„Verbindlich war verdächtig“

Seine Vorfahren, sagt der Werbegrafiker Holm von Czettritz, waren verarmte Krautjunker, die sich mit Standesattitüde über die Zeitläufte retteten. Er selbst wurde in den Sechzigerjahren durch seine Bekanntschaft mit Andreas Baader Zeuge, wie aus antifaschistischem Reflex die RAF entstand. Ein Gespräch über den Krieg, den Terror – und ihre Formen

Interview von NIKE BREYER

Ein irgendwie schüchtern wirkendes Haus, eingefügt in eine hanseatische Häuserzeile im Herzen des Hamburger Karolinenviertels. Durch ein kaminenges Treppenhaus gelangt man in den dritten Stock, wo der Hausherr die Besucherin mit Handkuss empfängt, höflich in den Salon am Ende eines kajütenähnlichen, seitlich von verstaubten Bücherstapeln gesäumten Ganges bittet. Der gut erhaltene Dreiundsechzigjährige mit der Statur eines preußischen Langen Kerls trägt – halb Werbefuzzi, halb Edelmann – Tweedsakko, Bluejeans zu knöchelhohen Turnschuhen aus Segeltuch und nimmt auf einem Stuhl gegenüber dem Biedermeierkanapee mit Teetisch Platz. Über dem Kopf der Besucherin schwebt ein goldgefasster blinder Barockspiegel. Pulverkaffee und Mineralwasser werden angerichtet.

taz.mag: In Klaus Sterns TV-Dokumentation „Andreas Baader, der Staatsfeind“ kommen Sie als früher Weggefährte zu Wort. Darin erwähnen Sie eine ganz unglaubliche Geschichte: dass Baader zu Ihnen kam und das Logo der RAF von Ihnen als Grafikdesigner überarbeiten lassen wollte.

Holm von Czettritz (lachend): Richtig. Heute würde man Relaunch dazu sagen. Weil ich dazu aber keine Lust hatte und ich das irgendwie so naiv fand, hab ich ihm damals gesagt: „In seiner Rustikalität hat das eine Originalität, die würde ich nicht verändern. Das muss diesen rauen Ursprungscharakter behalten. Das sag ich dir als Markenartikler.“ (lacht) Weil er diesen Beruf ja als kapitalistischen Beruf verachtete. Lässt sich aber von einem beraten.

Hatte er denn konkrete Vorstellungen?

Die Elemente sollten wohl bleiben. Das war ja wie ein Kartoffeldruck. Aber das wollten sie irgendwie gefälliger.

In Flower-Power-Typo?

Keine Ahnung. Ob die jetzt Hauswurfsendungen machen wollten oder Plakate, weiß ich nicht. (Heiterkeit)

Ihre Nähe zu Baader hat etwas Überraschendes. Sie fallen aus dem Reigen seiner anderen Bekannten heraus, kommen auch aus einer ganz anderen Welt.

Mein Vater entsammt einem alten Geschlecht schlesischer Krautkjunker und war promovierter Volkswirt – eigentlich ein typisches Lebensschicksal zwischen den Weltkriegen. Den Ersten hatte er noch mitgemacht, es aber auch später eigentlich nie nötig gehabt, zu arbeiten. So ein bissl der Typ piekfein, sehr gut aussehend, ein eleganter Mann. Er war auch mal kurzfristig in der Kommunistischen Partei. Vollkommen lächerlich. Ich glaub, er hat nicht mal gewusst, was das ist. Aber er fand das vielleicht schick, irgendwie links zu sein, hatte aber – völlig schizophren – deutlich traditionelle Züge. Er hatte eine sehr wohlhabende Mutter, der Vater war früh gestorben, und so tingelte er durch die Zwanziger-, Dreißigerjahre, bis er meine zwanzig Jahre jüngere Mutter kennen lernte und in zweiter Ehe heiratete. Dann ging es Schlag auf Schlag: Inflation, Drittes Reich, Krieg. Nach dem Krieg war dann alles weg. Da ist sehr viel Geld verloren gegangen, größte Summen auf betrügerische Art und Weise, auch für Anwälte, die den Bruder meines Vaters aus dem KZ rauskriegen sollten.

Ihr Onkel war im KZ?

Er hatte sich über die Nazis lustig gemacht. Wobei er kaisertreu war, also mit konservativem Hintergrund, wilhelminisch orientiert, militärisch. So in dem Stil „das sind Schweinebacken, mit denen kann man nicht, furchtbare Gesellen“. Er hatte keine Linkskontakte.

Aus dem Lager einer konservativen Hitler-Opposition.

Teilweise geworden, teilweise spontan aversiv. Mein Onkel war sogar zuerst in der SA. Man muss dabei auch diese Zeit verstehen, eine Aufbruchszeit. Es muss etwas Neues kommen, das war die Devise. Mein Onkel war hoher Offizier im Ersten Weltkrieg. Da gab es ganze Heerscharen ehemaliger Militärs, die wie er dann berufslos waren, ohne Berufsziel, weil sie ja so gar nicht erzogen waren. Offizier war im Kaiserreich ein sehr ehrenvoller Beruf. Das andere waren Koofmichs.

Bürgerliche Erwerbstätige.

Geld zu verdienen, überließ man anderen. Das hatte man oder auch nicht. In dieser Welt lebte man, vollig übertrieben und furchtbar einseitig, ein bisschen komisch auch. Aber das war die Orientierung.

Und Ihr Vater?

Hat sich im Ersten Weltkrieg freiwillig gemeldet und wurde in den ersten Kriegstagen gefangen genommen. Was man sich heute so gar nicht mehr vorstellen kann: Der Erste Weltkrieg passierte ja schon mit fürchterlichem Kriegsmaterial als erster moderner Krieg. Mein Vater war Reserveoffizier bei den Ulanen und ist in den ersten Kriegstagen in Belgien noch mit ’ner Lanze auf’m Gaul Attacke geritten. Diese Lanze hatte man unterm Arm, und dann im Galopp auf den Feind – wie im 18. Jahrhundert. Das wurde in den ersten Wochen abgeschafft. Das waren ehrenvolle Krieger: Der Krieg wird erklärt, und Weihnachten ist Feuerpause.

Der Krieg als Turnier.

Auch die Aggression ändert sich, der Stil einer Aggression, wie man auch am Terrorismus sieht, der letztlich auch eine Kriegsform ist. Für die Zivilbevölkerung ist das natürlich heimtückisch und außerordentlich grausam, weil es auch gegen sie geht. Nur: Das hat eine lange Tradition, dass die Zivilbevölkerung an erster Stelle leidet. Im Dreißigjährigen Krieg waren es auch nicht nur die Heere, die sich gegenseitig töteten.

Bei den Jesuiten ist oder war der politische Mord erlaubt.

Das war zu allen Zeiten gerechtfertigt. Die Waffen wurden immer gesegnet. Alle Religionen haben das gemacht.

Beim erklärten Kampf. Aber meuchlings morden zum Wohle Gottes – das ist Partisanentechnik, Terrorismus.

Ja, und wie unterentwickelt das zum Beispiel bei Stauffenberg war, nicht wahr! Da wär die Chance gewesen: Er holt den Ballermann raus, macht bumbum – aus – und gibt sich die letzte Kugel. Aber da herrschte ein ganz anderes Bewusstsein: Den obersten Kriegsherrn zu töten war unmoralisch letztlich. Es hat viele Anläufe gegeben. Aber man hat die Chancen verpasst, weil die Aggression noch nicht groß genug war, die Entschlossenheit. Das ist preußisch und auch militärischer Ehrenkodex.

Im terroristischen Pathos klingt stets ein religiöser Grundton mit, dieser Status des Erwähltseins, zum Richtschwert Gottes zu werden. In der damaligen Sprache hieß das, man ist die Avantgarde der Revolution. Hat Baader solche Gedanken geäußert?

Nein. Ende der Fünfziger, als ich ihn kennen lernte, ging es darum, dass er Journalist werden wollte.

Wie haben Sie ihn kennen gelernt?

Auf dem Jour fixe bei einer bekannten Schauspielerin in München. Da war dann auch mal Baader, und wir haben uns sehr nett unterhalten. Ich wohnte damals in der Maximilianstraße und versuchte, nach der Bundeswehr beruflich als Grafiker wieder Fuß zu fassen.

Wie hielten Sie sich über Wasser?

Zeitweise als Staubsaugervertreter. Was ganz originell war. Vorwerk hatte ja diese Marke Kobold mit so ’nem Stab und einem grünen Beutel dran.

Kenn ich. Der ist Klasse!

Ich vertrete nur anständige Produkte, ist ja klar. (lacht) Das war dann sehr komisch. Wenn man klingelte, war erst mal Gesprächsthema, dass so ein großer Kerl vom Kobold-Dienst kommt. Dann das volle Programm mit Flusen auf dem Teppich verteilen, dann absaugen. Das war so weit ganz erfolgreich, bis ein Verbandsleiter mich als Obervertreter für den Bayerischen Wald nominieren wollte. Da hat mein Vater gesagt, das darfst du nicht machen, da hast du weniger Chancen als in deinem erlernten Beruf. Daraufhin bin ich zu Insel-Film, einer Werbefilmfirma, gegangen, als Storyboard-Zeichner. Damals war München die Filmstadt. In diese Zeit fiel auch meine Begegnung mit Baader.

Ihr erster Eindruck?

Sympathisch, quirlig und (zögert) auch an mir interessiert irgendwie. Das ist ja immer ganz nett.

Annäherungsversuche?

Überhaupt nicht. Baader war nicht homosexuell. Das hab ich später immer wieder mal gehört. Aber das hätte sich in der Zeit bemerkbar gemacht. Gut, er war gefallsüchtig. Ich erinnere mich, dass er mir sehr stolz berichtete, dass Charles Regnier ihn mal irgendwo angesprochen hatte. Dann sind die essen gegangen. Das fand er oberaffengeil. Dass Charles Regnier ihn anziehend fand, ist nachvollziehbar. Aber da ist nichts gewesen. Baader mochte gerne gemocht werden.

In einem Kursbuch -Artikel über „Deutsche Dandys“ berichtet Karin Wieland, man habe in Baaders Stammheim-Zelle eine Federboa und lila Lidschatten gefunden. Im Palästinenser-Lager, wo die RAF den bewaffneten Kampf erlernte, ist er in Samthosen durch den Wüstensand gerobbt.

Aber dazu muss man die Zeit bedenken! Wann gab es Samthosen in der Konfektion, genauer gesagt Hosen aus diesem kurzen Baumwollflor?

Sie meinen Duvetine?

Ganz genau. Wenn jetzt jemand auf eine Duvetinehose stößt, die damals für völlig durchschnittliche Leute up to date war, dann heißt es: Ach, ist der vielleicht schwul? So komisch läuft das.

Baader trug auch Rüschenhemden.

Jeder Popsänger trägt Rüschenhemden. Das ist kein Ausdruck besonderer Femininität.

Machte Baader auf Popstar?

Wenn überhaupt etwas, dann eher das.

Baaders RAF-Kollege Horst Mahler pflegte zur gleichen Zeit ein bürgerlich-spießiges Erscheinungsbild, ging in Anzug, Mantel, mit Regenschirm.

Aber der könnte genauso schwul sein. Also da muss man vorsichtig sein, weil es so einfach nicht stimmt.

Der Filmproduzent Thomas Schühly hat Folgendes erzählt: Fassbinder arbeitete ja zu Anfang seiner Karriere an einem Theater in der Ungererstraße in München-Schwabing, und da überraschte Volker Spengler, ein Schauspieler aus Fassbinders Truppe, einen Aushilfsarbeiter dabei, wie dieser, wenn er sich unbeobachtet glaubte, mit einer Knarre vor dem Spiegel ziehen übte. Der Aushilfsarbeiter war Andreas Baader.

(erstaunt) Das wusste ich nicht. Das müsste ja in meiner Zeit gewesen sein.

Jetzt die Pointe: Die Knarre war echt. Spengler hat’s Fassbinder gesteckt. Da war Schluss mit Kulissenschieben.

Dass Baader eine echte Pistole gehabt haben soll, finde ich merkwürdig. Unser Kontakt jedenfalls schlief ein, als ich 1963 geheiratet habe. Baader hat zwar zeitweilig bei uns gewohnt, in einem Untermieterzimmer, so hieß das. Er war aber selten da. Er jobbte damals bei der Bahn als Schlafwagenschaffner und war irgendwie schon verdruckster. Das war nicht mehr so eine lässig-normale Begegnung zwischen uns. Vorher kam er immer zu mir. Ich hab als Grafiker zu Hause gearbeitet. Da war er immer ein willkommener Gast, weil man ja (lacht) gern unterbrochen wird, wenn man Termine hat. Er hat dann Berlin-Kontakte bekommen, zeigte Interesse, dorthin zu gehen.

Sie haben ihn da wiedergetroffen?

Ja, so um 1965/66. Baader hatte sich telefonisch gemeldet. Ich hatte in Berlin zu tun, und so haben wir uns am Kurfürstendamm in einem Café getroffen. Da fand ich ihn sehr verändert: Molliger, schwammiger geworden, auch irgendwie naiv entschlossener. Machte schon so den Dicken.

Drogen?

Der wird gekifft haben, mehr nicht. Der war auch kein Schluckspecht. Das war anders, so (mimt energische Haltung) „da muss sich was rühren, das ist alles so langweilig“ und „wir müssen radikaler vorgehen“. Aber das eher ungerichtet, nicht sehr artikuliert. Er hat sich dann noch ein paarmal telefonisch gemeldet. Da gab’s auch Treffen in der Badenschen Straße in Berlin, wo er mit seiner Freundin und mehreren Leuten zusammen wohnte. Ich hatte immer mal in Berlin zu tun und konnte das verknüpfen, hab auch mal dort übernachtet. Einmal kam ich nachts nach Hause, morgens um vier herum, angeschickert und war auch nicht allein, da gab es eine saukomische Situation: Langer Tisch und konspirative, hochdramatische Gepräche, und wir trällerten da so „Hi!“ durch die Gegend. Da haben die (lacht) grad die Welt verändert.

Die planten gerade die nächsten Schritte zur Weltrevolution?

Das war absolut zu spüren. Wir hatten so einen lockeren Tonfall, dass mir das irgendwie am Arsch vorbeiging. Ich hab das nicht ernst genommen. Das war auf meiner Seite auch ambivalent: Man ist in der Werbung tätig, geriert sich aber, als wäre man links. Man wählt links oder mittellinks oder SPD oder so etwas und ist irgendwie gegen CDU und gegen … was weiß ich, irgendwie von vornherein anti. Mich hat dabei der Faschismus immer stark interessiert, als Kind schon. Es wurde auch viel davon erzählt.

Vom Onkel aus dem konservativen Widerstand.

Ja, der wollte Hitler vielleicht von rechts überholen (lacht). Zumindest von den Erzählungen her war es so, dass er die Schweinebande grauenvoll fand. Das hat er kundgetan. Es gab da einen Hildebrandt, Gauleiter von Mecklenburg, der hat ihn speziell aufs Korn genommen und ihn richtig gejagt. Meine Eltern hatten die letzte Nachricht 1943. Da hieß es, er sei an Lungenentzündung in Buchenwald gestorben. Dann haben sie so eine kleine Kiste bekommen, da waren irgendwelche Reste drin, Knöchelchen, Asche. In der Nachkriegszeit hier in Hamburg hat meine Mutter mir seine ausrangierten Klamotten gegeben, und ich hab die bei einem Trödler vorbeigebracht. Damals musste man den Pass zeigen, da sagte der Höker: „Den Namen kenn ich.“

Von Czettritz?

Ja! Da kam raus, dass der mit meinem Onkel Wolfgang durch Mecklenburg gezogen ist von Ziegenstall zu Kuhstall, bei Bauern auf’m Feld übernachtet. Dass er also Monate mit dem Onkel verbracht hatte. Geschnappt worden ist der erst 1940. Er hat Jahre auf der Flucht gelebt. Als Zwanzigjähriger hatte ich dann diese naive Idee, dass man einen Pro-Nazi-Film machen muss, um das ganze Elend darzustellen. So etwas konnte nur entstehen, wenn alle begeistert sind. Ich komme ja aus dieser Ära, wo man im Kino im Vorfilm Berge von Brillen zeigte und Backenzähnen, dann die Botschaft: Hitler ist der Böse. Das kann ja wohl nicht sein, dass Hitler der Böse ist und die anderen sind alle furchtbar anständig. Da muss durch einen eher positiven Film erst mal ein Klima hergestellt werden, in das man sich hineindenkt. Man muss gedanklich ein Nazi werden, um die Zeit zu verstehen. Dann kommen die Leute aus dem Kino und haben das positiv wahrgenommen, und zwei Prozent meinetwegen nehmen sich einen Strick hinterher.

Das Schicksal des Onkels hat in der Familie demzufolge eine wichtige Rolle gespielt.

Ich wusste als Junge, was passiert ist, war also insofern früh mit der Frage konfrontiert: Wie würde ich mich selber verhalten, wenn ich – zum Beispiel – heute nur noch in die Werbeagentur gehen kann mit einem gewissen Sportabzeichen, also als Parteimitglied? Jetzt hab ich meine Verpflichtungen, Familie, Schulden, muss auch leben. Dann hab ich Kollegen, die sagen: „Ach, diese Arschlöcher, Mensch, dann geh doch da rein, ist doch scheißegal, man ist ja unter sich.“ So läuft doch das Ganze.

Einerseits. Das andere ist die Verführung durch das pathetische Corporate Design der Nazis zum Beispiel, Hitlers größenwahnsinniges Projekt einer totalen Form.

Das hat von heute aus gesehen auch mit Nostalgie zu tun. Heute finden Sie zum Beispiel das Haus der Kunst in München einen schönen Bau. Vor zwanzig Jahren haben Sie ihn grässlich gefunden und nicht nur als faschistischen Bau. Gigantismus fand man nicht so gut damals. Da war man konstruktiv orientiert. Da war das süßlich, bombastisch, eigentlich geschmacklos.

Auch böse Architektur.

Das Böse hat mich persönlich nicht so abgeschreckt, sondern das Geschmackliche. Wenn ich versuche, mich in die damalige Zeit hineinzudenken, dann wäre mir diese Linienströmigkeit widerlich gewesen. Ich weiß noch, als unsere Familie nach den Bombenagriffen evakuiert worden war nach Thüringen, da war nebenan eine Gärtnerei, wo die Hitlerjugend Übungen machte. Da waren auch Berittene und Pferde dabei. Das fand ich zwar ganz schön und interessant, aber dieser Tonfall – da hatte ich Angst.

Diesen Ton waren Sie von Ihrem familiären Hintergrund her nicht gewohnt.

Überhaupt nicht! Meine Vorfahren waren einmal sehr reich, lebten auf Schloss Schwarzwaldau in Niederschlesien. Das ist dann alles unter den Hammer gekommen, verjubelt, auch durch ungünstige Wirtschaftsmomente. Es gab auch damals schon Waldsterben. Dann wurden die üblicherweise Militärs oder Popen. Mein Großvater hat sehr wohlhabend geheiratet – bürgerlich, aber reich. Offiziere, wenn sie heirateten, mussten wohlhabende Frauen nehmen, um auch einen Haushalt führen zu können.

Ihr Onkel und Ihr Vater lebten noch in dieser Tradition?

Nicht mehr wirklich. Trotzdem war das noch im Hinterkopf. In Berlin etwa lebten die Manieren dieser Schicht weiter, auch bei jungen Leuten, die das schon reflektierten und wieder eleganter machten. Das ergab eine unglaublich attraktive Mischung aus grausamer Armut und – während einer kurzen Zeit – einem großen, tollen Aufbegehren. Zum ersten Mal war Berlin eine Metropole. Von Haus aus war es ja eigentlich ein Kaff, bigott und engherzig im wilhelminischen Sinne. In den Zwanzigerjahren stand Berlin dann neben Paris an erster Stelle. Es stand für Freizügigkeit und attraktives Leben, für bestimmte Schichten natürlich. Aber auch Arme, die Witz hatten, konnten sich mit wenig Geld das so ein bisschen hinschustern.

Die alte aristokratische Eleganz überlebte als großartige Geste bis hin zur Hochstapelei.

Absolut. So ein Spross war dann vielleicht Eintänzer, wenn er gut aussah. Ein anderer kam vielleicht aus ganz kleinen Verhältnissen und sah aber genauso elegant aus. Oder, sagen wir mal, der Sohn des Gutsverwalters, der mit dem Sohn des Gutsbesitzers spielt, aber nie an das Gut rankommt, der schärft seinen Blick ganz anders. Der ist nachher vielleicht eleganter als der Sohn des Gutsbesitzers.

Auch in Ihrer Gutsbesitzerfamilie hat sich dieser Stil konserviert?

Absolut, in ihrer Manierlichkeit, in ihrer Art zu leben und zu sprechen.

Hat Sie das geprägt?

Ja, anachronistischerweise ja.

Und es gab keine Veranlassung, dagegen zu rebellieren?

Im Gegenteil, überbetont liberalistisch zu sein, war mir peinlich. Da hab ich mich eher an die Gesten meines Vaters gehalten, wie man eine Zigarette hält zum Beispiel, eine bestimmte Bewegungskultur, auch der Tonfall. Eine Tante von mir sagte immer in so übertrieber Art und Weise „Ist ja faabelhaft“ (Heiterkeit) „grooßartig“, „hoochelegante Person“. Ich könnte ohne weiteres in einem Film als Komparse mitspielen und diese Schicht noch verkörpern. Das stirbt mit meiner Generation. Mein Enkel wird das nicht annehmen. Meine Töchter auch nicht.

Formen der Verfeinerung, die das Naturhafte des Ausdrucks überwinden.

Absolut. Heute ist natürlich oder ehrlich zu sein das große Prä. Aber was heißt „natürlich“? Das ist der Mode unterworfen. Das sind auch Attitüden. Moden finde ich toll. Wie man denkt, wie relativ das ist, was gut und was böse ist beispielsweise: Unter den Bedingungen hab ich dieses und jenes gemacht. Dann ändern sich die Umstände. Ach so, jetzt ist das ein Verbrechen? Hab ich Pech gehabt. Ich will darauf hinaus, wie auch Moral sich wandelt. Wie leicht ist es, zu sagen: Ich hätte den Dreißigjährigen Krieg nicht veranstaltet. Das ist Arroganz gegenüber der Geschichte.

Manche sagen, man hätte der faschistischen Architektur vom Reichsparteitagsgelände oder dem Haus der Kunst anmerken können, dass die Bauherren Verbrecher sind.

Ist ja vollkommener Quatsch. Weil das auch Zeitstil war, international. Das ist Schuldabweisung. Darum meine ich auch, dass wir das Erbe übernehmen müssen. Was meine Gedanken sehr prägt, ist die Auseinandersetzung mit dieser Schuld. Es gab in den Siebzigerjahren mal so einen blöden Diskoschlager „Dschingis Khan“ – das war nun mal ein ganz brutaler Schlächter. Das Böse und die Verherrlichung des Bösen besitzen immer eine Faszination. Hitler hatte das. Zu ganz kleinen Preisen haben wir das bei Baader auch.

Er hatte auf jeden Fall Sinn für Repräsentation, mochte schicke, schnelle Autos.

Erst viel später, zur Zeit nach den Banküberfällen. Irgendwoher musste ja die Kohle kommen.

Warum eigentlich? Mit den dicken Schlitten fiel er doch viel mehr auf.

Ist aber auch unverdächtig. Bis die Polizei das spitzbekam, dass die solche Modelle fuhren: Ferrari, Porsche und so weiter.

War Gudrun Ensslin auch so ein Statussymbol für den Terroristen Baader? Sie war klug, hübsch und kalt entschlossen.

Ich hab sie später mal kennen gelernt. Also, eigentlich würde ich sagen: unattraktiv, oll.

Auf Fotos ist sie aber die langmähnige Hübsche.

Das sind ein, zwei Fotos von den Prozessen. Es gibt auch ein paar Fotos von Baader, wo der ganz attraktiv aussieht. Dann ist er gleich der Rasputin der Revolution.

Wie ging’s dann mit Ihrem Kontakt zu Baader weiter?

Nach dem Kaufhausbrand 1968 war ich nicht mehr in der Badenschen Straße. Dann hat sich Baader erst … das könnte 1970 gewesen sein … wieder bei mir gemeldet. Ich war damals angestellt in einer Werbeagentur. Da meldet er sich als Hans, und wir haben ein Date ausgemacht im Chinarestaurant auf der Reeperbahn. Nein, ich hab was ausgelassen! Ich wohnte da in der Husumer Straße in Hamburg, mit Familie und zwei Kindern. Da hatte er sich vorher angemeldet, betrat also den Salon und setzte sich, stand wieder auf und zieht ’ne Knarre aus dem Hosenbund (steht auf, macht es vor) und legt die auf den Tisch.

Hatten Sie Angst?

Überhaupt nicht. Weil das irgendwie so lächerlich war, so doof, gar nicht ernst zu nehmen. Dann fragte er, was ich für ein Automodell fuhr. Einen alten BMW. Er: „Ist ja ein gutes Auto.“ Ein Genosse müsse nach Hannover. Es sei alles gesperrt, die Autobahn sei die einzige Möglichkeit. Ob ich das machen könne. Da hab ich gesagt: Tut mir Leid, hab keine Zeit. Aber du kannst meinen Wagen haben.

Ihnen war klar, dass Baader inzwischen kriminell agierte.

Das war offiziell, ja. Es gab ja schon die RAF, die durch die Presse ging. In dem Zusammenhang kam dann auch die Sache mit dem Signet. Danach trafen wir uns dann noch mal im Chinarestaurant auf der Reeperbahn. Da hatte er so karottige Haare, wie wenn man mit Wasserstoffperoxid so eine Primitivblondierung fabriziert. (lacht) Er hatte einen Büroanzug an, einen Aktenkoffer und, was ich auch auffällig fand, eine dunkle Brille.

Marke Blues Brothers!

Dann wollte er bei einem dieser Treffs, dass ich in meinem Büro an Personalausweisen käme … also klauen. Da hab ich gesagt: Nö, hab kein Interese, mich in irgendeiner Form zu beteiligen. Das hat er so zur Kenntnis genommen. Dann gab es ein weiteres Treffen, da hab ich mich breitschlagen lassen. Gesprächsweise kam raus, dass ich eine kleine Bauernkate bei Stade hatte. Von der hab ich ihnen den Schlüssel überlassen. Aus so einem kitschigen Impuls heraus, dass, wenn jemand von der Obrigkeit verfolgt wird, man ihm hilft im Sinne eines Nachtlagers. Eine völlig blöde, indifferente Haltung. Es gab dann ein Gespräch, da war die Ensslin dabei, da fragte ich, wie das nun weitergehen solle. Weil ich das auch nicht ernst nahm.

Es gab Tote.

Ja, aber ich nahm die Sache nicht ernst. Ich fragte: „Wollt ihr erst die Bahnhöfe okkupieren und dann die Post oder erst die Post und dann die Bahnhöfe? Ist nur mal beiläufig ’ne Frage, was ihr politisch so vorhabt.“ Da meinte er, ob ich denn wohl kess werden wolle. Die würden mich dann schon hopsnehmen. (lacht) Meine alberne Bemerkung hat sie dann auch abgeblockt. Sie war meinem Typ gegenüber sehr skeptisch.

Gudrun Ensslin.

Äußerst unfreundlich, aggressiv, absolut das Gegenteil von Charme. Das war natürlich auch die Zeit, vielleicht nicht in der extremen Form der Ensslin. Aber das gehörte zum Personalstil der Linken überhaupt. Alles, was verbindlich ist oder mit einem geringen Grad an Höflichkeit verbunden, ist konventionell und bourgeois. Zack, aus. Weil wir vorhin über Faschismus gesprochen haben, wenn man also den Arsch im Trockenen hatte in der Bundesrepublik, so wie ich gelebt hat, da hat man, um das Wort Zeitgeist zu verschleißen, eine Neigung zu irgendwie Antistaatlichem. Das hängt mit dem schlechten Gewissen in Bezug auf den Faschismus zusammen. Also meine persönliche Haltung, dieses Indifferente, hat mit Antifaschismus wenig zu tun. Ich war sozusagen gebrochen, einerseits Nutznießer des Systems, mit bürgerlichem Beruf, Familie, auch mit gewisser Eleganz der Zeit ausstaffiert. Andererseits gab es den Teil eines schlechten Gewissens. Also generös den Schlüssel geben für dieses Landhaus. Dann bekam ich aber die Muffen. Bildete mir ein, ich würde beobachtet. Ich hab zum Beispiel vor meiner Wohnung einen Pkw gesehen, da saß ein Ehepaar drin. Am nächsten Tag saß wieder ein Ehepaar drin.

Klingt ein bisschen paranoid.

Mein Gott noch mal. Ich hatte damals auch vor, meinen Beruf als Art Director aufzugeben. Das war die Ära des Aussteigens. Ich wollte freier Maler werden. Das muss so 1972 gewesen sein. Da wollte ich das Landhaus verkaufen.

Und der Schlüssel war weg.

Jetzt wollte ich den wiederhaben. Dann hab ich beim nächsten Treff gesagt, da fährt immer so ein bunt bemalter Hippie-VW-Bus rum, ist das eurer? Wollte ihnen Angst machen. Beim nächsten Treff hat er mir den Schlüssel zurückgegeben. Da war die Ensslin dabei.

Wie war der Umgang miteinander?

Der von Genossen. Dass er eine besondere Faszination auf Frauen ausgeübt hätte, halte ich für Quatsch.

Bei seinem abfälligen Tonfall Frauen gegenüber scheint das auch ausgeschlossen.

Na, eine Frau könnte dieses „blöde Fotze“ auch so interpretieren: Diese bürgerliche Anhimmelung von Frauen, den Tonfall der Bourgeoisie, das hab ich nicht. Da brauchte man nur krass sein im Tonfall, dann war das schon antibürgerlich. Das In-den-Mantel-Helfen wurde auch so politisiert, total albern. Mir hat es immer Spaß gemacht, besonders linken Frauen ausgesucht höflich zu begegnen. Verbindlich war verdächtig, etwas – mal grob gesprochen – für Nazischweine, bürgerlich.

Baaders Sexappeal wird also überschätzt?

Mehr als das! Halte ich geradezu für abwegig. Das machen Journalisten oder Filmemacher, weil das gut kommt. Die können meinetwegen untereinander gevögelt haben, sicher. Aber das hat keine interessante Rolle gespielt. Da muss man gar nichts hineindeuteln.

Was war Ihre letzte Begegnung mit Andreas Baader?

Ich meine, das war die Schlüsselübergabe. Ich bin danach, wie gesagt, weggezogen nach Spanien und habe frei gemalt. Aber dann ging das Geld aus, und ich bin reuig nach Deutschland zurück und hab wieder meine Layouts gescribbelt. Früher war ich Creative Director.

Wo?

Die Glanzzeit war Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre in der Agentur Wilkens. Da hab ich sehr viele Produkte gemacht, das bekannteste ist die Kampagne für Johnnie Walker.

„Der Tag geht, Johnnie Walker kommt.“

In sehr kurzer Zeit war ich damit der jüngste Creativ Director in Deutschland. Die Produkte reichten von Kühne-Essig bis Philips, sehr viel Zigaretten, viele Relaunches. Ich erinnere mich an einen Spot, der dann nicht produziert worden ist, eine surrealistische Sache, passend zur Zeit von 1970. Es sollte eine ultraleichte Zigarette sein, ein Vorläufer der R6 und eine heilige Kuh für Reemtsma. Man musste also kreativ sein. Das Schlagwort überhaupt, furchtbar, nicht wahr? Und ich war’s nun überhaupt nicht. Da hab ich gesagt, man kann so ein Produkt nicht per Reklame positionieren, das muss von Gott kommen – und hab einen orangefarbenen Hintergrund gemalt und davor wie ein Hochhaus die Packung, gigantisch. Das war eine Teaser-Kampagne. Dann ein Film dazu, als Storyboard gezeichnet, wie eine Muschel an den Strand gespült wird. In Zeitlupe öffnet sie sich – und was sieht man? Keine Perle, sondern eine winzige Schachtel Zigaretten. Die steigt in Zeitlupe nach oben, und daraus lösen sich die leichten Zigaretten.

(lachend) Die Geburt der Venus!

Ja, und kurz danach kam der Kubrick-Film „2001 – Odyssee im Weltraum“ in die Kinos, in dem die auch die Musik von Strauss hatten, „Also sprach Zarathustra“. Ich war also genau auf der modischen Spur.

Dann kamen Ihr Ausstieg aus der Werbebranche und Spanien. Davor lag die Schlüsselübergabe und Ihre letzte Begegnung mit Baader.

Ja, ich weiß noch, dass ich mich vor dem Treff total betrunken habe. Weil: Leute, die trinken, sind unsichere Kantonisten. Ich trank immer schon gerne. Das war also überhaupt kein Problem.

Angst?

Nicht so stark. Ich dachte eher: Jetzt mach ich mal Ordnung. Das geht so nicht weiter. Man muss im Prinzip fragen: Was hat mich animiert, die ganze Zeit über eine entfernte Nähe überhaupt zuzulassen? Das kommt, wie gesagt, aus dem antifaschistischen Reflex, dem schlechten Gewissen. Das hatten große bürgerliche Kreise so auch …

Aus der Nähe ist nie ein Mittun geworden?

Ich sah keine Perspektiven, fand’s auch irgendwie altmodisch. Das System ist so mächtig und so weich. Den Tyrannen zu stürzen ist eine griffige Angelegenheit. Heute kann jeder den Schnabel aufmachen – na und? Es interessiert keinen.

An die zersetzende Wirkung des Terrors als Agens der Revolution glaubten Sie nicht.

Nein, nicht als eine verändernde Form. Als Ausdruck, auch wenn er ins Leere rudert, finde ich das wichtig und interessant. Mir gefällt alles nicht. Aber ich habe keine Vorschläge, wie man es geschickter machen kann. Diese Staatsform, in der wir heute leben, ist für mich die einzig denkbare, mit all ihren Fehlern und Schlechtigkeiten.

NIKE BREYER lebt als freie Autorin in München und beschäftigt sich im Rahmen ihrer Interviewreihe zu deutschen Mythen derzeit mit den Koordinaten einer „Deutschen Fotografie“. Demnächst zu lesen im taz.mag