Antipsychiatrie mit Zuschauern

Jacques Lins Bericht „Das Leben mit dem Floß. In der Gesellschaft autistischer Kinder“

1965 begann in den Cevennen eine Gruppe um den Antipsychiater Fernand Deligny mit dem Aufbau einer Guerillabewegung, die anfangs vornehmlich aus Linksintellektuellen und autistischen Kindern bestand. 1972 konnte er bereits in der Zeitschrift Partisans über erste Erfolge berichten: „… und wir haben Stellung bezogen / wir waren immer nur einige wenige / zerstreut über kleine Einheiten / hier in den Bergen / man musste ausharren / bei Tag bei Nacht / trotz des Unmöglichen / des Unerträglichen / in den Wogen.“

Sie hatten sich mit den verhaltensgestörten Kindern in Untergruppen aufgeteilt und auf kleinen, mit Steinmauern eingefassten Plateaus sowie in verlassenen Hütten und Ställen Basislager errichtet: Flöße, auf und zwischen denen sie eine aufs Wesentliche reduzierte Lebensweise „einpflanzten“, die jedoch zugleich – den Ziegen- und Schafhirten der Cevennen angepasst –mehr oder weniger „nomadisch“ war. Dazu den Kindern zuliebe noch fast sprachlos, erst recht interpretationsfrei.

In den Siebzigerjahren wurden die linken Pariser Theoretiker und Filmemacher auf das antipsychiatrische Experiment von Deligny, der vielen als radikaler Maoist galt, aufmerksam. In der Zeitschrift Recherches beantwortete Deligny ihnen die Frage: „Wer sind sie, die freiwillig am Rande der Welt des Wortes leben?“ Es seien „Leute aus dem Volk, muss man sagen, eine Volksinitiative, die versucht, eine Bresche in die Praxis der Einschließung zu schlagen“. Zu seiner Gruppe gehörten dann tatsächlich mehr und mehr junge Leute, Bauern und Arbeiter aus der Umgebung. Als „Partisan“ bezeichnete er jedoch insbesondere die autistischen Kinder, die zum großen Teil immer nur vorübergehend dort waren – „gleichsam auf Reise“ – und mit denen „jede Einheit unseres kleinen Netzwerks“ in den Bergen sich auf ihre Weise auseinander setzen muss. Im Übrigen sei auch diese ihre partisanische Autonomie und Organisationsweise „keine Utopie: Es geht um ‚Flöße‘, nicht um eine neue Erde.“

1980 veröffentlichte der Westberliner Merve-Verlag Delignys „Chronik eines Versuchs“ unter dem Titel „Ein Floß in den Bergen“. So hieß zuvor auch schon ein französischer Film über Delignys Projekt in den Cevennen, das zwar von der französischen Gesundheitsbehörde nicht bekämpft, aber auch nicht finanziert wurde. Dafür unterstützte es die Gruppe Pink Floyd nach ihrer Frankreichtournee großzügig. Und abgesehen davon gehörte zum Floßleben in den Bergen, dass dort, wer konnte, den Nachbarn bei der Ernte und beim Viehhüten half. Daneben wurde regelmäßig Brot gebacken und verkauft. Der „Maoismus“ von Deligny bestand nicht zuletzt auch im Bestreben, zur Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit beizutragen, denn die Fähigkeiten der meist stummen Kinder lagen oft gerade im Manuellen. Und die partisanische Operationsweise gehört quasi zum Genius Loci der Cevennen. 2002 feierte Frankreich das 300-jährige Jubiläum des dortigen Kamisarden-Aufstands: Zwischen 1702 und 1710 hatten knapp 3.000 protestantische Rebellen in den Cevennen rund 25.000 Soldaten des Königs in Schach gehalten. „Die Kamisarden führten den ersten Guerillakrieg der Neuzeit“, bemerkte dazu die Deutsche Hugenotten-Gesellschaft in einem Sammelband stolz.

2002 erschien im Verlag Peter Engstler ein weiterer Text von Deligny: „Irrlinien“. Und soeben veröffentlichte derselbe Verleger, der hauptberuflich in der Rhön mit geistig Behinderten arbeitet, den Bericht „Ein Leben mit dem Floß“ von Jacques Lin, der 1967 als Arbeiter mit einem großen Werkzeugkasten in „diese kleine Welt“ am Fuß der Berge kam: Damals lebten dort „fast 100 Personen. Ärzte, ein Architekt, Lehrer, Kinder, ein katalanischer Sänger, zwei Kollegen aus der Fabrik, die mir von diesem Ort erzählt hatten, und viele andere Leute, die sich alle zu kennen scheinen. […] schnell finde ich mich als Einziger wieder, der mit der Maurerkelle arbeitet, die meisten Freiwilligen ziehen die Kaffeeterrassen, die kühlen Bäche und die Dorffeste vor.“ Später stoßen noch Lins zwei Brüder dazu: „Die Verständigung unter drei Brüdern ist nicht immer einfach“, notiert der Autor, der sich daraufhin im Nachbarort an Deligny um Rat wendet.

Sein Bericht endet damit, dass der bald 80-jährige Fernand Deligny nebenan, „wenn er noch Kraft dazu hat, an seinem endlosen Roman „L’Enfant de citadelle“ schreibt: „Dass wieder der Schafauftrieb bevorbesteht – und die Regierung jetzt durchsetzen will, dass die Schäfer ihre Tiere in Zukunft mit dem Lkw transportieren.“ Jacques Lin geht deswegen mit einer roten Fahne vor der Schafherde her, um die Autofahrer zu warnen. 1995 kommt wieder der Inspektor der Gesundheitsbehörde zu einem Kontrollbesuch: Wie üblich wird alles Mögliche beanstandet. Doch diesmal sollen sie dazu noch 20.000 Franc Strafe zahlen. „Das ist sicherlich ein Irrtum“, bemerkt Jacques Lin abschließend, denn immerhin „ersparen wir es den Kindern seit fast dreißig Jahren, in eine psychiatrische Anstalt gehen zu müssen“, und ermöglichen ihnen stattdessen, „sich häufig als sehr angenehme Gefährten zu erweisen“.

Der inzwischen verstorbene „Eremit“ Fernand Deligny hat zu diesem „Bericht“, der in Frankreich bereits 1996 erschien, noch ein kurzes Vorwort beigesteuert, in dem es heißt, dass Lin eher eine „Erzählung“ vorgelegt habe, „indem er kleine Einzelheiten und Gebärden beschreibt, die den lebendigen Ablauf des Projekts ausmachen. Der Versuch geht weiter: das Leben mit dem Floß. Die Erzählung von Jacques Lin lädt die Leser dazu ein, das Weite zu suchen. Was ein Abenteuer anderer Art ist, als mit einem Hundeschlitten zum Nordpol zu fahren; wir suchen nach dem, was das Menschliche ausmacht.“ Und das macht auch den Wert des kleinen Buches von Lin aus, das Peter Engstler zusätzlich mit Zeichnungen, Karten und Fotografien ausgestattet hat.

HELMUT HÖGE

Jacques Lin: „Das Leben mit dem Floß. In der Gesellschaft autistischer Kinder“. Aus dem Französischen von Ronald Voullié. Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 2004, 112 S., 14 Euro