Der Gang durch den Spiegel

Die Trainingsjacken haben sie längst ausgezogen. Dennoch lastet auf Tocotronic der Anspruch, stets flockige Zitate zum poplinken Zeitgeist zu prägen. Mit ihrem neuen Album „Pure Vernunft darf niemals siegen“ entzieht sich die Band diesen Erwartungen – und flieht ins Waldesdunkel und ins Weltall

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Dirk von Lowtzow hat alles hinter sich gelassen. Es muss damit zu tun haben, dass er vor zwei Jahren Schauergeschichten von H. P. Lovecraft, einem der Klassiker der Horror-Literatur, als Hörbuch einsprach. Seitdem scheint er aus dem Zwischenreich zwischen tschechischem Märchenfilm und allumfassendem Kosmos nicht mehr rauszukommen. Er hat Stimmen gehört, Dinge gesehen, Schwellen gekreuzt und ist in der Unendlichkeit angekommen. Respekt!, möchte man dem so jung Erleuchteten ironisch zurufen. Dann wird der Sänger der Band Tocotronic freundlich, aber bestimmt seine Wortkunst schützend vor den feindlichen Übergreifer stellen und – wie jüngst in dem Interview des Musikmagazins Spex – den Impuls, „Dinge genau zu verstehen und zu entschlüsseln“, als „falschen Ansatz“ hinsichtlich der Musik von Tocotronic im Besonderen und der Poesie im Allgemeinen geißeln. Er wird im schlimmsten Fall Susan Sontag hervorziehen und behaupten, dass jede Interpretation die Erotik der Kunst zunichte mache.

Dabei haben die Kritiker ja gar nicht gedeutelt, sondern nur hingehört und ein bisschen weiß auf schwarz im Booklet des neuen Albums gelesen. Da schlägt es einem doch schon entgegen, das abgespacete neue Lowtzow-Glück, das am Ende einer fast übermenschlichen Katharsis zu stehen scheint – per aspera ad astra, „durch die Hoffnung zu den Sternen“.

Ja, es geht auf „Pure Vernunft darf niemals siegen“ zu den Sternen – dahin, wo sich die Hamburger Kollegen von Blumfeld, so jenseits von jedem sie sich auch fühlen mögen, mit ihrer romantischen, aber doch erdverbundenen Klarheit noch nicht hingetraut haben. Dirk von Lowtzow tut es Alice gleich: „Wir müssen durch den Spiegel gehen.“ Er marschiert gerade durch ins Wunderland, wo er Kontakt zu Prinzen, Waldestieren und dem Weltall aufnimmt.

Von „Tagesthemen“ bis MTV

Der Gang durch den Spiegel – vielleicht ist er gar nicht so verwunderlich für eine Band, die seit elf Jahren als Spiegel einer ganzen Generation herhalten muss, deren ursprüngliches „Wir kommen, um uns zu beschweren!“ mittlerweile auf breiter Front als ein „Die haben was zu sagen!“ abgespeichert ist. Was kann man schon tun, wenn man von Ulrich Wickert zu den deutschen Beatles erklärt wird? Wenn man mit den Worten „ihr Gestus ist der eines Angekotztseins vom Gegenwartsgeist“ angekündigt und so auch noch sämtlichen Hartz-IV-Betroffenen und Krisenjüngern angedient wird? Doch nur, auf MTV direkt im Anschluss an die Tagesthemen loszuwerden, dass es „Deutschland nicht schaden kann, zu wenig Selbstbewusstsein zu haben“ – und sich ansonsten dünne zu machen. Abhauen vor der Aufgabe, Sprachrohr zu sein für alle reflektiert-kritischen Menschen um die 30, und beständig easy erinnerbare Diskurssplitter zu liefern.

Die Mittneunziger-Tocotronic-Songs à la „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, die verslackerten Trainingsjacken und Seitenscheitel-Frisuren sowie ihr ausgesucht knapper, schröddeliger Mitgröl-Sound der Frühzeit sind Geschichte, aber noch lange nicht vergessen: Sie sind, einen Kometenschweif von Nachmachern hinter sich her schleifend, in ein fast gesamtgesellschaftliches popkulturelles Unterbewusstes abgesunken und werden von da aus mittlerweile vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk als nationales Gemeingut wieder hervorgezerrt. Ein Gemeingut, das keine andere Funktion hat, als wahrsprechender Befindlichkeitsmesser zu sein.

So wird es „Wir sind Helden“, den offiziell erklärten Botschaftern der Generation eins nach Tocotronic, in zwanzig Jahren nicht ergehen: dazu reicht das bisschen „Guten Tag!“-Gerufe nicht. Eine statistische Erhebung würde zweifelsohne ergeben, dass Klotüren dieser Welt häufiger mit „Michael Ende, du hast mein Leben zerstört!“ geschmückt wurden als mit „Ich will mein Leben zurück!“. Und trotzdem kriegen Wir sind Helden vor lauter Erwartungsdruck jetzt schon nicht mal mehr das zweite Album auf die Reihe.

Illusion als Menschenrecht

Tocotronic haben es mit „Pure Vernunft darf niemals siegen“ stoisch bis zur Nummer sieben der deutschen Hitlisten gebracht. Nicht, dass das Album fiebrig erwartet worden wäre. Aber ist es einmal in den Regalen der Plattenhändler, wird es dann doch ganz automatisch mit dem Anspruch befrachtet, nichts anderes als den aktuellen poplinken Zeitgeist zu versprühen. Und da machen die vier Hamburger nicht mehr mit. Verklärt lächelnd, verlegen sie ihre überbewertete Sprecherposition ins Metaphysische und küren die Illusion zum Menschenrecht. Sie entschwinden ins Waldesdunkel bzw. Sternneblige – schon auf dem Cover sind die Köpfe von Arne Zank, Jan Müller, Dirk von Lowtzow und Neu-Bandmitglied Rick McPhail zwischen schattige Baumstämme montiert, was genauso albern aussieht, wie es sich anhört.

Die Musik allerdings steuert dagegen. Der dänische Regisseur Lars von Trier soll Pate gestanden haben: „Es ging darum, ein Dogma-artiges Soundgefüge zu erstellen, zu kucken, was die Songs aus sich selbst heraus können“, so von Lowtzow. Damit haben sich Tocotronic schon wieder von dem verabschiedet, womit sie mit dem letzten, selbst betitelten 2002er Album (das so genannte „weiße“) erst im großen Maßstab angefangen hatten: exzessives Soundtüfteln im Studio, eineinhalb Jahre lang, komplexe Arrangements, Einsatz von orchestralen Mengen von Instrumenten, Streicherteppiche hier, Flügel da, Tuba dort, dazu elektronische Sperenzchen in pompöser Vielfalt. Jetzt aber hieß es Kommando zurück zur rockauthentischen Einfachheit von Gitarre, Schlagzeug und Bass.

Das gesamte Material für „Pure Vernunft“ wurde in nur neun Tagen in einem kleinen Kreuzberger Studio aufgenommen, live und in Bandkonstellation. Die Instrumente klingen trocken und unverstellt. Die zweite Gitarre von McPhail macht den Sound kompakter, aber auch straighter. Jedes Stück zehrt von nur einer Idee, einem kleinen motivhaften Riff oder Bass-Lick, das sich repetitiv und minimal im Kreis dreht – The Fall und Velvet Underground lassen grüßen.

Gitarre, Schlagzeug, Bass

Herrscht beim Text der Manierismus, ist es in der Musik das Understatement. War beim weißen Album alles in schönster Harmonie vereint und entfaltete sich in strahlender Pracht, ist jetzt das Soundbett oft derart zurückgenommen, dass einem keine andere Wahl bleibt, als sich vom Baudelaire-Wiedergänger Lowtzow durch all die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen schleifen zu lassen, durch die er mit ordentlich Halleffekt auf der Stimme schwebt. Das nervt manchmal, langweilt auch hier und da, ist aber bei mindestens der Hälfte der Songs eine wirklich beglückende Angelegenheit, eine Differenzerfahrung zwischen asketischem Sackleinen und dionysischem Rausch. Eine Musik, die die besten Häppchen der poststrukturalistischen Entsubjektivierungstheorie zum Frühstück gehabt hat.

Der Titelsong selbst hat dabei am hungrigsten zugeschlagen und ist zu etwas ganz Großem geworden: Er huldigt dem Karneval und dem kollektiven Wahnsinn, der den Ich-Kern spaltet und in neuer Verschaltetheit mit den vielen anderen einen menschenunmöglichen Bewegungszustand erreicht: „Wir sind so leicht, dass wir fliegen“. Dazu reichen Tocotronic einen ritornellhaften Dreivierteltakt, der Mittelalter-Exzesse und Alexandras „Zigeunerjunge“ heraufbeschwört, der drehleiert und orgelt, dass es die helle Freude ist, und der zu spontanen Sufi-Tänzen Anlass gibt.

Nur ein einziges Stück auf dem gesamten Album opfern Tocotronic der Außenwelt und ihrer Klare-Ansage-Erwartung, höflich und noch ein bisschen pflichtbewusst: „Aber hier leben, nein danke“ ist zur Interpretation als Statement gegen die Deutsch-Quote freigegeben – obwohl das Bonmot einst ganz profan einem Touristenpärchen auf dem Affenfelsen von Gibraltar abgelauscht wurde.

Die trotzige Hamburger Schule ist zu einem Graduiertenkolleg geworden, Fachrichtung „Schönheit, Gitarren und Selbstverlust“. Müpften Tocotronic einst dagegen auf, dass die Welt sie nicht verstand, ist ihnen das heute grad egal. Auch wenn sie dabei lalala singen und sich wie die eine Kreuzung aus Deleuzianern, Surrealisten und Situationisten auf kosmischen Umherschweif-Projekten aufführen, so hat das nichts mit neuer deutscher Innerlichkeit zu tun. Sondern mit einem Haken, den sie der eigenen Zeitgeistigkeit schlagen.

Die Idee ist gut, die Welt hoffentlich noch nicht bereit.