Wenn das Familiengericht tagt

Das Phänomen der Ehrenmorde hat man in Deutschland zu lange ignoriert. Obwohl sie mit den Grundwerten einer westlichen Gesellschaft kollidieren. Nach dem Mord an einer türkischstämmigen Berlinerin regt sich endlich öffentlicher Protest

VON MARTIN REICHERT

Würden Rechtsradikale eine 23-jährige Deutsche türkischer Herkunft auf offener Straße erschießen, wäre ganz schön was los. Wenn eine 23-jährige Deutsche türkischer Herkunft auf offener Straße von ihren eigenen Brüdern erschossen wird, ist nicht wirklich was los. Kein Aufstand der Anständigen, keine Sondersendung, keine Lichterketten: Die Reflexe engagierter Bürger versagen, auch weil das Täter-Opfer-Bild plötzlich schief hängt.

Wenn in Berlin-Neukölln ein Deutscher seine Frau erschießt, aus Eifersucht, dann gibt es auch keinen Aufstand, und auch keine Sondersendung. Der Mann hat ein „Verbrechen aus Leidenschaft“ verübt, einen Mord aus Eifersucht, unter Umständen im Affekt, ein persönliches Drama zwischen zwei Menschen, schlimm, aber keinen ARD-Brennpunkt wert. Männliche Gewalt gegen Frauen, ja, aber es hätte auch umgekehrt sein können: die Ehefrau bringt ihren Mann aus Eifersucht um. In beiden Varianten eine verabscheuungswürdige, zu verurteilende Tat.

Im Fall der vor zwei Wochen in Berlin-Tempelhof auf offener Straße erschossenen Hatun Sürücu ist der Umkehrschluss hingegen schwer vorstellbar: Eine 23-jährige Deutsch-Türkin erschießt ihre drei Brüder im Alter zwischen 18 und 25 Jahren auf offener Straße, weil diese vorehelichen Geschlechtsverkehr hatten und somit die Ehre der Familie beschmutzt hatten?

Hatun Sürücüs Brüder wurden letzte Woche festgenommen, sie stehen unter dringendem Tatverdacht, ihre Schwester ermordet zu haben, und zwar nicht aus Leidenschaft, sondern um die „beschmutzte“ Ehre der Familie Sürücü wiederherzustellen. Falls sich der Tatverdacht bestätigt, handelte es sich also um einen „Ehrenmord“, eines von 5.000 „crimes of honour“, die laut UNO-Schätzung jährlich weltweit verübt werden. Deutschland ist in dieser Schätzung gar nicht erfasst. Nicht, weil es die Verbrechen nicht gäbe, es existieren jedoch keine Zahlen, keine Statistiken, die über diese Art der Verbrechen Auskunft erteilen; auch weil „Ehrenmorde“ als solche von den Behörden oft gar nicht erkannt werden. Oder nicht erkannt werden sollen?

Familienrat beschließt den Tod

Hatun Sürücü ist aller Wahrscheinlichkeit nach gestorben, weil der Familienrat zusammengetreten war und ihren Tod beschlossen hatte: In Istanbul war sie mit 16 Jahren mit einem Cousin zwangsverheiratet worden, hatte sich dann in Deutschland scheiden lassen, den Beruf der Elektroinstallateurin gelernt und sich als Alleinerziehende um ihren fünfjährigen Sohn gekümmert. In der Boulevard-Presse hieß es, sie habe „viele Männerbekanntschaften“ gehabt, sei gerne ausgegangen und habe viel gelacht. Die Todesstrafe ist dafür in Deutschland nicht vorgesehen. Auch wenn die Schuld der Brüder noch nicht erwiesen ist, Beifall ist ihnen bereits gewiss: Der fassungslose Schulleiter der Berlin-Neuköllner Thomas-Morus-Oberschule sah sich genötigt, einen offenen Brief zu verfassen, weil „einige Schüler unserer Schule den Mord an der jungen Frau gut finden und sich an der allgemeinen Hetze und an Aktionen gegen Frauen, die nicht so sind, wie sie sein müssen, beteiligen“. Offensichtlich, wenn auch verschämt unausgesprochen, waren die türkisch- oder arabischstämmigen Jugendlichen der Ansicht: die Frau hat sich wie eine Deutsche benommen – selbst schuld. Hatun Sürücü war eine Deutsche und wollte so leben wie eine Deutsche, nämlich emanzipiert, frei, westlich.

Handelte es sich um einen Mord aus Eifersucht, es bedürfte keiner öffentlichen Akklamation. Bei einem Ehrenmord verhält es sich anders: Er soll nicht nur die Familienehre wiederherstellen, sondern auch die traditionelle patriarchale Ordnung aufrechterhalten. „Diese Morde finden an öffentlichen Orten statt, sie dienen als Abschreckung für alle anderen Frauen“, sagt Serap Cileli, Autorin des Buches „Wir sind eure Töchter, nicht eure Ehre“. Cileli arbeitet mit der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes zusammen, die mit der Aktion „Nein zu Verbrechen im Namen der Ehre“ gegen mittelalterliche Wahnvorstellungen kämpft – mit den Mitteln der Aufklärung.

Bei den so genannten Ehrenmorden handelt es sich nicht um individuelle Dramen, sondern um ein soziales Phänomen in modernisierungsdefizitären Gemeinschaften, die überproportional islamisch geprägt sind. Im Wertesystem traditionell streng patriarchaler Länder hängt die gesellschaftliche Ehre der Männer in einer Familie auch vom normgerechten Verhalten der weiblichen Familienangehörigen ab, die Frau ist eine Art Gefäß für die Ehre, das von den Männern beschützt werden muss. Die Frau beschmutzt diese Ehre, wenn sie fremdgeht, nicht den Mann heiratet, der ihr von der Familie zugedacht ist, und auch wenn sie vergewaltigt wird: „Zur Not wird sie dann mit dem Täter zwangsverheiratet“, erklärt Serap Celeli. Eigentlich geht es gar nicht um die individuelle Schuld der betreffenden Frau, die finstere Logik der Ehre ehrt weder Frau noch Individuum, es geht darum, den Fleck, den Schmutz aus der Familie zu entfernen. Hauptsächlich geht es um den Umgang mit Sexualität.

Bobby ist achtzehn Jahre alt und wohnt in Berlin Kreuzberg, seine Eltern stammen aus Palästina: „Natürlich muss ich auf meine Schwester aufpassen, vor allem darauf, dass sie auf jeden Fall Jungfrau bleibt bis zur Ehe. Ich bin ja der größere Bruder, nach meinem Vater der Mann im Haus. Wenn meine Schwester vor der Ehe Geschlechtsverkehr hat, dann ist die ganze Familie beschmutzt, niemand guckt uns mehr an.“ Er ist ein freundlicher, aufgeweckter junger Mann mit Zahnspange, der noch zur Schule geht. „Ich darf auch erst Sex haben, wenn ich verheiratet bin. Aber ich sage immer: Wenn die Frau nicht darf, dann muss der Mann bis zur Ehe wenigstens so viel gelernt haben, dass er es drauf hat. Einer muss es doch drauf haben?“ Diese Überlegungen kann Bobby beruhigt anstellen, denn niemand wird ihn aufgrund seiner sexuellen Lernphase, gleich ob mit Frauen oder Männern, umbringen. Er ist ein Mann. Ungefähr im Alter der Schüler, die den Mord an Hatun Sürücü nach alter Väter Sitte gutgeheißen haben, anstatt gegen ebendiese Sitten aufzubegehren.

Abkehr von der Kultur der Ehre

In Schweden haben sich acht junge Muslime im Alter zwischen siebzehn und zwanzig Jahren zu der Organisation Sharaf Hjältar zusammengeschlossen unter dem Motto: „Mut ist es, für die Freiheit meiner Schwester zu kämpfen“. Sie wollen Gleichaltrige zur Abkehr von der „Kultur der Ehre“ bewegen, damit nicht noch mehr Cousinen und Schwestern ihr Leben für eine Idee lassen müssen, die so gar nicht in ihre längst von Modernität geprägte Lebenswirklichkeit passen will. Die von schwedischen Institutionen geförderte Gründung von Sharaf Hjältar war eine Reaktion auf die Ermordung einer 26-jährigen Kurdin im Januar 2002: Ihr Vater hatte sie umgebracht, weil sie sich selbst einen Partner gesucht hatte. Und Schweden geriet in Aufruhr. „In Deutschland gibt es so etwas nicht. Es wäre schön, wenn eine solche Initiative von den Männern ausginge. Aber so eine Bewegung wird so schnell nicht zustande kommen. Der Verlust der Familienehre bedeutet ganz einfach den sozialen Tod“, sagt Serap Cileli und setzt auf Aufklärung: „Wir müssen die Frauen erreichen, die zwischen ihren vier Wänden hocken und nicht einmal deutsch sprechen.“ Frauen, die mangels besseren Wissens und aufgrund der eigenen Erfahrungen zu Mittäterinnen werden und mitunter ihre eigenen Töchter nach Hause locken, um sie der Familiengerichtsbarkeit auszuliefern.

Rahel Volz, Politologin und Referentin von Terre des Femmes hat beobachtet, dass ein großer Teil der jungen Türkischstämmigen in Deutschland gegen die Ehrvorstellungen ihrer Eltern aufbegehrt: „Wir haben es mit einem riesigen Generationenkonflikt zu tun, der im Gegensatz zur bereits fortschrittlicheren, laizistischen Türkei in der deutschen Diaspora unter verschärften Bedingungen stattfindet.“ Gerade in der Fremde wird an traditionellen Wertvorstellungen und Ritualen festgehalten, weil sie die als bedroht empfundene Identität sichern helfen sollen. Und dies gilt laut Volz nicht nur für die meist bildungsfernen Familien aus Anatolien, sondern auch für akademische deutsch-türkische Kreise. Kein Problem, wenn es um Tee-Zeremonien oder Festkultur geht, ein Problem jedoch, wenn traditionelle Ehrvorstellungen mit den Menschenrechten und dem Grundgesetz kollidieren.

In westlichen Ländern ist der Begriff der Ehre längst seiner ursprünglich feudalen, ständischen Bedeutung entkleidet. Die nach außen gerichtete Funktion der Ehre hat sich nach innen verlagert und zur Würde weiterentwickelt. Zur Menschenwürde. Von Normen der Ehre hingegen nimmt das geschriebene staatliche Recht keine Kenntnis. Es schützt lediglich den Anspruch der Person, in ihrer „äußeren“ Ehre nicht durch entehrende Äußerungen beeinträchtigt zu werden. Soweit jemand eine nicht mit den allgemeinen Gesetzen vereinbare Gruppenehre hat, genießt er keinen Schutz. Ein Ehrenmord ist ganz einfach ein Mord, da nützt auch kein ethnologisches Gutachten, keine sensible Erörterung des kulturellen Hintergrunds.

In Deutschland hat man das Phänomen der Ehrenmorde lange, zu lange ignoriert, „aufgrund einer falsch verstandenen Rücksicht“, sagt Serap Cileli: „Wegen der deutschen Vergangenheit haben die Medien es meist abgelehnt, sich mit dem Thema zu befassen. Sie hatten Angst, dass dies Ausländerfeindlichkeit schüren könnte.“