jazzkolumne
: Aus der Not in die Tugend

Globalisierung im Jazz: Vom amerikanischen Vorbild lernen heißt, einen eigenen musikalischen Stil auszubilden

Als zwei Jahre nach der New York Times nun auch Der Spiegel den skandinavischen Jazz entdeckte, gab es in der norwegischen Presse schon Berichte darüber, dass das Blå, der angesagteste Club für die neue Musik in Oslo, kurz vor dem Aus steht. Historisch gesehen haben amerikanische Musiker und Komponisten wie George Russell, Don Cherry, Ornette Coleman und Keith Jarrett den europäischen Jazz geprägt. Drei Jahrzehnte später stand dann in der New York Times, dass der neue Jazz nicht mehr in den USA erfunden und gespielt wird, sondern in Europa, in Paris und Oslo – und zwar von Europäern. Gleichzeitig scheinen eindeutige Festlegungen auf national kodierte Genres und Sounds nicht zu funktionieren.

Das Statement der New York Times war vor allem auch deshalb bemerkenswert, da man es in der so genannten Heimat des Jazz nicht gewohnt ist, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Die europäische Szene diskutiert ihre, nennen wir es mal, Emanzipation von den großen amerikanischen Vorbildern hingegen schon sehr lange. Allerdings mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Während die Festivalveranstalter in Elmau, Berlin und Münster (vom 7. bis zum 9. Januar 2005) sich wohl erst richtig verstanden fühlen, wenn keine amerikanischen Musikernamen mehr auf ihren Programmzetteln stehen, neigen die Musiker selbst eher zur Differenzierung.

Wenn man den polnischen Trompeter Tomasz Stanko, der als einer der Protagonisten des europäischen Jazz gilt, heute zu Aufnahmen, die er vor 20, 30 Jahren machte, befragt, könnte man meinen, dass er die Entwicklung einer europäischen Szene eher als infrastrukturbedingten Unfall begreift. Von einem originär europäischen Sonderweg spricht er nicht, nein, er sei immer ein großer Ornette-Coleman-Fan gewesen, hatte damals aber kaum Möglichkeiten, an Platten oder Noten heranzukommen. An einen persönlichen Kontakt mir Coleman war erst recht nicht zu denken – und dann so ein Satz: „Also entwickelte ich meinen eigenen, sehr persönlichen Sound.“

Der sehr europäische Sound von Evan Parker und Peter Brötzmann komme jedenfalls von John Coltrane, sagt Stanko. Und auf der in diesem Jahr wiederveröffentlichten Brötzmann-Platte „14 Love Poems“(FMP) gibt es tatsächlich eine der schönsten Coleman-Interpretationen überhaupt – Peter Brötzmanns Improvisation über „Lonely Woman“. Sie haben eigentlich amerikanische Musik interpretiert – John Coltrane, Ornette Coleman und Albert Ayler – für die es in Amerika kein Publikum gab. Jetzt, nach der Differenz, würden die sehr unterschiedlichen Einflüsse nach einer organischen Einheit streben, resümiert Stanko.

Als der bislang kaum als neotraditionalistisch aufgefallene Saxofonist Branford Marsalis bei seiner jüngsten Europatour zu Protokoll gab, dass es einen europäischen Jazz gar nicht gäbe, ja, gar nicht geben könne, staunte der gerade in Wien mit dem European Jazz Prize ausgezeichnete schwedische Pianist Esbjörn Svensson nicht schlecht. Gehe es da um Kontrolle oder sei das gar als Aufruf zu verstehen, die progressive, kreative Musik, die die europäische Szene heute mache, vom alten Jazz abzutrennen?, fragte Svensson.

Keine Frage, die europäische Jazzszene fühlt sich heute emanzipierter, eigenständiger und innovativer denn je. Sie hat hier nun einmal die Aufmerksamkeit, die ihr im Schatten der großen amerikanischen Jazzstars jahrelang versagt worden ist – in den USA wurde sie eh nie nachgefragt. Innerhalb der jungen deutschen Szene trumpfte in diesem Jahr das Martin Auer Quintett mit der CD „Horn an Horn“ (jazz4ever) und dem jungen Saxofonisten und Komponisten Florian Trübsbach auf. Hier hat man das Standardgedudel erfolgreich überwunden, ohne in einer kontemplativen Lahmarschigkeit zu versinken. Seit langem klangen Vorschläge, die Steve Coleman und Greg Osby einst machten, so überzeugend frisch und weiterentwickelt wie in Trübsbachs Kompositionen – hinreißende Sounds, dichte Strukturen und eine inspirierte Spielhaltung, wie man sie in New Yorker Clubs zur Zeit nur selten sieht.

Als Amiri Baraka 1965 ein Konzert mit John Coltrane und den damals wichtigsten FreeJazz-Avantgardisten produzierte, schrieb er in den Liner Notes, „auf dieser Platte hörst du die Dichter der schwarzen Nation“. Heute nennt Baraka die Saxofonisten Pharoah Sanders und David Murray, aber auch jüngere, wie die Pianisten DD Jackson und Vijay Iyer. Iyer, Sohn indischer Immigranten, wurde von der amerikanischen Jazzjournalistenvereinigung zum Nachwuchskünstler des Jahres gewählt. Er hört Jazz als Geschichte des Widerstands und Kampfes, nicht so sehr als Musik, sondern als „Diskurszone“, wie er sagt. Sein aktuelles Video „In What Language?“ thematisiert er traumatische Erfahrungen mit amerikanischen Sicherheitsbehörden, die Transitreisende mit brauner Hautfarbe am New Yorker JFK-Flughafen gemacht haben (zu sehen auf www.pirecordings.com). Zu hören ist Iyer auf der soeben auch hier veröffentlichten CD „Song for my Sister“, die der afroamerikanische Saxofonist und Gründer des Art Ensemble of Chicago, Roscoe Mitchell, mit seiner Band Note Factory für das New Yorker Independend-Label Pi Recordings aufgenommen hat.

CHRISTIAN BROECKING