Der alternative Präsident

Als Nachfolger von George W. Bush wird Dennis Kucinich das Kioto-Protokoll unterschreiben. Dem Internationalen Strafgerichtshof beitreten. Und ein Friedensministerium einrichten. Besuch bei dem demokratischen Kandidaten, den „Rolling Stone“ den „neuen Führer des alternativen Amerika“ nennt

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Das Flugzeug, das Dennis Kucinich zu seinem Auftritt bringen sollte, durfte nicht in Washington landen. Das ist eine Metaphorik, wie sie nicht treffender hätte sein können. Der Kandidat wurde umgeleitet, kam Stunden zu spät und steht nun kurz vor Mitternacht auf der Bühne im Konferenzsaal des Sheratonhotels, wo er vor amerikanischen Muslimen spricht.

Die Tische sind fast abgeräumt, das Publikum in langen Gewändern und Kopftüchern ist in Gedanken längst zu Hause und klatscht höflich Beifall. Unbeirrt wettert der kleine schmale Mann mit dem jungenhaften Gesicht über den unsinnigen Irakkrieg, die weltweite Isolation Amerikas und die bürgerrechtfeindlichen Antiterrorgesetze. Er ist angriffslustig, spricht mit spitzer Zunge und genießt die Freiheit des Chancenlosen. Dann zückt er eine Dollarnote, zeigt auf das Bild mit dem geistigen Auge über der Pyramide und fordert einen spirituellen Aufbruch in Amerika. „Als Präsident werde ich spirituelle Prinzipien zurück in die Politik bringen.“ Von den Stühlen reißt er niemanden, auch wenn er gelegentlich den Koran zitiert. Es ist nicht sein Tag. Es ist auch nicht seine treueste Anhängerschar.

Loblied auf Deutschland

Die steht, klein in der Zahl, aber begeistert, auf dem Flur und wartet auf ein Interview. Zwei Anhänger, um genau zu sein. Sie heißen Steven und Elisa und arbeiten für ein Veganer-Magazin, das eine Titelgeschichte über den zur Zeit prominentesten Pflanzenkostler in den USA bringen will. Wie die meisten können auch sie sich nicht vorstellen, dass Kucinich je Präsident werden wird. Dennoch ist er für sie der einzig wahre Bush-Herausforderer. „Er ist der Botschafter einer Transformation zu einer neuen Zivilisation des Friedens und Einklangs mit der Natur“, sagt Steven. Elisa steht auf seine spiritual connection.

Warum sollte er vor der auch zurückschrecken? Wenn George W. Bush wie kein Präsident zuvor Religion und Politik verknüpft hat, kann auch er seine holistisch-spirituelle Weltsicht zu einem Markenzeichen seines Wahlkampfes machen. Die ist das geistige Fundament für seine konsequente Antikriegshaltung, die ihn zum Außenseiter gemacht hat. Dafür aber unter Studenten, Grünen und Friedensaktivisten zum stillen Politikstar.

Fast unbemerkt verschwindet er im Pressezimmer, ohne Kameras, Blitzlicht, Bodyguards und Gedränge.

„Wie geht’s“, fragt er wenig später grinsend in gebrochenem Deutsch. Es folgt ein minutenlanges Loblied auf Deutschland. Er war fünfmal da in den vergangenen Jahren. Er schwärmt vom Rheinland, von Recycling und Weihnachtsmärkten. Als Präsident werde er eine „warme“ Beziehung zu Deutschland und Europa pflegen und „not Amerika über alles“ propagieren. Es versteht sich von selbst, dass er alle internationalen Verträge wie das Kioto-Protokoll unterschreiben und dem Internationalen Strafgerichtshof beitreten wird. Sein größter Coup soll jedoch die Einrichtung eines US-Friedensministerium werden, gleichwertig neben dem Pentagon. Man merkt, wie er bei dieser Ankündigung auf die Reaktion seines Gegenüber lauert. „Ich lehne die Haltung entschieden ab, Kriege seien unvermeidlich.“

Dennis Kucinich hat ein breites und freundliches Lächeln. Laut Umfragen ist er weit abgeschlagen. Wird von den Mainstreammedien geschnitten. Von Demoralisierung jedoch keine Spur. Er ist Idealist. „Ich bin in diesem Rennen, um es zu gewinnen“, sagt er. Wie? Verrät er nicht. Seine Kandidatur sei einfach zu befremdlich für die Presse, sagt er. Beispiel Irakpolitik. Anders als Howard Dean ist er gegen jeden Krieg, nicht nur diesen. Anders als der demokratische Spitzenreiter kann er auf echten, nicht nur rhetorischen Widerstand gegen Bushs Kriegsresolution im Kongress verweisen. Er organisierte im Abgeordnetenhaus die Gegnerfront und gilt als glaubwürdig und konsequent. Er will die Besatzung des Irak eher heute als morgen beenden und alle US-Truppen nach Hause bringen. Die Auftragsvergabe an US-Firmen zum Wiederaufbau soll gestoppt, alle Entscheidungen der UNO und einer Interimsregierung überlassen werden und Amerika für die Kriegsschäden Reparationen zahlen. Für das einst alternative, heutige Mainstreammagazin Rolling Stone ist er die „neue Leitfigur des alternativen Amerika“ – ein Titel der mit Vorsicht zu genießen ist, denn selbst in linken Studentenhochburgen ist die Zahl der Anhänger Deans weitaus höher.

Vor Kucinich auf dem Tisch liegt eine Tüte mit Tofuscheiben, die er sich zwischendurch in den Mund steckt. Sein hagerer Körper schwimmt in einem zu großen Anzug. Wenn er spricht, stützt er oft seinen Kopf nachdenklich auf die rechte Hand. Manchen Fragen folgt ein Schweigen, das Journalisten ungeduldig macht. Er ist tatsächlich der Gegenentwurf zum polierten Politiker der US-Fernsehgesellschaft. Unkonventionell. Erfrischend. Für viele bleibt er aber ein seltsamer Vogel. Manche belächeln ihn als Esoteriker.

Man darf ihn deshalb allerdings nicht als politisches Leichtgewicht missverstehen. Der Mann ist beliebt und erfolgreich in seinem Heimatstaat Ohio. 1994 schaffte er als Abgeordneter den Sprung in den Kongress und wurde seither dreimal wiedergewählt. Selbst politische Gegner geben zu, dass kein Republikaner ihn momentan in seinem Wahlbezirk schlagen kann.

Kucinich ist Arbeitersohn, die Großeltern kamen aus Kroatien, der Vater war Lkw-Fahrer. Gern erzählt er, dass er während seiner Kindheit in 21 Wohnungen und Autos lebte und sich allein durch College und Universität boxte. 1977 wurde er mit 31 Jahren einer der jüngsten US-Bürgermeister in Cleveland. Als Anwalt öffentlicher Interessen weigerte er sich, den städtischen Energieversorger auf Druck der Gläubigerbanken zu privatisieren. Diese zwangen die Stadt in den Bankrott, und er war wieder arbeitslos.

Anschließend begann, wie er es nennt, seine Suche nach dem Sinn im Leben. Er zog durch das Land, lebte mit spirituellen Gruppen, Vegetariern und New-Age-Anhängern, arbeitete als Radioreporter, Berater, Dozent und schaffte 1994 sein Comeback.

Mit seinen politischen Auffassungen rutscht er innerhalb der Demokraten so weit an den linken Rand, dass er zuweilen aus ihrem Rahmen herausfällt. Kucinich gibt zu, dass er sich der „Green Party“ oftmals näher. „Meine Kandidatur bringt Grüne zu den Demokraten“, sagt er. Im Wahljahr 2004 könnte sein Verdienst darin bestehen, die Abwanderung von Wählern verhindert zu haben, die Al Gore 2000 den Sieg kostete. Damals hatte der Grüne Ralph Nader über 2 Millionen Stimmen bekommen. Einige tausend davon hätten gereicht, um Bush vom Weißen Haus fernzuhalten.

Ja zu Marihuana

Doch eines unterscheidet ihn von vielen Grünen: Stallgeruch. Er ist ein Arbeiterkind, das sich in Fabriken, auf Feldern und bei Gewerkschaftstreffen wohl fühlt. Er hat die Hochburgen der Späthippies in Kalifornien und New Mexico erlebt und blieb doch lieber im verrosteten Ohio, das in Amerika mit dem Niedergang der Stahl- und Autoindustrie und einer starken Streikbewegung in Verbindung gebracht wird und dessen größte Städte Cleveland und Cincinnati Synonyme für Rassentrennung sind.

Im Moment steht sein Name jedoch nicht nur für ungewöhnliche Politikentwürfe, sondern auch für „Online-Dating“. Junggeselle Kucinich hatte in einem Interview gespaßt, ein TV-Sender würde im medienverrückten Amerika sicherlich noch auf die Idee kommen, für ihn eine Frau zu suchen. Eine Internetseite lobte daraufhin den Wettbewerb „Who wants to be First Lady?“ aus und wurde mit Zuschriften überschwemmt. „Es ist völlig außer Kontrolle“, sagt Kucinich und muss grinsen. Er freut sich sichtlich, dass die Aktion ihm zu einem Popularitätsschub verholfen hat.

Doch es bleibt dabei: Es kann nicht Präsident werden, wer Nafta, WTO und Atomkraft abschaffen, das Pentagon verkleinern und Marihuana legalisieren will. Und wer auf die Frage, was er unter Patriotismus versteht, antwortet: „Liebe dein Land so sehr, dass du helfen kannst die Schönheit der ganzen Welt zu verstehen.“

Nichtsdestotrotz wird Dennis Kucinich 2004 gewählt werden – wenn nicht alles schief läuft: für eine vierte Periode als stacheliger Kongressabgeordneter.