Weniger Stimmen, mehr Sitze

Wie Überhangmandate entstehen und warum ein schwächeres Zweitstimmenergebnis manchmal besser ist

BERLIN taz ■ Um 3.19 Uhr morgens kam die wohl verwirrendste Meldung der Wahlnacht: „Sowohl CDU als auch SPD müssen sich über zu viele Stimmen ärgern.“, hieß es bei www.wahlrecht.de.

Was wie ein Scherz klingt, ist die Realität unseres Wahlsystems. Solche seltsamen Ergebnisse können entstehen, weil das deutsche Wahlsystem zwei teilweise gegensätzliche Prinzipien miteinander verknüpft: zum einen die Wahl eines Abgeordneten in einem Wahlkreis, das so genannte Direktmandat, das derjenige erhält, der in seinem Kreis die relativ meisten Stimmen erhält. Zum anderen das Prinzip der proportionalen Vertretung der Parteien im Parlament entsprechend ihrer Anteile an der Gesamtzahl der Zweitstimmen. Für jedes gewonnene Direktmandat wird der Partei ein Listenmandat gestrichen.

Gewinnt nun eine Partei mehr Mandate direkt, als ihr nach der Verteilung der Zweitstimmen zustünden, entstehen so genannte Überhangmandate, also zusätzliche Mandate, die die Partei zugesprochen bekommt und um welche die Gesamtzahl der Sitze im Bundestag erweitert wird. Im aktuell gewählten Bundestag hat die SPD vier und die Unionsparteien ein Überhangmandat bekommen.

Die Ursache für die Entstehung von Überhangmandaten kann viele Ursachen haben, beispielsweise Stimmensplitting, eine geringe Wahlbeteiligung und den Zuschnitt der Wahlkreise. Im Wesentlichen lassen sich Überhangmandate jedoch auf zwei Faktoren zurückführen: Zum einen hat eine Partei viele Erststimmen bekommen und damit viele Direktmandate. Zum anderen hat sie wenige Zweitstimmen bekommen. Diese zweite Ursache führt dann auch zu der zunächst paradox erscheinenden Erkenntnis, weniger Stimmen hätten zu mehr Mandaten verholfen.

Der Diplomphysiker Martin Fehndrich urteilt dazu in Spektrum der Wissenschaft, Ausgabe 2/99: „Weil die Wähler durch die genannten Eigenheiten des Wahlsystems zu völlig irrationalem Verhalten bei der Stimmabgabe gezwungen werden, lässt sich das Wahlergebnis nur eingeschränkt als Ausdruck ihres Willens ansehen.“ Der Bundestag hat sich mit der Fehlerhaftigkeit des Wahlsystems bisher noch nicht befasst. STEFAN KUZMANY