Schweigen gilt nicht

Lilo Clemens ist Jüdin. Otto Duscheleit war SS-Mann. Die Geschichte hat die beiden als Opfer und Täter getrennt. Beim Verein „One by One“ kamen Clemens und Duscheleit wieder zusammen. Eine Reportage über eine ungewöhnliche Begegnung

„Eigentlich sollte ich dich hassen. Aber du bist so süß.“ Das war die Wende

von MEIKE RÖHRIG

Bevor sie klingelte, hatte Lilo Clemens kurz gezögert. Unsicher hatte sie auf dem Fußweg gestanden und den sandsteinfarbenen Altbau beäugt. Es ist ein Herbstmorgen im vornehmen Berliner Westend. Die ruhigen Straßen tragen wohlklingende Namen wie Linden- und Platanenallee. Trotz des ersten Frosts ertönt aus den Bäumen helles Vogelgezwitscher, und Jugendstilvillen strahlen großbürgerliche Gelassenheit aus. Ganz leicht fällt ihr dieser Besuch nicht. Dabei kennt sie Otto Duscheleit schon seit zwei Jahren. Aber als der Gastgeber ihr aus dem Mantel hilft und ihr fürsorglich ein Paar Hausschuhe anbietet, scheinen ihre Bedenken verflogen. Die beiden duzen sich. Sie bewundert die üppigen Grünpflanzen. Er stellt eine Thermoskanne auf den mit Kerzen und Schnittblumen sorgsam dekorierten Tisch. Und schon sitzen die Jüdin und der ehemalige SS-Mann beim Tee.

Es ist ihr erstes privates Treffen. Zusammengeführt hat sie „One by One“. Der Verein hat es sich zum Ziel gesetzt, die Nachkommen von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus miteinander ins Gespräch zu bringen. Im Zentrum steht die Suche nach der eigenen Geschichte, die Frage: Was haben meine Eltern während der NS-Zeit gemacht, und welche Auswirkungen hat das auf mein Leben? In Gesprächsrunden versuchen die Mitglieder, Licht ins Dunkel ihrer Familiengeschichte zu bringen. Lilo Clemens und Otto Duscheleit gehören zu den wenigen unter ihnen, die die Nazi-Zeit selbst miterlebt haben: Sie als Verfolgte des NS-Regimes, er als Täter.

Otto Duscheleit ist Vegetarier und steht heute dem Buddhismus nahe. Seine 78 Jahre sieht man dem sportlichen Mann mit dem gepflegtenVollbart nicht an. Vor wenigen Monaten hat er den Krebs besiegt. Mit Meditation und Leinöl, behauptet er. Und mit der richtigen inneren Einstellung. Die zu finden war nicht leicht. Denn die Lebenswende, wie er es nennt, kam spät. „Kurz nach meinem 60. Geburtstag hatte ich einen Traum, in dem ich als SS-Schwein beschimpft wurde.“ Danach hat er sein Leben umgekrempelt, sich endlich der Vergangenheit gestellt.

Duscheleit zählt zu den Gründungsmitgliedern von „One by One“ in Deutschland. 1993 trifft er in einer Dialoggruppe erstmals mit Kindern von KZ-Überlebenden zusammen und erzählt ihnen seine Geschichte. Das kostet ihn unglaubliche Überwindung, bringt ihm aber auch ein tolles Kompliment ein: „Eigentlich sollte ich dich hassen, aber du bist so süß“, sagt eine amerikanische Jüdin hinterher zu ihm. Seitdem hat er eine Mission: Seinen Teil dazu beizutragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Für diese Läuterung musste er sich von Neonazis als „Verräter“ anfeinden lassen.

Lilo Clemens nickt wissend, so heftig, dass ihre sorgfältig gekämmte Kurzhaarfrisur wippt. „Ich hab manchmal auch schon gedacht, ob ich nicht ein Verräter bin“, sagt sie. Denn viele ihrer jüdischen Freunde verstehen ihr Engagement bei „One by One“, ihren aufgeschlossenen Umgang mit den Nachkommen der Täter nicht. „Wie kannst du dich nur mit diesen Leuten an einen Tisch setzen?“, bekommt sie oft zu hören. Aber von solchen Vorwürfen lässt sich die 76-Jährige nicht beirren. Sie ist klein und gebeugt, und beim Gehen bringt ein Herzleiden sie schnell aus der Puste. Aber jetzt ist ihre Stimme fest: „Wenn jemand aus der Vergangenheit gelernt hat, bin ich bereit, das anzuerkennen.“

Rachegedanken sind Lilo Clemens fremd. Woran das liegt, weiß sie nicht. Vielleicht daran, dass aus ihrer Familie alle die NS-Zeit überlebten. Vielleicht daran, dass ihr selbst in der Zeit der Verfolgung manchmal Gutes widerfuhr: Da gab es wildfremde Menschen, die dem Mädchen mit dem Judenstern in der Straßenbahn zunickten oder ihr einen Apfel zusteckten. Kleine Gesten, die sich ihr eingeprägten. Mit den perlmuttfarben lackierten Nägeln zeichnet sie Kreise auf das Tischtuch und sagt nachdenklich: „Wer weiß, wie ich reagiert hätte, wäre ich in eine andere Familie hineingeboren.“

Was sie den Deutschen vorwirft, ist nicht, dass sie mitgemacht haben bei Judenverfolgung und „totalem Krieg“, sondern dass sie es später nicht zugeben wollten, dass niemand den Mut hatte, reinen Tisch zu machen. Deshalb war sie von „One by One“ so fasziniert: „Ich hatte vorher noch nie gehört, dass jemand sagt: ‚Ich schäme mich dafür, was mein Vater getan hat.‘ “ Hier traf sie Menschen, die es ernst meinen mit der Aufarbeitung der Vergangenheit.

Menschen wie Otto Duscheleit. Der Rentner holt tief Luft. „Meine Schuld besteht darin, ganz normal gewesen zu sein, ein ganz normaler SS-Mann“, sagt er mit ausdruckloser Miene. Seine braunen Augen hinter der Brille blicken traurig auf das Foto, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Ein blonder junger Mann mit scharfen Gesichtszügen in schwarzer Uniform, ein nordischer Idealtyp. Nur die schwermütigen dunklen Augen sind damals schon dieselben. Ab 1944 kämpfte Otto Duscheleit in der SS-Division „Nordland“ im Baltikum.

Aber freiwillig war sein Eintritt in die Waffen-SS nicht, erzählt er. Die SS-Leute seien in den Arbeitsdienst gekommen und hätten die hundert Jugendlichen zwangsrekrutiert. „Ihr unterschreibt, oder ihr kommt ins Strafbataillon“, habe es geheißen. Nur zwei der Jungen weigern sich. „Aber das waren Kommunisten“, sagt er und zuckt mit den Schultern, noch heute voll Verwunderung, dass jemand den Mut hatte, Nein zu sagen. Otto gehorcht und unterzeichnet. Seine Mutter, die in der bekennenden Kirche aktiv ist, reagiert entsetzt: „Niemals hättest du das unterschreiben dürfen“, herrscht sie ihren Sohn an. Otto widerruft seinen Beitritt. Aber der Antrag wird abgelehnt. Also tut er dann doch, was man von ihm erwartet: fährt als Funker im Panzer mit, kämpft mit, singt mit – „SS marschiert in Feindesland“. Er ist stolz auf sein Panzersturmabzeichen. Er gehört dazu.

„Eigentlich habe ich mein ganzes Leben lang nirgendwo richtig dazugehört“, sagt Lilo Clemens. Für die Nazis galt sie als Jüdin und wurde entsprechend behandelt: Sie muss die Schule verlassen, Zwangsarbeit leisten auf einem Friedhof leisten – andere Juden begraben. Nur die so genannte Mischehe ihrer Eltern rettet ihr das Leben. Weil sie einen jüdischen Vater, aber eine christliche Mutter hat, ist sie nach jüdischem Religionsgesetz streng genommen keine Jüdin. Trotzdem liegt ihre Mutter heute in Israel begraben. Dorthin war sie mit ihrer Tochter 1948 ausgewandert. Doch auch in Israel kommt Lilo Clemens nicht zur Ruhe. Nach einer gescheiterten Beziehung kehrt sie 1973 nach Berlin zurück. Schon nach zwei Wochen hat sie sich in ihrer Geburtsstadt wieder so eingelebt, als wäre sie nie weg gewesen.

Otto Duscheleit stammt aus Ostpreußen. „In Königsberg habe ich gesehen, wie Juden aus ihren Häusern geholt wurden“, erinnert er sich. Sein Bruder berichtet ihm auf Fronturlaub von Massengräbern in Russland. Aber von der Ermordung der europäischen Juden hat er nichts gewusst, sagt er. Und erzählt von Rahel Hirschen, seiner jüdischen Ururgroßmutter, die sein Bruder im Stammbaum entdeckte.

Über seinem Sofa hängt ein großer Wandteppich, eine düstere Seenlandschaft in tristen Grau- und Brauntönen. Ein Fremdkörper in der gemütlichen Wohnung mit den bunt zusammengewürfelten Möbeln. Er hat ihn vor einigen Jahren von einer jüdischen Künstlerin gekauft, deren Mutter das KZ überlebte. „Nach dem Krieg habe ich mich mit der Vergangenheit überhaupt nicht mehr abgegeben“, räumt er schuldbewusst ein. Da galt es, sich in Berlin eine neue Existenz aufzubauen. Er macht sich selbstständig, heiratet, gründet eine Familie. Er ist zu beschäftigt für Erinnerungen.

Inzwischen hat Otto Duscheleit mit seinen Kindern über seine Vergangenheit gesprochen. Und sie haben ihm mit einem Gedicht gedankt, in dem es heißt: „Ein Totschweigen belastet unser Leben mit Dir nicht. Darüber sind wir sehr froh.“

Lilo Clemens seufzt. Sie durfte wegen eines Herzfehlers keine Kinder bekommen. Umso wichtiger sind ihr die Gespräche mit Schülern. „Die Schulbesuche sind eigentlich die besten Erlebnisse“, sagt sie. Sie wundert sich immer wieder, wie aufmerksam ihr die Jugendlichen zuhören. Aber sie ist auch schockiert, wie wenig die Enkelgeneration über die Verstrickung der eigenen Familie in das NS-Regime weiß und wie die Lebenslügen der Großeltern unhinterfragt an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Am Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar, hat sie zum ersten Mal mit einem „One-by-One“-Mitglied gemeinsam vor einer Klasse gestanden – „mit jemandem von der anderen Seite“ –, einem Mann ihres Alters. Er war ein begeisterter Pimpf in der Hitler-Jugend, während sie die ausgetretenen Schuhe ihrer Mutter auftrug, weil sie keine eigenen Kleidermarken mehr erhielt. „Das ist ein sehr gutes Beispiel für die jungen Leute“, glaubt sie, „zu zeigen, dass man trotz aller Unmenschlichkeit, die geschehen ist, noch miteinander reden kann.“