Die RAF „im Positiven und dann im Negativen“

Der schwedische Dokumentarfilm „Stockholm 75“ portraitiert den ehemaligen RAF-Terroristen Karl-Heinz Dellwo, der heute ohne Demutsgesten über sich und die RAF spricht. In Deutschland wurde der Film bislang nicht gezeigt – das allerdings änderte nun das Unabhängige Filmfest Osnabrück

David Aronowitsch: „Auch heute verstehe ich vieles bei Karl-Heinz noch nicht. Aus dieser Neugierde heraus habe ich den Film gemacht“

Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass das Unabhängige Filmfest Osnabrück tatsächlich im besten Sinne des Wortes unabhängig ist, dann wurde dieser am vergangenen Wochenende mit der Deutschlandpremiere der Dokumentation „Stockholm 75 – The Story of A Former RAF Terrorist“ geliefert. Niemand sonst wollte den Film des schwedischen Filmemachers David Aronowitsch in Deutschland zeigen: keines der größeren Festivals, und auch keine Fernsehanstalt. Die Qualität des Films kann dafür kein Grund sein, denn gut gemacht ist die bereits vor einem Jahr fertiggestellte Produktion zweifellos.

Statt dessen schreckt aber wohl die Perspektive: Ausgehend von der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm im Jahr 1975 durch deutsche Terroristen, bei deren blutiger Beendigung vier Menschen starben, konzentriert sich David Aronowitsch ganz auf den damaligen RAF-Terroristen Karl-Heinz Dellwo. Dieser wurde damals zu zweimal lebenslänglich verurteilt, trat im Gefängnis aus Protest gegen die Isolationshaft in Hungerstreik und wurde 1995 aus der Haft entlassen. Heute erzählt er ganz ohne Demutsgesten von jener Zeit. Für solch ein zwar einseitiges, dafür aber komplexes und ehrliches Porträt scheint das Land noch nicht bereit zu sein.

„Das ist in Deutschland noch nicht historisiert“, sagt Dellwo selber, „ich bin zu diesem Thema vom holländischen, vom dänischen und vom schwedischen Fernsehen befragt worden, und ich hatte den Eindruck, mit Leuten aus dem Ausland kann man so etwas machen, weil die nicht von vornherein positioniert sind, sich rechtfertigen zu müssen.“

Filmemacher David Aronowitsch gibt zu: „Auch heute verstehe ich vieles bei Karl-Heinz immer noch nicht. Und aus dieser Neugierde heraus habe ich den Film gemacht!“ Für einen deutschen Filmemacher wäre solch ein Satz wohl vernichtend gewesen, aber diese offene Haltung kommt dem Film nur zugute: Sowohl in Schweden wie auch in andern skandinavischen Ländern ist er mit großem Erfolg im Fernsehen gezeigt worden.

In Deutschland reagiert man wohl empfindlicher, wenn Karl-Heinz Dellwo sich als alles andere als ein reuiger Sünder zeigt, analytisch argumentiert und auch heute noch eine radikale Position bezieht: „Ich weiß, warum ich mich in diesen Staat nicht integrieren wollte, und das verteidige ich auch. Und inzwischen denke ich, dass die RAF für die Linke auch eine große Leistung gebracht hat. Wir alle wollten damals das System stürzen und das Ende des Kapitalismus herbeiführen, und der bewaffnete Kampf wurde dabei ja durchaus nicht grundsätzlich abgelehnt. Die RAF hat da stellvertretend eine Revolutionsfantasie für eine ganze Generation umgesetzt und auch in ihrem Scheitern ausgelebt. Spätestens nach 77 wurde dann klar, dass es in dieser Gesellschaft mit Revolution nichts werden würde und man alternative Wege gehen musste. Diese Generation brauchte eine Eindeutigkeit für ihr Bedürfnis nach Aufbruch, und das hat die RAF zuerst im Positiven und dann im Negativen für sie durchgemacht. Ich finde es erbärmlich, wenn ich sehe, wie manche von damals jetzt über diese Zeit reden.“

Dellwo hat einen Hang zu langen politischen Aussagen, und er hätte im Film gerne auch noch mehr von den vielen gefilmten Diskussionen gesehen, „das Kognitive“ in den Vordergrund gestellt. Dafür eignen sich die visuellen Medien aber gar nicht, und zum Glück hat Aronowitsch ihn nicht pausenlos reden lassen. Mit einem Trick beraubt der Filmemacher seinem Protagonisten gar seiner Eloquenz, denn er lässt ihn in einigen Sequenzen in einem eher zögerlich holprigen Englisch reden. Und gerade in diesen Szenen, in denen Dellwo eher unfreiwillig Schwächen zeigt, lernt man ihn besser kennen als in den Einstellungen, die er doch sehr mit seiner dominanten Persönlichkeit beherrscht.

Alleine schon um zu sehen, wie ein Mensch mit solch einer Biografie, der sagt, seine „18 Monate Hungerstreik im Gefängnis seien „eine positive Erfahrung gewesen, weil ich als Subjekt gehandelt und mich gespürt haben“, heute aussieht und redet, ist die Dokumentation sehenwert. Nachdem „Stockholm 75“ nun zumindest einmal, mit großer Zustimmung des Publikums und in Kombination mit einer lebhaften, aber nie aggressiven Diskussion in Deutschland gezeigt wurde, bleibt zu hoffen, dass diese Vorstellung nicht die letzte gewesen ist. Wilfried Hippen