„Bildung sollte Menschenrecht sein“

Das Recht auf Bildung gibt es fast überall. Doch jede Regierung interpretiert es, wie es ihr passt, meint die ehemalige UN-Sonderbeobachterin Katarina Tomașevski. Auch in Deutschland werden Zuwandererkinder benachteiligt und ungenügend integriert. Bolivien schafft das viel besser

INTERVIEW MONA MOTAKEF

taz: Frau Tomașevski, Sie waren sechs Jahre lang UN-Sonderberichterstatterin zum Recht auf Bildung. Was kann man sich darunter vorstellen?

Katarina Tomașevski: Man macht von allem ein bisschen: redet mit Ministerien, Lehrern und Schulkindern. Mit Ministern allein zu sprechen reicht nicht aus, denn was immer ein Minister über die Bildung in seinem Land denkt, sagt noch nichts über den Schulalltag von Kindern aus.

Was sagen die Kinder, wenn sie hören, dass sie ein Recht auf Bildung haben?

Zu meinem eigenen Horror stelle ich überall immer wieder eine Sache fest: Fast alle Kinder hassen die Schule.

Das Recht auf Bildung ist ihnen egal?

Für sie bedeutet Schulpflicht vor allem Zwang. Sie müssen zur Schule gehen und dumme, uninteressante Dinge lernen.

Wie erklären Sie denn den Kindern das Recht auf Bildung?

Das Recht auf Bildung sollte ein Menschenrecht sein. Das heißt, Bildung sollte ein öffentliches Gut und damit unentgeltlich sein. Wenn Bildung kommerzialisiert wird, wenn alte oder arme Menschen keinen Zugang zu Bildung haben, dann können wir nicht mehr von einem Recht sprechen, das allen Menschen zusteht. Zudem sollte es Wahlfreiheit in der Bildung geben.

Heißt das, auch der Staat sollte kein Bildungsmonopol besitzen?

Genau. Eine Regierung darf nicht einfach Zwänge auf Kinder ausüben und im Extremfall Gehirnwäsche machen. Leider ist die Bedeutung des Rechts auf Bildung furchtbar durcheinander geraten, auch in Europa.

Die Pisa-Studie hat verdeutlicht, dass es auch in Deutschland um Bildung schlecht bestellt ist: Es gibt eine sehr enge Beziehung zwischen Herkunft und Schulleistung.

Ja, Bund und Länder haben faktisch zu wenig unternommen, um die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen, die in Armut aufwachsen, zu verbessern. Wir wissen, dass die Fähigkeit zu lernen bereits in einem sehr frühen Alter beginnt. Wenn Kinder keine oder wenige Bildungsanreize erhalten, zahlen sie später in der Schule dafür. Da geht es nicht um Intelligenz.

Auf die schlechten Pisa-Ergebnisse hin haben einige Politiker argumentiert, dass Deutschland nicht so schlecht dastehen würde, wenn man die Kinder aus Migrantenfamilien nicht mitzählte.

Das ist weder wahr noch fair. Anstatt die Kinder zu verteufeln, sollte sich eher der Staat für diese Kinder einsetzen.

Im Bundesland Hessen werden Kinder mit Migrationshintergrund erst eingeschult, wenn ihre Deutschkenntnisse ausreichen. Wie lässt sich dies mit dem Recht auf Bildung vereinbaren?

Gar nicht. Bei dieser Position, entweder Deutsch oder keine Einschulung, wird nicht anerkannt, dass diese Kinder auch Menschen sind. Sie tragen schließlich ihre Familiensprache mit sich. Man kann sie nicht dafür bestrafen, dass ihre Muttersprache nicht Deutsch ist und darf sie nicht zwingen, deutsch zu werden.

Wie würden Sie hier menschenrechtlich argumentie- ren?

Das ist ein großes Problem. Es wird deutlich, dass auch in der Sprachpolitik eine europäische Richtlinie fehlt.

Und bezogen auf das Recht auf Bildung?

Das ist Diskriminierung in der Bildung, und die untersagt das Recht auf Bildung. Menschenrechte sind universell, das heißt sie sind für alle Menschen gültig. Man kann nicht einfach Kinder mit Migrationshintergrund ausnehmen und argumentieren, dass nur deutschsprachige Kinder ein uneingeschränktes Recht auf Bildung haben. Schließlich muss man sehen, dass diese Kinder in das Schulsystem integriert werden könnten, wenn die Regierung zur Kenntnis nimmt, dass sie bilingual sind.

Gibt es da Vorbilder?

Ja, zum Beispiel Bolivien. In Bolivien werden Kinder erst in ihrer Familiensprache unterrichtet und langsam in das Spanische eingeführt. Und Bolivien ist viel ärmer als Deutschland. Das diese Integration in Europa weitgehend fehlt, ist sehr bedauerlich, schließlich wäre es finanziell möglich.

Warum ist es Ihnen so wichtig, Kinder über Menschenrechte aufzuklären?

Kinder erfahren permanent Menschenrechtsverletzungen, ohne dass ihnen eine Person systematisch erklärt, was passiert. In Dänemark zum Beispiel, wo ich lebe, gibt es offen ausländerfeindliche Kampagnen von Politikern.

Und?

Das ist für Kinder sehr irritierend. Kinder fühlen vielleicht intuitiv, dass da etwas nicht stimmt, aber sie haben ja keine politischen Rechte. Sie können das schwer kommunizieren, sie sind noch zu jung. Aus diesem Grund ist Menschenrechtsbildung so wichtig, gerade an Schulen. Dort müsste Kindern erklärt werden, warum es erlaubt ist, dass in einigen Ländern Politiker sich offen ausländerfeindlich äußern dürfen, während sie in anderen Ländern dafür ins Gefängnis kämen.

In Ihrem sechsten Jahresbericht schreiben Sie, dass ihre Arbeit als Sonderberichterstatterin eine unmögliche Aufgabe sei. Wieso?

Die Größenordnung ist nicht realistisch. Was fehlt, sind wissenschaftliche Institute und Nichtregierungsorganisationen, die grundlegend zum Recht auf Bildung arbeiten. Es gibt nicht so etwas wie amnesty international oder Human Rights Watch im Recht auf Bildung, Organisationen, die weltweit tätig sind und die Bildung weltweit beobachten. Beim Recht auf Bildung haben wir gerade erst angefangen.

Macht das Mandat da überhaupt Sinn?

Ich würde sagen, so wie es gegenwärtig innerhalb der Vereinten Nationen gestaltet wird, macht es keinen Sinn. Eine Person allein kann sich nicht um das Recht auf Bildung auf der ganzen Welt kümmern.

Wie könnte das Mandat sinnvoller ausgefüllt werden?

Zum einen müsste es Themenschwerpunkte geben, und es müsste ein gut arbeitendes Monitoring, ein Überwachungssystems eingerichtet werden: Was genau sind Menschenrechtsverletzungen in der Bildung? Wo werden Rechte verletzt? Die Vereinten Nationen sollten ein Beobachtersystem aufstellen, wie sie es auch für Folter haben.

Wer hat sie in ihrer Arbeit als Sonderberichterstatterin unterstützt, was war hilfreich?

Die Gewerkschaften der Lehrerinnen und Lehrer, überall auf der Welt. Die Gewerkschaften sind die Einzigen, die wissen, was in den einzelnen Ländern passiert.

Gehören Rechte von Lehrerinnen und Lehrern auch zum Recht auf Bildung?

Wenn wir über das Recht auf Bildung sprechen, denken wir immer an Schülerinnen und Schüler. Sehr selten geht es auch um Lehrerinnen und Lehrer. Dies ist bedauerlich. Der soziale Status des Lehrberufs, sein Prestige und die Lehrergehälter sind in letzter Zeit stark gesunken. Das ist auch ein Grund, warum es um Bildung so schlecht bestellt ist. In Großbritannien etwa werden die Pädagogen sehr mies bezahlt. Wegen Personalmangels muss die englische Regierung Lehrer aus Südafrika und Jamaika anwerben. Europäer würden für das Gehalt nämlich nicht mehr in Schulen arbeiten.

Stehen die unterschiedlichen Bildungssysteme dem Menschenrecht auf Bildung im Wege?

Ja, genau. Jedes Land versteht etwas anderes darunter: In Irland haben die Eltern das Recht, ihre Kinder selbst zu unterrichten, und die meisten Schulen werden von der katholischen Kirche geführt. In Frankreich, einem Land mit einer säkularen Bildung, dürfen Mädchen in der Schule keine Kopftücher tragen.

Warum brauchen wir eine europäische Bildungspolitik?

Das Fehlen einer europäischen Politik ist gefährlich. Denn das bedeutet, dass wir das gleiche Recht auf Bildung in unterschiedlichen Ländern verschieden interpretieren. In einem Land beinhaltet es die Freiheit für Mädchen, Kopftücher zu tragen, in einem anderen Land wird das gleiche Recht gegenteilig interpretiert.