kongress durch das „Fast Track“-Gesetz in Handelsfragen ermächtigt hat. Immerhin hat Indien erreicht, dass man bei der nächsten Ministerrunde einen „ausdrücklichen Konsens“ erzielen muss.

Sie erhoffen sich also einen Zeitgewinn?

Bis zu einer endgültigen Entscheidung werden die Multis unter immer größeren Druck geraten. Auch die ökologische Agenda kann nicht einfach beerdigt werden, so wie das die USA wollen. Irgendwann werden die herrschenden Institutionen nicht mehr funktionieren. Legitimität kann man nicht erzwingen.

INTERVIEW: GERHARD DILGER