Isolation verbindet

Jugendszenen in der Zeitschleife (3): Wie in den 80er-Jahren trifft sich die antimoderne, stets mondäne Gothic-Bewegung auch heute noch in Berlin. Mit den Armen gerudert wird bei „StationtoStation“ im Kato, im Alten Kaufhaus oder im Duncker-Club

von JULIE MIESS

Ein in schwarzem Lack gekleideter junger Mann mit blonden Billy-Idol-Haaren tanzt neben einem Edelpunk, der Irokesenfrisur und schwarzes Wangenrouge trägt. Ungefähr 500 Leute tummeln sich im ehemaligen Trash in Kreuzberg, das heute „Altes Kaufhaus“ heißt. Sie tragen Lack und Leder, Netz und Spitze, Nieten, Federn und buntes Haar. Üppige Mädchen zeigen sich mit dramatischem Make-up und wilden Haaren, schmale Jungs beeindrucken im androgynen Glam-Punk-Look. In einer Nische steht ein Schrein aus Lichterketten, Rosen, Spinnweben und einem Grabstein: „All truth is parallel / All truth is untrue, Rozz Williams, 1963–1998“ steht darauf. Williams war Mitglied von Christian Death, die neben The Cure, Sisters of Mercy und Alien Sex Fiend zu den Begründern der Wave-Musik gehörten. Der DJ legt „80s Wave, Post Punk, Old School Gothic“ auf. Durchs sprayfixierte Haar der Gäste weht kaum merklich der alte Geist der Westberliner Disco Linientreu, Zentrum der Waver und Grufties in den Achtzigerjahren.

Auch die in der Provinz aufgewachsenen „Schwarzen“ scheinen heute noch besonders gern in die Großstadt Berlin zu fahren. Freitags sind sie bei „StationtoStation“ im Kreuzberger Kato oder im Alten Kaufhaus: „Ein paar sind extra von der Ostsee angereist, und der Billy-Idol-Typ kommt aus München“, freut sich Inga, eine hübsche, heitere junge Frau, die zu den Veranstaltern, der Gruppe „Trashcave“, gehört. Ragnar, ein Freund von ihr, ist in Westberlin geboren. Er arbeitet als Tontechniker und DJ. Seit über zehn Jahren dabei, gehört der Endzwanziger mit den seitlich ausrasierten, langen schwarzen Haaren zur Szeneprominenz. Ragnar kann zu allem etwas erzählen: zur Kommerzialisierung der Gothics, zum Fall des Wittener Satanistenpärchens und zu den Vorwürfen des Rechtsradikalismus. Denn obwohl die Szene sich bei vielen Veranstaltungen mondän und sexyer denn je zeigt, steht sie immer mal wieder im Mittelpunkt kritischer gesellschaftspolitischer Aufmerksamkeit.

Die Bewegung nennt sich heute „Wave-Gothic-Szene“ und ihre Anhänger bezeichnen sich selbstironisch als „Grufties“ oder „Schwarze“. Als die Szene Ende der Siebzigerjahre entstand, war sie stark von Punk beeinflusst. Siouxie and the Banshees gehörten zu den Bands, die den Nihilismus des britischen Punk seit 1978 mit dunklem Glamour versahen: Ihre Songs waren melodisch, Titel wie „Carcass“ oder „Suburban Relapse“ kalte Poesie. Auch die Stücke von Joy Division handelten von Entfremdung und Endzeitstimmung: „Isolation“ heißt einer ihrer Songs, „Love will tear us apart“ ein anderer.

„Das war noch Musik mit Herz“, sagt Ragnar und lacht. Die Gothic-Bewegung stand konträr zu einer nur vordergründig aufgeklärten, fortschrittsgläubigen Gesellschaft, sie stellte gerade für Teenies in ihren pubertäten und postpubertären Krisen eine Alternative dar: als Abgrenzung von den Eltern oder der nervenden Schulclique. Im Deutschland der 80er wurde Westberlin zum Wallfahrtsort von Gothics aus der ganzen Republik, nicht zuletzt wegen seines morbiden Mauerstadt-Charmes. Aus München, Stade, Bochum oder Bruchsal reisten sie zum Breitscheidplatz oder ins nahe gelegene Linientreu. Nach einem kurzen Einbruch erfuhr die Bewegung durch den Fall der Mauer einen neuen, kräftigen Schub; im Gothic-Outfit konnte man nun seine Skepsis gegenüber der neuen Ordnung zeigen. Mit dem seit 1992 jährlich stattfindenden „Wave Gotik Treffen“ wurde Leipzig zur Weltstadt der Szene.

Heute wiederum feiern Ostseegothics und Münchner Glam-Punks einträchtig in den Räumlichkeiten des Alten Kaufhaus in der Kreuzberger Oranienstraße. Ragnar und Inga beklagen dennoch den schlechten Ruf der Szene. „Es wird viel Quatsch über uns geschrieben, von wegen Satanismus“, sagt Inga, und Ragnar ärgert sich: „Inzwischen laufen immer mehr Kinder rum, die Him hören, weil sie im Zillo davon gelesen haben.“ Tatsächlich versteht sich die Zeitschrift Zillo wie auch ihre Konkurrenten Sonic Seducer und Orkus als Magazin für Independent-Musik. Doch sie vertreibt auch mit albernen Comicfiguren bedruckte Tassen, die das Klischee vom Gruftie verkörpern: spitze Schuhe, „Pikes“, turmhohe Haare.

Über den Satanismus-Verdacht können Inga und Ragnar fast schon wieder lachen. Er ist ein altes Vorurteil, das sich an bleichen Gesichtern und silbernen Kettchen mit Kreuz, Fledermaus- oder Schädel-Anhängern festmacht. Ragnar erzählt die jüngste Anekdote: In der S-Bahn las er im Boulevardblatt seines Gegenübers „Diese Augen sind gierig nach Blut“. Es hätten die Augen der Ritualmörderin Manuela Ruda sein können, genauso gut aber seine eigenen. Dabei sei die Satanistin ein Einzelfall in einer Szene von zehntausend Leuten: „So was kommt in den besten Familien vor.“

Ein wirkliches Problem der Szene ist dagegen, das sie auch attraktiv für Menschen mit rechter Gesinnung geworden ist. Was an ihrem antimodernen Gestus liegt: Auf Webseiten werden statt englischer Ausdrücke lieber deutsche, altmodisch klingende Übersetzungen gewählt („Verweise“ statt „Links“), gern wird dazu altdeutsche Schrift verwendet. Auch das Spiel mit nordischer Sprache, Symbolik und Mythologie gehört zur Gothic-Ästhetik. Gerade Fans von Industrial und Neofolk bilden da einen eigenen Bereich innerhalb der Szene. Während auf Industrial-Konzerten gezeigte Dokumentarfilme von Gewalt noch als Sozialkritik durchgehen können, tut sich bei Neofolkbands wie Death in June gar nichts mehr in dieser Richtung. War das Hakenkreuz auf dem T-Shirt des Punk Sid Vicious noch eine Provokation aus Sarkasmus, ist bei Death in June überhaupt keine Distanz mehr erkennbar. Die Band tritt in runenbestickten Uniformen auf oder feiert mit einen Song den Nazibildhauer Thorak und veröffentlicht diesen auf dem rechten Label „Verlag & Agentur Werner Symanek“.

Die Initiative „Grufties gegen rechts“ aus Bremen gibt seit 1998 zu bedenken, welche Bedeutung die nordische Symbolik im Dritten Reich hatte. Ragnar mag die Musik von Death in June und findet sein nordisches Pseudonym einfach ästhetisch. Er sagt: „Mein T-Shirt mit dem Wort Nazi in Nike-Schrift verhält sich wie Sid Vicious zum Hakenkreuz.“ Hoffentlich gilt das auch für den Skin in Bomberjacke mit „Walhall“-Aufschrift, den man beim sonst sehr stilvollen „Dark Monday“ im Duncker-Club im Prenzlauer Berg antreffen konnte.

Die Szene jedoch ist gerade in diesen Tagen so mehrdeutig und komplex geworden, dass man sich mit ihr als Ganzer gar nicht identifizieren kann. Beim „Angstpop“-Abend in Pankow wird die Vielseitigkeit besonders deutlich: Von antimodern kann keine Rede sein – hier tanzen tatsächlich Berlin-Mitte-Boys in Parkas gemeinsam mit Gothics zu rarer, von Kraftwerk inspirierter Minimal-Elektronik.