„Das ist die Endphase“

Er bekennt sich zu Gott und Familie, zum christlichen Abendland und zum katholischen Film. Und er arbeitet am liebsten mit genialischen Exzentrikern von Fassbinder über Schroeter bis zu Carvani und Karmakar: der Filmproduzent Thomas Schühly

Interview von NIKE BREYER

Straßenbahnendstation München Grünwald. Schräg gegenüber wartet ein silberner Mercedes. Thomas Schühly hält freundlich grüßend auf die Haltestelle zu. „Hallo, na fein! Und nun zum Italiener.“ Die italienische Bedienung begrüßt Schühly mit wissendem Blick, er genießt das Ritual. „Caffè, Cornetto?“ Schühly trägt eine dunkle Jeans und ein lavendelblaues Hemd aus – Waschseide. Nicht wirklich nahe liegend bei einem Mann seiner Statur, die spontan an die Disziplin des Hammerwerfens denken lässt. Gleichwohl dominiert im Gespräch Zugewandtheit vor Kraft. Dass sich dem mehrsprachigen Weltreisenden immer mal wieder die rechten deutschen Begriffe sperren, nimmt der Katholik gottergeben: Begegnung ist Gnade.

taz.mag: Herr Schühly, 1992 haben Sie als Mitgeschäftsführer von Bernd Eichingers „Neue Constantin Film“ die Verfilmung von Umberto Ecos „Der Name der Rose“ produziert. Jetzt haben Sie von Eco die Rechte an seinem neuen Werk „Baudolino“ erworben, einer Art mittelalterlichem Schelmenroman. Was gibt Ihnen die Zuversicht, ein solcher Stoff könnte in unserer Zeit Erfolg haben?

Thomas Schühly: Sagen wir es so, ich habe acht Jahre in Rom gelebt und mitgekriegt, wie tausende, wahrscheinlich Millionen von Menschen durch Rom laufen und begeistert sind. Wo also etwas, das es nicht mehr gibt, auch seelisch nicht mehr gibt, die Menschen berührt, auch achthundert, tausend Jahre später. Ähnlich sehe ich das mit dem Mittelalter. Das Mittelalter ist die Zeit, die mich heute am meisten berührt. Außerdem kenne ich bisher keinen Film über das Mittelalter.

„Der Name der Rose“!

(knapp:) Hat mit dem Mittelalter nichts zu tun. Eco hat das völlig abgelehnt. Der Film ist das Ergebnis einer hugenottischen Weltbetrachtung durch den Regisseur.

Jean-Jacques Annaud.

Ich werde versuchen, mit „Baudolino“ die Chance diesmal anders zu nutzen, als es mir damals möglich war. Ich kann das Mittelalter nicht durch die Brille des Antiklerikalismus sehen. Das ist lächerlich. Das ist dumm. Das ist ein antikatholischer Reflex. Die Kirche ist bei Annaud nichts anderes als eine präkommunistische Macht, die den Menschen sagt, was sie zu denken, wie sie zu leben haben und so weiter. Dann gibt es einen Revolutionär, das ist der Franziskaner, der klopft denen mal ordentlich auf die Finger. Wenn ich an diese Szene denke: Die Mönche auf dem Berg kippen den Abfall den Hang hinunter, und das Volk stürzt sich darauf und frisst das Zeug. Das ist von einem solchen Schwachsinn! Das ist einfach alles Dreck. Es gibt zwei Filme, da gewinne ich zumindest für Momente Einblick in die Seele des Mittelalters. Das ist einmal „Decamerone“ von Pasolini und dann die „Canterbury Tales“. Das Mittelalter hat – was heute kaum mehr verstanden werden kann, weil das Religiöse fehlt – auch die Erotik erfunden.

Ich bin din, du bist min, des solt du gewis sin …

So. Eine Figur wie Lancelot ist hier typisch. Das ist Eros im höchsten Sinne. Dann nehmen Sie Maria. In dem Moment, wo ich ein Idol dieser Dimension schaffe, muss Eros geboren werden. Nichts von dem findet im Film statt. Stattdessen sehe ich Figuren aus einem Horrorkabinett, wo schon die Auswahl der Köpfe Programm ist.

Stimmt, das war ein bisschen splattermäßig.

Der Spiegel hat kürzlich etwas veröffentlicht, was überfällig war. Die Feststellung: Die Inquisition gehört nicht zum Mittelalter. Ende.

Sondern in die Neuzeit?

Sicher. Der Hexenhammer ist in der Neuzeit geschrieben worden, wenn ich sie ab 1492 ansetze. Was nach 1500 kam, ist bereits der Geist. Aus dem Geist entsteht die Inquisition. Ich bewege mich da in einer Terminologie, die Goethe erfunden hat. Goethe hat gesagt, es gibt Zeiten, die Ausdruck der Seele sind, und Zeiten, die Ausdruck des Geistes sind. Der Geist ist der Widersacher der Seele, und er kann nur durch das Zerstören der Seele wachsen.

Sagt Goethe?

Ja klar, auf den Begriff gebracht hat es dann Ludwig Klages. Denken Sie auch an Dostojewski.

Andere haben mal sinngemäß gesagt, die Geschichte ist das Zusichselbstkommen des Geistes.

Wenn wir über solche Begriffe reden, kann ich sie nur aus der katholischen Sicht interpretieren. Und die ist genauso richtig und genauso falsch wie die anderen auch.

Die genannte Bestimmung von Seele und Geist ist mir nicht vertraut.

(lacht) Das hat mit Hegel nichts zu tun. Der Geist als Widersacher der Seele manifestiert sich immer über Materie, über Technik. Ganz blödes Beispiel: Der Geist musste zur Erfindung des Computers führen, eine völlig logische Entwicklung. Das finden Sie auch in amerikanischen Filmen, die diese Entwicklung auf die nächsten Jahrhunderte hochrechnen, teilweise blendend erzählt, wo dann die Maschine das Endergebnis ist.

Was wäre in diesem Sinne Ausdruck der Seele?

Seele hat immer und muss immer mit Metaphysik zu tun haben. Für mich manifestiert sich Seele zum Beispiel in Kunst. Es gibt noch anderes, aber für mich ist das Höchste immer die Musik gewesen. Bei Mozart ist Ende, für mich zumindest. Mozart war natürlich katholisch.

Ist das wesentlich für seine Musik?

Sehen Sie, der Katholik ist immer bereit, zu staunen – ob das Heilige sind, Engel, was auch immer. Was nichts mit infantil zu tun hat. Einer der zentralen Sätze des Neuen Testaments ist: Werdet wie die Kinder! Mozart war von einer reinen Kindlichkeit. Zum Protestantismus gehört das Alte Testament, zum Katholizismus das Neue Testament. Das Neue Testament ist für all die Abzweigungen des Protestantismus, ob Zwingli oder Calvin, immer suspekt gewesen. Man ist immer zum alten Jahwe zurückgekommen. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Protestantismus wie der Judaismus gehen auf Gerechtigkeit, bis heute. Der Katholizismus geht auf das Neue Testament. Das ist die Liebe.

Verzeihen, Vergeben.

Das ist es. Deswegen bin ich auch aus meinem Beruf ausgestiegen. Ich habe zum Ende meines Jurastudiums für einen Staatsanwalt gearbeitet, und es ging damals darum, jemanden zu verurteilen.

Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Das mag seine Berechtigung haben, zivilisatorisch. Das ist alles okay. Nur – ich persönlich möchte damit nie etwas zu tun haben.

Hat das mit der katholischen Idee der Gnade zu tun?

Das ist das entscheidende Wort. Vom Spiegel wurde mir einmal angetragen, über Katholizismus und Filmgeschichte zu reden. Dazu habe ich immer gesagt, es gibt nur zwei große Richtungen: das ist der jüdische Film und der katholische Film.

Namen, bitte!

Für das Katholische wären das Scorsese, Coppola bis zu den großen irischen Filmemachern. Ich rede nicht nur von den Italienern.

Und der protestantische Film?

Gut, es gibt einen Ingmar Bergmann. Aber das ist für mich letztlich die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Im Unterschied zu Gerechtigkeit ist Gnade nicht einklagbar. Das heißt, sie ist wesenhaft unberechenbar, man könnte auch sagen: willkürlich.

(lacht) Aber gilt das für die Gerechtigkeit nicht auch? Es trifft auf beides zu. Das kann ich Ihnen als Jurist leicht beweisen, was mit der Gerechtigkeit alles getrieben worden ist in den letzten achttausend Jahren. Sie hat immer der Macht gedient. Das stimmt auch für den Protestantismus. Das ist sozusagen seine Ursünde. Deswegen gibt’s ihn ja auch nicht mehr.

Seine Strukturen haben sich immerhin durchgesetzt, wenn man Max Weber folgt.

(lachend:) Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.

(lachend:) Gott sein Dank!

Der Kommunismus hat sein Ende gefunden. Für mich ist der Kapitalismus die gleiche Medaille, nur deren Rückseite. Säkulare Heilssysteme. Dabei ist für mich im Moment spannend zu beobachten, wann auch der gegen die Wand knallt. „Katholikos“ heißt: das Allumfassende. Ein wirklicher Katholik kann darum weder Nationalist noch Rassist sein, das schließt sich aus. Ich bin gerade kürzlich in Rom gewesen bei dieser Heiligsprechung [des umstrittenen Spaniers Josémaria Escrivá de Balaguer; Anm. der Red.]. Da sehe ich auf dem Platz – und dem fühle ich mich zugehörig als Katholik – alle Nationen und Rassen dieser Welt. So erziehe ich auch meine Kinder.

Es gibt Makro- und Mikrostrukturen.

Ich glaube, da sind wir uns einig, wenn wir das Nationale als Begriff für kulturelle Identität sehen. Da ist keine Frage, dass ich Teil meines Landes bin mit allen Problemen, die das bedeutet.

Und allen Interessen. Man hört, dass Sie vorhatten, über Leni Riefenstahl einen Film zu machen, ihn nun aber nicht realisieren werden.

Auch einen Film über Ernst Jünger. Ich sehe da kein Problem.

Beides prekäre deutsche Themen.

Sehen Sie, da ich mir – anders als viele andere – meiner sicher bin, kann ich auch jedes Thema anfassen. Ich habe lange Jahre einen Film über Adolf Hitler vorbereitet. Weil – ich bin nicht in der Lage, mich zu infizieren. Ich habe Wochen mit der Riefenstahl verbracht.

Gab’s eine Missstimmung?

Nein, überhaupt nicht. Sie war halt enttäuscht, als ich das Projekt abgesagt habe.

Warum haben Sie?

(lacht) Das wäre das Ende meiner beruflichen Laufbahn gewesen. Das ist mir ganz klar bedeutet worden.

Jetzt macht es Jodie Foster.

Das ist etwas ganz anderes. Ich wollte einen Spielfilm machen. Foster macht einen Dokumentarfilm, eine Dialoggeschichte. Hat mit Kino nix zu tun. Ich kenne das Drehbuch. Das Ganze spielt 1945. Es gibt Leni Riefenstahl und zwei Offiziere, die sie verhören. Einer ist Jude, einer Nichtjude, und sie unterhalten sich on camera über Kunst und Moral.

Was hat Sie an der Riefenstahl interessiert?

Sie ist eine wichtige Figur unserer kulturellen Geschichte. Und sie ist eine Frau. Was sie zum Beispiel da in Afrika veranstaltet hat, war phänomenal. Davor hab ich erst mal Respekt. Ich war auch neugierig. Sicher haben mich auch bestimmte Phänomene des Dritten Reiches interessiert. Das ist einfach ein Stoff, aus dem man potenziell einen großen Film machen könnte. Es ist alles da: Drama, Tragödie …

Ästhetik, Moral. Sie hatten schon ein Drehbuch.

Ich hatte schon eine Hauptdarstellerin, Sharon Stone. Ich hab auch Regisseure gehabt. Nur, mir ist dann von einem sehr maßgeblichen Agenten der persönliche Rat gegeben worden: Lass die Finger davon! Zumal ich mitgekriegt habe, was die amerikanische Presse mit der Foster gemacht hat. Die ist buchstäblich, das glauben Sie gar nicht, in die Ecke einer Nationalsozialistin gerückt worden. Wenn das einer Amerikanerin passiert, was glauben Sie (lacht auf), was die mit einem Deutschen machen? So weit geht meine Liebe zu einem bestimmten Thema nicht, dass ich deswegen verbrannte Erde hinter mir lasse.

Sie hatten auch persönlichen Kontakt mit Leni Riefenstahl?

Laufend. Ich war eine Zeit lang fast jeden Tag da. Ich hab mit ihr eine Riesenkorrespondenz. Auch von Jünger hab ich noch persönlich die Rechte gekriegt.

Für „In Stahlgewittern“?

Ja. Solche Leute interessieren mich. Da ich da keine Berührungsängste habe, sehe ich sie als interessante Exponenten meines Landes. Die Probleme, die die Protestanten damit haben, so à la Schlöndorff, gehen an mir vorbei.

Probleme der Protestanten?

(lacht) Protestantismus ist für mich eine Geisteshaltung. Damit hab ich nichts am Hut. Deswegen hab ich den Fassbinder geliebt. Der war wie ein Kind. Ein genialisches Kind. Auch katholisch.

Hat Ihre katholische Seele nicht mit seinem sadistisch-masochistischen Persönlichkeitsanteil Probleme bekommen?

Mir gegenüber – ich war ja der einzige Nichtschwule in seiner Clique – war er von außerordentlicher Delikatesse. Das hab ich erst später verstanden. Ich bin ja von ihm praktisch gezwungen worden, ein halbes Jahr bei seiner Mutter zu leben und in seinem Bett zu schlafen. Um ihn besser verstehen zu können.

Ein Verführungsversuch.

Nee, nee, nee! Es gab eine Zeit, da war das Verhältnis fast wie zwischen Brüdern. Wobei merkwürdigerweise ich der größere Bruder sein sollte. Ich sollte immer auf ihn aufpassen. Ich möchte da jetzt nicht ins Detail gehen, in welchem Zusammenhang. Das war teilweise auch sehr rührend. In die Tiefen dieser SM-Geschichte einzusteigen würde jetzt zu weit führen. Das hat mit seinen Eltern zu tun, mit vielen Dingen. Aber in seinem tiefsten Wesen war er ein Kind, von einem unfasslichen Charme.

Alle sagen, er habe die Leute auch gedemütigt.

Sehen Sie, ich habe ihn in einer späten Lebensphase kennen gelernt. Da habe ich ihn völlig anders erlebt, als ihn andere beschreiben. Jetzt kann man sagen, das ist ein zweites oder drittes Gesicht, Doktor Jekyll, Mister Hyde. Ich weiß es nicht. Wobei ich sage, viele, die ähnlich disponiert waren wie er, haben ihn natürlich auf dieser Ebene kennen gelernt. Die Irm Herrman hat genauso eine verquaste Biografie. Die haben sich gesucht und gefunden.

Als Produzent waren Sie immerhin hautnah dran an der Truppe.

Ja, sicher hab ich das erlebt. Aber ich halte ich mich da zurück, so wie ich mich auch nicht äußere zu dem, was abends in irgendwelchen Schlafzimmern stattfindet.

Das war auf dem Set.

Das ist ja ein verlängertes Schlafzimmer. Da sind Künstler nun mal offener als andere. Dahinter stehen sehr komplexe Biografien und was weiß ich alles. Er war mir gegenüber von großer Behutsamkeit. In meiner Gegenwart wurde nicht über Drogen geredet, wurden keine Drogen genommen. Es wurde nicht über Homosexualität geredet. Ich rede jetzt von uns beiden. Er hat mich eingeladen nach Paris. Er wusste, dass ich damals ein großer Hemingway-Fan war. Dann hatte er das vorbereitet, wir sind in alle Bars gegangen, wo Hemingway war, er hat mir seine Drinks bestellt, hat mir über Hemingway Geschichten erzählt. Das war von Sympathie, fast von Zärtlichkeit geprägt. Wenn einer sagt, der Fassbinder ist mir zu brutal, dann macht er eben den Koffer zu und geht. Ich meine, kein Mensch hat jemals irgendjemanden gezwungen, bei ihm zu bleiben.

Sucht? Zwänge?

Klar. Aber was soll ich da? Da wär ich Richter. Und ich will nicht richten. Wir sind uns nicht in die Quere gekommen. Ich war ja erst bei ihm Regieassistent. Er hat mich da auch Sachen drehen lassen, schon bei „Alexanderplatz“. Da hat er dann gesagt: Dreh du heute, das ist mehr hetero.

(lachend:) Ah ja.

Er hat mir vertraut. Unter einem solchen Aspekt sehe ich auch den Wunsch, dass ich sein Elternhaus oder sein Mutterhaus kennen lernen sollte.

Und wie war’s bei Fassbinders?

Horrortrip. Der absolute Horror. Ich hab teilweise abends todmüde draußen im Auto gesessen und gewartet, bis sie das Licht ausgemacht hat.

Die Mutter.

Unerträglich. Kalt bis in die Fußspitzen. Seelenlos. Ein Monster. Dann hab ich vieles verstanden. Ich hab sie ja nur als Frau erlebt. Wenn ich mir vorstelle, das wäre auch noch meine Mutter, da krieg ich wirklich ein Gefühl von Hölle.

Haben Sie ihm das gesagt?

Das war tabu. Dinge, die klar waren, mussten nicht besprochen werden.

Wenn man Sie so hört, könnte man frei nach Fellini auch sagen: Ohne den katholischen Kosmos nicht nur kein Kino, sondern auch keine Homosexualität und kein Sadomasochismus.

Ja, natürlich. Camille Paglia, die ich sehr schätze (auch katholisch übrigens), hat das wunderbar beschrieben. Das ist gar keine Frage, der Begriff der Sündhaftigkeit gehört zum Katholizismus wie das Wasser zum Meer. Auch die Dinge, die sich daraus ergeben.

Unterwerfung, Beherrschen?

Gehört alles dazu, mit allen Vor- und Nachteilen. Es ist natürlich irrsinnig anregend, anstrengend, furchtbar, leidvoll und so weiter. Oscar Wilde, auch ein Exponent des katholischen Kosmos, der auch später in den Schoß der Kirche zurückgekehrt ist, hat es so gesagt: Letztlich beziehe ich alles aus dem Leiden.

Jetzt verstehe ich: Sie hadern mit der Idee der Gerechtigkeit, weil sie das Leiden aus der Welt schaffen könnte.

Sie versucht es. Ein Don-Quijote-Unternehmen. Die Urconditio unserer Existenz ist das Leiden. So. Das ist auch der Irrtum des Kapitalismus, der das auch probiert.

Verdrängen des Leids durch Konsum.

Über die Medizin, über Technik, über Maschinen. Das Leiden soll aus der Welt. Was natürlich eine Rebellion gegen Gott ist. Damit wird er auf die Fresse fallen. Wenn ich mir vorstelle, dass das 20. Jahrhundert die Chuzpe hat, zu sagen, das Mittelalter waren die „Dark Ages“, da krieg ich einen hysterischen Anfall.

Sie sind anderer Meinung.

Dieser Anspruch, den wir im 20. Jahrhundert haben, ist in meinen Augen Blasphemie. Heute wollen wir Menschen – das ist ja der Traum meiner Generation – im Grunde langsam zur Maschine mutieren. Darauf läuft es hinaus. Das meine ich ganz ernsthaft. Ich will ewig leben, ohne Krankheiten leben, ohne Stress, ich will mich nicht auf einen Partner einstellen, ich will nicht auf mein Ego verzichten. Sex hat so zu funktionieren, wie ich es will. Das finde ich … Ich will ja nicht nur in der Retrospektive leben, ich versuche im Gegenteil über die Retrospektive etwas über meine Zeit zu erzählen.

Sie sprechen von „Baudolino“?

Ja. Ich möchte deshalb für „Baudolino“ einen bestimmten Regisseur gewinnen.

Wen?

Milos Forman.

Der „Mozart“ gemacht hat?

Da will ich hin. Ich erzähle zwar keine Geschichte aus dem 17. Jahrhundert. Aber es geht um den Zugriff. Ich habe die Seele und ich habe den Geist. Salieri ist der Geist, und Mozart ist die Seele. Das ist für mich persönlich die faszinierendste Grundkonstellation, die es gibt. Mit Mozart hab ich das Phänomen Liebe, Seele. Was dann von Gott belohnt wird.

Mit Talent.

So sieht es Salieri. Als er die Noten von Mozart ins Feuer wirft, sagt er: Gott, du hast mich gefickt! Das ist die Rebellion. Das ist der Protestant, im Sinne von protestieren. Gott, Du bist nicht gerecht. Hier geht es wirklich um Gnade, und diese Gnade, das haben Sie völlig richtig gesagt, ist willkürlich.

Die Begegnung mit Kunst wirft einen immer wieder darauf zurück.

Richtig, und ob der jetzt ein unkeuscher Mensch ist, das ist nicht die Frage für Gott. Mozart hat geliebt, und zwar von Anfang bis Ende.

Geht es in „Baudolino“ auch um die Frage Talent und seine Bedingungen?

Eher um die Frage: Was ist wichtiger, Fantasie oder Realität? Baudolino schafft ja über seine Fantasie Realitäten.

Als Bauernjunge?

Er ist Geschichtsschreiber. Und er sagt sich: Es wäre doch schön, wenn die Sache so wäre statt so, weil sie den Menschen mehr mit sich versöhnt.

Ist das kein Verstoß gegen Ihr Ideal der Wahrhaftigkeit?

Tja, das ist auch das ewige Thema im Streit um die Jesuiten. Ich bin ja sehr jesuitisch geprägt. Mein Onkel war Jesuit, ich sollte auch Jesuit werden. Das ist sicherlich die einzige denkbare Alternative zu meinem Beruf, die des Priesters.

(lachend:) Da wäre es aber Essig mit dem Eros.

Das ist mein Problem. Darüber bin ich nicht hinweggekommen. Dabei ist das ja die alte Kritik am Jesuitismus gewesen, dass er gesagt hat, zum Wohle des Menschen – das ist die offizielle Meinung – und natürlich zum Wohle Gottes darf man lügen. Der politische Mord war bei den Jesuiten erlaubt.

Höchst gewöhnungsbedürftig.

Deswegen sind sie auch verboten worden. Das hat, wie gesagt, zu großen Konflikten geführt, auch innerhalb der Kirche. Das schwingt alles mit bei „Baudolino“: Zum Wohle des Menschen, was immer eine subjektive Geschichte ist und auch zu Recht kritisiert wird, darf ich da …

tricksen?

So. Jetzt ist der mittelalterliche Mensch kein rational denkender Mensch in unserem modernen Sinn. Die haben wirklich den Teufel gesehen. Ich bin überzeugt, auch Luther hat den Teufel gesehen, als er das Tintenfass geworfen hat. Das wird bei „Baudolino“ auch auf die Bildebene gehoben.

Gerät eine solche Darstellung nicht in die Nähe von Fantasy?

Das hat sicher mit Fantasy zu tun. Nur: Daran glauben wir nicht. Das ist für uns Kurzweil für zwei Stunden.

Und Sie meinen, dieser Unterschied erschließt sich dem Publikum?

Aber sicher. Es geht ja um Liebe. Es geht um Eros. Ich habe hier im Unterschied zum „Namen der Rose“ endlich auch Frauen dabei (lacht), jede Menge. Was mir das Erzählen erheblich erleichtert. Da ist die ganz junge Ehefrau des Kaisers, in die er sich verliebt fast wie in eine Marienfigur.

Die Minne.

Ich hab völlig verschiedene Frauentypen, die mich faszinieren. Wonach er ja auch ständig sucht.

Baudolino oder Eco?

(lacht) Sicher ist es Eco.

Sie haben sich mit Eco über das Buch unterhalten?

Nein, das macht er nicht. Das will ich auch nicht. Ich hab ja den Roman. Da steht alles drin.

Wie er auf die Figur gekommen ist, steht nicht drin.

Gut. Ob er jetzt durch eine persönliche Liebesgeschichte darauf gekommen ist, geht mich nichts an.

Das vermuten Sie.

Alles ist biografisch. Nehmen Sie Odysseus, diese ganze Rumschifferei im Mittelmeer ist letztlich nichts anderes als die Suche nach der Frau. Kunst ist nichts anderes. Es gibt die Suche nach Gott und die Suche nach der Frau. Oder umgekehrt. Ich komme da jetzt natürlich aus einer männlichen Betrachtung der Welt. Ob die Frau (lacht) die Männer sucht, darüber sollen sie dann selber schreiben.

Im Moment arbeiten Sie an einem Film über Alexander den Großen.

Ja, ich hab gestern die neue Drehbuchfassung bekommen. Hab ich noch nicht gelesen. Aber wir gehen davon aus, dass wir im März loslegen.

Mein schemenhaftes Schulwissen sagt mir: Unter Alexander hatte das griechische Reich seine größte Ausdehnung.

Richtig. Es ist Gipfel und Epilog des Hellenismus. Alexander hat den Hellenismus bis Afghanistan getragen. Die „Ilias“ ist für mich eines der Bücher, die mich am meisten bewegen. Der bekannte Untergang: Achill hat ja vorher gewusst, worauf er sich einlässt. Seine Mutter hat’s ihm gesagt: Wenn du nach Troja gehst, wirst du dort sterben. Den Satz haben wir auch in „Alexander“. Dadurch hab ich eine Psychologie drin.

Auch ein Topos der Politik? Auch Pim Fortuyn wurde von seiner Mutter vorhergesagt: Geh nicht in die Politik, du wirst darin umkommen!

(lacht) Hm. In jedem Fall habe ich hier das dionysische und das apollinische Element at its best. In der „Ilias“ hat ja dann Apollo eingegriffen und den Achilles, der reine Leidenschaft war, umgelegt. Es geht also um den Urkonflikt Dionysos–Apoll. Ich kann auch andere Begriffe dafür nehmen. Das hat auch Shakespeare wunderbar beschrieben, als Ausuferungen des Dionysischen, in der Figur des Othello beispielsweise. Dagegen steht Apollo auf als das Prinzip der Harmonie, der Räson.

Auch der Form.

Sicher war er der formgebende Gott. Form ist aber auch immer Rahmen. Das habe ich in der katholischen Kirche auch. Dionysos wurde später zum Teufel. Die katholische Kirche (lacht) hat bei den Griechen geräubert bis zum Abwinken. Der Bock war eines der großen Symbole …

In der Figur des Satyrs.

Auch. Die Problematik der Sexualität ist dabei von niemandem so gut erkannt worden wie von der katholischen Kirche. Die ja geboren wurde in einer Zeit des römischen Reichs, als im Stadion wöchentlich zigtausend Menschen abgeschlachtet worden sind, damit durch den Blutgestank nochmals gevögelt werden konnte.

Wie bitte?

Aber sicher. Sie müssen sich mal mit Rom beschäftigen. Der Blutgestank ist das größte Aphrodisiakum. Rom muss infernalisch nach Blut gestunken haben. Der Tiber war das halbe Jahr rot.

Als Aphrodisiakum?

Aber sicher. Die Französische Revolution hat’s doch bewiesen. De Sade? Damals ist das Gleiche passiert wie im Kolosseum. Ich hab einen Film gemacht über die Französische Revolution und mich lange damit beschäftigt. Da wurden Theaterstücke geschrieben von was weiß ich wem. Darin kamen die Schauspieler auf die Bühne, irgendwelche zum Tode Verurteilten. Dann haben sie einen Bären verkleidet und losgelassen, der hat die auf der Bühne gefressen. Dabei haben sie gevögelt …

(Schweigen)

Das weiß man doch alles! Das können Sie überall nachlesen! Napoleon hat dann gesagt, jetzt ist Ende. Party is over.

Und ich dachte, Cronenbergs Film „Crash“, mit diesem Pärchen, das immer nach Autounfällen Sex hat …

Ja, genau.

sei eine einmalige Geschmacklosigkeit unserer Zeit.

Endphase! Wir sind in der Endphase einer nicht Kultur, sondern Zivilisation. Wer sich damit beschäftigt, findet das bei allen Zivilisationen, ob Sie nach Babylon gehen, nach Ägypten, egal. Rom ist das bekannteste Beispiel, weil es überliefert ist in allen Details. Sexualität und Tod werden eins. Ich rede nicht von Erotik. Ich rede von Sex. Von Sexualität bereits als Ausdruck einer Mechanik. Diese Sexualiät endet zivilisatorisch im Tod. Rom ist untergegangen danach. So kam es am Ende zu solchen Praktiken, um überhaupt noch inspiriert zu werden. Da braucht man sehr viel Fantasie. Und das ist die Geburtsstunde des Christentums. Die ersten Christen waren ja teilweise involviert in den Prozess.

Als Opfer.

Ja. Das heißt, im Christentum existiert ein tiefes Wissen von der Gefährlichkeit der Sexualität: Wenn ich den Käfig aufmache, wird die Bestie mich irgendwann verschlingen. Deswegen haben sie gesagt …

Baut Regeln!

Baut Riegel. So. Wenn man das nicht historisch versteht, dann kommt halt solcher Blödsinn raus wie dieser Satz von Senta Berger „Mein Bauch gehört mir“ damals in den Siebzigerjahren, als man im Zuge der Abtreibungsdebatte alles darauf fokussierte, dass der Entscheidungsfreiheit des Individuums keine Grenzen gesetzt werden dürfen. Es gehört aber alles zusammen. Ich muss die Dinge zusammen denken. Wenn Sexualität getrennt wird von bestimmten anderen Prozessen, wird sie zur Bestie. Das kommt immer. Erst kommt die Pädophilie, dann kommen die snuff movies. Es war immer das Gleiche. Das ist eine – in Anführunsgsstrichen – völlig normale Entwicklung.

Hm.

Das ist natürlich alles sehr, sehr schwierig, wie man damit umgehen soll. Ich bin da sehr vorsichtig. In dem Moment, wo da irgendwelche Zeigefinger erhoben werden, krieg ich sofort eine Gänsehaut. Ich sage das alles als Katholik. Nicht im Sinne von: Du musst, du sollst! Im Katholizismus gab es auch immer eine Verdammung des Geldes. Ich rede dabei vom Prinzip des Geldes. Die gegenwärtige Unterordnung der gesamten Welt unter das Prinzip des Geldes gehört auch hierher und ist für mich erschreckend. Wenn Sie sich vorstellen, auf jeder Dollarnote steht oben der Satz „In God We Trust“, das ist schlechthin die Perversion (lacht).

Im Kapitalismus wird alles zur Ware.

Mag sein. Mir geht es ähnlich wie Pasolini: Auf der einen Seite war er tiefer Katholik. Dem konnte er sich nie entziehen. Auf der anderen Seite musste er auf die Welt seiner Zeit reagieren, wie sie ist, mit dem ganzen Elend, und hatte eine große Sympathie für die PCI, die Kommunisten Italiens. Kam natürlich mit deren Materialismus und Gottesablehnung nicht klar. Gleichzeitig kam er mit bestimmten Verlogenheiten der offiziellen Kirche auch nicht klar.

Was haben Sie filmisch noch vor?

Nach all der Historie möchte ich eines Tages probieren, auch in die Zukunft abzuschweifen. Es gibt im Moment ein Projekt, dafür würde ich den linken Arm geben. Was ich immer machen wollte, das macht jetzt Coppola: „Megalopolis“.

Eine Fortsetzung von „Metropolis“?

Irrsinnig. Es läuft natürlich auf „Metropolis“ hinaus. Coppola beschreibt New York. Dabei haben die Figuren, die auftauchen, alle römische Namen wie Brutus. Er schafft praktisch eine Parallele zum sterbenden Rom. Mit Riesenbesetzung.

Sie haben das Drehbuch gelesen?

Ich kenne einen Freund von ihm, der hat es mich in seinem Büro lesen lassen. Da hab ich gedacht, das wär’s. Die Deutschen würden das viel zu tragisch und pessimistisch aufziehen. Bei Coppola (lacht) geht in einer Riesenparty die Welt unter. Wenn ich mir einen Film wünschen könnte für die Zukunft, wäre das etwas in der Art. Da ist alles drin.

Woher kommen die wichtigsten Eindrücke und Anregungen?

Ich fahre ja viel in der Weltgeschichte rum und schau mir Kunst an, Architektur. Aber letztlich ist es das Wort. Ich lese viel. Ich werd nie Italiener sein. Die Italiener sind Augenmenschen. Meine Frau ist Italienerin. Die besten Kameraleute sind Italiener, die besten Maler. Das hat mit dem Wetter zu tun und diesem und jenem. Hierzulande ist, sagen wir mal, eher der Kopf da, die Reise im Hirn.

Da erstaunt es, dass Sie einen Weg eingeschlagen haben, der so stark mit dem Auge zu tun hat.

(zögernd:) Das hat mit Sehnsucht zu tun. Sehen Sie, in unserer Kultur gab es ja nie etwas anderes als die Sehnsucht nach Südeuropa. Von den Germanen angefangen über Goethe, Nietzsche. Das finden Sie bei Byron, bei Oskar Wilde. Die kommen nach Südeuropa und flippen aus. Weil sie plötzlich über das Auge die Welt erleben. Ich kenne Italien sehr gut. Ich gerate da von einem Rauschzustand in den anderen. Das Auge hat ein Fest. Das ist bei uns ein bisschen schwieriger. Wir haben Angst vor dem Bild. Das ist ja das Typische bei Luther, die Bilderstürmerei. Das Bild ist etwas tief Heidnisches, von uns aus gesehen.

Filmemachen als Ausdruck Ihrer Sehnsucht nach dem Bild.

Richtig, ja. Nach dem Eros des Bildes auch. Das Bild ist ja hocherotisch. Darin stecken natürlich auch große Gefahren.

Was sagen Sie zum Eros der Arbeiten jüngerer deutscher Regisseure wie Petzold, Tykwer, Roth?

Damit kann ich nichts anfangen. Damit Sie mich richtig verstehen, ich verurteile das nicht. Ich kann nur sagen, es berührt mich nicht. Ich lache nicht, ich weine nicht. Ich kriege keine Hochgefühle. Wenn ich dagegen einen Film sehe wie von Terrence Malick „The Thin Red Line“, da heb ich ab.

Ein Kriegsfilm, wenn ich mich recht erinnere.

Sie müssen sich den mal ansehen, ein reines Kunstwerk. Das knallt aus allem raus. Da werde ich in eine gesamtmenschliche Betrachtung geführt, vor der ich nur auf die Knie gehen kann. Einmal im Leben so etwas machen. Da haben Sie auch den Unterschied wieder: „The Thin Red Line“ lief ja in Konkurrenz zu Spielbergs „Private Ryan“. Das ist die jüdische Erzählung des Krieges, „Thin Red Line“ ist die katholische Erzählung des Krieges. Die Iren und die Polen, Malick ist polnischer Abstammung, sind ja die katholischsten aller Länder. Das bedingt eine andere Betrachtung. Es geht in diesem Film bei Spielberg wieder klassisch um Gerechtigkeit. Bei Malick geht es um Gnade.

NIKE BREYER lebt als freie Autorin in München und erkundet zur Zeit Form und Funktion des Corporate Designs der RAF. Sie ist – Überraschung! – ebenfalls katholisch