„Man entwickelt spezielle Muskeln“

Schauplatz Eremitage: Alexander Sokurows Film „Russian Ark“ flaniert durchs Museum und kommt dabei ohne einen einzigen Schnitt aus. Ein Gespräch mit dem Kameramann Tilman Büttner über die Herausforderung, 92 Minuten am Stück zu drehen

Interview VOLKER HUMMEL

taz: Herr Büttner, was hat Sie an dem Projekt „Russian Ark“ fasziniert?

Tilman Büttner: Ich glaube, jeder Kameramann möchte einen Film ohne Schnitt drehen. Gerade wenn man viel mit der bewegten Kamera arbeitet, entwickelt man Ideen, wie man Szenen weiterführen könnte. Ich war begeistert, dass sich jemand an so ein Experiment wagt, und sagte sofort zu. Erst hinterher kamen die Fragen: Schaffe ich das körperlich? Immerhin musste ich mit 35 Kilogramm 92 Minuten lang eine Strecke von 1.500 Metern zurücklegen.

Welche technischen Schwierigkeiten mussten überwunden werden?

Ursprünglich sollte auf 16 Millimeter gedreht werden, doch da reicht eine Rolle maximal für 20 Minuten. Dann verfiel man auf Mini-DV, doch die Auflösung reicht nicht, um Farben und Feinheiten von Gemälden und Kunstwerken aufzuzeichnen. Ich schlug eine in Berlin entwickelte High-Definition-Kamera vor, deren Kassetten aber nur 40 Minuten aufzeichnen konnten. Zufällig bekamen wir Kontakt mit einer Firma, die ein System entwickelte, mit dem man rund 90 Minuten in HD-Qualität aufzeichnen konnte. Da die Batterien an der Kamera angebracht werden konnten, musste jetzt nur noch eine Person mit dem Recorder die Kamera begleiten. Das Verbindungskabel war eine Schwachstelle.

Wie haben Sie sich auf den Dreh vorbereitet?

Gewicht musste eingespart werden. Am Steadycam-System wurden alle nicht erforderlichen Zusätze weggelassen. Ich orderte mir bei einer kanadischen Firma eine neuartige Steadycam-Weste. Der Harness, an dem die Kamera befestigt ist, war hier nicht aus weichem Leder, sondern aus starrem Karbon, das das Gewicht besser über den gesamten Körper verteilt.

Das klingt nach Optimierungen, wie man sie aus dem Sport kennt.

Ich hatte mich sogar in einem Fitnesscenter angemeldet. Ich bin zwar nie hingegangen, aber es hat mir ein gutes Gefühl gegeben. Aber das beste Training ist die Arbeit mit der Steadycam selbst, da entwickelt man ganz spezielle Muskeln.

Wie sah die Zeit direkt vorm Dreh aus?

Uns war klar: Wir haben nur einen Drehtag mit vier Stunden Licht, es war Winter in Sankt Petersburg. Wir haben nur 26 Stunden Vorbereitungszeit für den eigentlichen Dreh, für Ausstattung, Licht, Kostüme, Masken. Die Leute waren schon vorm Dreh fertig geschminkt und kostümiert worden, in weit ausladenden Kleidern. Die durften sich seit dem Vorabend nicht mehr setzen, legen oder auf Toilette gehen. Alle Beteiligten haben zwei Tage nicht geschlafen. Es war das größte Abenteuer, das ich bisher erlebt habe.

Der Countdown ist abgelaufen, die Kamera auf „On“ gestellt. Was passiert um Sie herum?

Sokurow war immer direkt in meiner Nähe, mit einem Watchman, auf dem er das Bild sah. Ganz wichtig war die Continuity-Dame, die in jedem Raum auf die Stoppuhr sah. Wir durften ja nicht in der 90. Minute noch drei Räume vorm Finale sein! Dann zwei Kameraassistenten, einer für die Schärfe, einer für die Blende. Außerdem der Träger des Recorders und zwei Beleuchter, die in bestimmten Situationen für leichte Aufhellungen sorgten. Ein Bühnen-Mann, der mich für kurze Strecken auf einem extra angefertigten Wagen schob. Vorneweg liefen ein Kollege, der die aktuelle Blende nahm, und ein Regieassistent, der die Leute in den nächsten Räumen aktivierte.

Welche kniffligen Situationen gab es?

Der Film ist erst im vierten Anlauf entstanden, wir hatten drei Abbrüche nach zirka fünf bis zehn Minuten. Einmal gab es eine Spiegelung von mir selbst in einer Scheibe der Gemächer von Peter dem Großen. Dann gab es einen Schauspielerfehler, danach fiel eine wichtige Handlampe am Eingang aus. Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon 30 Minuten lang 35 Kilo getragen. Die Crew wurde nervös. Hinzu kam, dass uns Sokurow in diesem sehr angespannten Moment erstmals verriet, dass das Orchester im Ballsaal live von dem russischen Stardirigenten Valeri Gergiew dirigiert werden würde, der um 17 Uhr den Flieger nach New York bekommen musste.

Gab es Überlegungen, ganz abzubrechen?

Nein, keiner wollte aufgeben. Als nächstes gab’s Schwierigkeiten mit der Temperatur. Draußen waren minus 25 Grad, und wir hatten Angst, dass die Linse beschlägt, obwohl wir das in Berliner Kühlschränken gestestet hatten. 30 Minuten, bevor wir dort eintreffen sollten, kam die Information, dass der Lichtballon im Ballsaal ausgefallen war, der 25 Meter über dem Boden hing. Das hat mich sehr belastet, aber ich vertraute meinen Leuten. Nach 20 Minuten kam die Meldung, dass der Ballon wieder brennt.

War die Szene im Ballsaal bis ins letzte Detail choreografiert?

Nein, das war nur grob festgelegt worden, mit etwa einem Viertel der Tänzer. Es hat sehr geholfen, dass ich viele Musikvideos gedreht habe. Hinter mir immer acht Leute, vor mir an die 300 Paare, die um uns her tanzten. Schon eine einzige Person hätte Schwierigkeiten gehabt, da durchzukommen. Aber die Tänzer waren toll vorbereitet. Wenn sie aus dem Bild waren, machten sie Platz für uns, wenn sie wieder vor die Linse kamen, tanzten sie weiter, als ob sie nie aufgehört hätten.

Welche Rolle spielte die nachträgliche Bildbearbeitung?

Eine große, wie bei allen heutigen Filmproduktionen. Es wurden nicht nur Farben und Helligkeiten aufgebessert, es wurden auch Sachen herausretuschiert: Lampen, die an falschen Positionen standen, einmal war Sokurow selbst ins Bild geraten. Man hat elektronisch ins Bild hineingezoomt und ihn damit aus dem Framing herausbekommen.