Die Durchsuchung

Sie ist seit 18 Jahren Deutsche, eigentlich fühlte sie sich integriert. Aber für ihre Nachbarin war sie trotzdem nur eine Polackin

AUS BERLIN BETTINA GAUS

Das Landeskriminalamt hatte eine Nachricht hinterlassen. „Sehr geehrte Frau Leszczynska! Ihre Wohnung in Berlin ist am 5. 04. 04 in der Zeit von 7.40 bis 9.30 auf Anordnung des Amtsgerichts Tiergarten durchsucht worden. Bedingt durch Ihre Abwesenheit musste hierbei die Wohnungstür gewaltsam geöffnet werden. Ein neues Schloss wurde eingebaut. Die Schlüssel hierzu wollen Sie bitte Polizeiabschnitt 36, Berlin-Wilmersdorf, Rudolstädter Str. 79, abholen. Eine Protokolldurchschrift ist für Sie hinterlegt worden. Hochachtungsvoll.“

Für Dorota Leszczynska war die Mitteilung ein Schock, als sie mit ihrer damals sechsjährigen Tochter abends um elf müde aus dem Urlaub nach Hause kam. Die Nachbarn hatten sich längst an den Zettel gewöhnt. Immerhin hing er bereits seit zehn Tagen an der Wohnungstür. Ganz offen, deutlich lesbar für jedermann. „Unsere Siedlung wird schmutzig. Die Polacken sind eingezogen“, habe eine Frau zu ihr kurz nach ihrer Heimkehr auf der Treppe gesagt, erzählt Dorota Leszczynska.

Die Stimme der 49-Jährigen zittert vor Empörung. Sie wird lauter, spricht hektisch, raucht hastig. Andere Gäste des kleinen Cafés drehen sich um nach der gepflegten, rotblonden Frau und mustern sie diskret. „Ich fühlte mich unheimlich erniedrigt. Vorher glaubte ich, vollkommen integriert zu sein, sogar assimiliert.“ Die gebürtige Polin spricht vorzüglich Deutsch. Seit 1977 lebt die freiberufliche Journalistin in der Bundesrepublik, zunächst einige Jahre als anerkannte Asylbewerberin. 1987 hat sie sich einbürgern lassen. Die Hausdurchsuchung rief bedrückende Erinnerungen in ihr wach: „Solche Maßnahmen hatte ich auch als Kind erlebt, weil meine Eltern in der polnischen Opposition waren. Da kamen traumatische Erlebnisse hoch.“

Die Eltern wussten allerdings, woran sie mit der Staatsmacht waren, Dorota Leszczynska hatte keine Ahnung, was die Polizei von ihr wollte. Das betont sie bis heute. Darauf besteht sie, aggressiv und wütend. Wie soll man das glauben? Eine Hausdurchsuchung wird doch gewiss nicht ohne konkrete Anhaltspunkte angeordnet – da muss man wohl wenigstens eine Ahnung haben, worum es gehen könnte.

Nein, muss man nicht. Das ist ein Kinderglaube. Man kann sich nicht einmal darauf verlassen, dass Akteneinsicht weiterhilft. Das Amtsgericht Tiergarten hatte die Durchsuchung der Wohnung von Dorota Leszczynska „in der Ermittlungssache Liliya K. und andere“ angeordnet. Es ging, wenigstens das ließ sich dem Beschluss entnehmen, um Vergehen „gegen das Ausländergesetz“, genauer: um einen Callgirl-Schleuserring. In der Wohnung von Dorota Leszczynska hoffte man, „Beweismittel“ zu finden, „insbesondere Unterlagen zum Aufenthalt der Prostituierten und dem Umfang der Schleusung“. Sie war nicht Beschuldigte, sondern Zeugin. Und auch nicht schlauer als vorher.

„Es kann sich hier nur um eine Verwechslung, einen Irrtum oder eine falsche Anschuldigung handeln“, schrieb Rechtsanwalt Harald Remé ans Amtsgericht. Seine Mandantin kenne überhaupt keine Liliya K. und sei „völlig ratlos“. In der Akte, die der Anwalt für den Fall angelegt hat, liegt ein kleiner Zettel, der davon noch überzeugender spricht, als alle Beteuerungen das je tun könnten. Auf diesem Stück Papier sind die ersten Überlegungen notiert, die Dorota Leszczynska seinerzeit angestellt hatte: wer aus ihrem Bekanntenkreis möglicherweise irgendein Problem mit Gericht und Staatsanwaltschaft haben könnte oder jemanden kenne, der ein Problem hatte.

Alle diese Mutmaßungen und Verdächtigungen haben sich als falsch herausgestellt. Geblieben ist Misstrauen. Bis heute. „Ich werde bald wie meine Nachbarin, die mich als Polackin beschimpft hat“, sagt Dorota Leszczynska. „Zu Osteuropäern will ich nur noch Kontakt haben, wenn sie schon sehr lange hier leben.“ Denn inzwischen hat sie zumindest eine Vermutung, wie sie ins Räderwerk der Justiz gelangt ist: Ein kleines Mädchen aus der Ukraine, mit dem sich ihre Tochter in der Vorschule angefreundet hatte, wurde einmal nach dem Spielen nicht von deren Mutter, sondern von einer anderen Frau abgeholt. Vielleicht sei diese Frau in die Angelegenheit verwickelt und observiert worden. Und vielleicht sei sie deshalb auf die Liste der Ermittler gelangt.

Möglich. Nichts Genaues weiß man nicht. Denn Dorota Leszczynska ist kein einziges Mal von der Polizei vernommen oder auch nur vorgeladen worden. Offenbar war deren Wissensdurst durch das gestillt, was sie aus der Wohnung mitgenommen hatten: zwei Computer, mehrere Videokassetten und einige Briefumschläge mit Papieren. Wie Dorota Leszczynska sagt, enthielten sie vor allem Schriftwechsel mit Behörden und Recherchematerial.

Rechtsanwalt Remé wandte sich an Gericht und Staatsanwaltschaft mit der dringenden Bitte um Freigabe der beschlagnahmten Gegenstände. Seine Mandantin benötige sie, um ihre journalistische Arbeit fortsetzen zu können. Andernfalls drohten ihr wirtschaftliche Einbußen. Das Amtsgericht reagierte prompt: Es bestätigte die Beschlagnahme, „weil die vorgenannten Gegenstände als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein können“.

Der Anwalt gab nicht auf. Durchsuchung wie Beschlagnahmung seien rechtswidrig, weil sie nicht individuell begründet worden seien. Sämtliche Richtlinien, die das Bundesverfassungsgericht für derartige Fälle vorgegeben habe, seien somit nicht eingehalten worden. „Meine Mandantin hat weder etwas mit der Einschleusung von Ausländern noch mit der Förderung von Prostitution irgendetwas zu tun und sie hat auch nicht die geringste Ahnung, weshalb sich aus den Unterlagen, die bei ihr beschlagnahmt worden sind, irgendetwas Diesbezügliches ergeben können sollte.“ Inzwischen war es Mitte Mai geworden.

Dorota Leszczynska sagt, dass sie damals mit den Nerven am Ende gewesen sei. Damals? Die Verletzungen, die sie erlitten hat, sind auch heute noch spürbar. „Wenn man einen polnischen Namen hat, steht fest, dass man bei Nacht und Nebel die Oder durchquert hat, um sich zu prostituieren.“ Selbst ihr Anwalt habe sie beim ersten Gespräch gefragt, ob sie je als Callgirl gearbeitet habe. Den Einwand, dass er das doch wohl habe tun müssen – schließlich habe er sie nicht gekannt –, wischt sie ungeduldig weg.

„Ich habe mich nie als Teil einer Nation begriffen. Ich habe mich als Teil eines intellektuellen Milieus gesehen.“ Sie erweckt den Eindruck, das, was ihr geschehen sei, deshalb für besonders ungerecht und unzumutbar zu halten. Ob sie die Vorgänge für weniger dramatisch hielte, wenn nicht eine Journalistin, sondern eine Putzfrau deren Opfer gewesen wäre? Die Antwort darauf ist ein ratloser Blick – und ein Anruf am folgenden Tag: „Ich hatte gestern den Eindruck, dass Sie mich für ziemlich elitär halten. Sie haben mich falsch verstanden.“

Ja, das ist möglich. In der Tat: Sie wirkt elitär. Und ein Urteil darüber, was die korrekten Sätze und das angemessene Verhalten im Angesicht einer existenziellen Bedrohung sein sollten, ist ja auch ganz einfach. Solange man nicht selbst betroffen ist.

Es scheint mühsam zu sein, sich in die Lage von jemandem hineinzuversetzen, der das Gefühl hat, den Boden unter den Füßen zu verlieren. „Dann gehen Sie doch in Behandlung“, sagt ein Kriminalbeamter zu Dorota Leszczynska, als sie ihm erklärt, dass sie psychisch und physisch am Ende sei. „Dann gehen Sie doch in ein Hotel“, meint ein anderer Polizist zu ihr, als sie es erregt ablehnt, nach der Rückkehr aus dem Urlaub mitten in der Nacht noch aufs Revier zu kommen, um sich den neuen Schlüssel für ihre Wohnung abzuholen.

Ende Juni 2004. Erneut beantragt Rechtsanwalt Remé die Freigabe der beschlagnahmten Gegenstände. Er verweist darauf, dass „aus den vorgelegten Akten nicht erkennbar wird, was Frau L. mit diesen Verfahren überhaupt zu tun hat“. Die Akten des Ermittlungsverfahrens umfassen mehrere Bände. Der Anwalt findet, dass Dorota Leszczynska einem „unsäglichen und unverständlichen Verfahren“ ausgesetzt wird.

August 2004. Harald Remé bittet um „Sachstandsmitteilung“ und droht Verfassungsbeschwerde an: „Ein betroffener Bürger, dem selbst nicht der geringste strafbare Vorwurf zu machen ist, muss die Beschlagnahme seiner wichtigsten beruflichen Hilfsmittel erdulden und hat über den Zeitraum von vier Monaten hinweg absolut keine Möglichkeit, sich hiergegen sinnvoll zu wehren.“ Ende August werden die beschlagnahmten Gegenstände von der Staatsanwaltschaft freigegeben.

September 2004. Ein Polizist – der doch eigentlich „Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft“ und nicht „Herr des Ermittlungsverfahrens“ ist (Remé) – weigert sich, den beschlagnahmten Computer herauszugeben. Er habe ihn gerade erst zur Überprüfung durch die Fachdienststelle gegeben. Wann er von dort zurückkomme, wisse er nicht. Dort sei immer ein zeitlicher Stau.

Einige Tage später erhält Dorota Leszczynska das Gerät zurück, rund fünf Monate nach Durchsuchung ihrer Wohnung. Im Januar 2005 entscheidet das Landgericht Berlin, dass der Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts rechtswidrig war. Es folgt in seiner Entscheidung weitgehend der Argumentation von Rechtsanwalt Remé. „Der Antrag auf Freigabe der beschlagnahmten Gegenstände hat sich durch Herausgabe erledigt.“ Die Kosten des Rechtsmittels und die Auslagen der Beschwerdeführerin sollen der Staatskasse zur Last fallen.

Jedenfalls soweit sich der Schaden von Dorota Leszczynska beziffern lässt und sie ihn konkret nachweisen kann. Entgangene Aufträge und psychische Not sind nur selten entschädigungsfähig. Harald Remé will nun wenigstens eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den damals zuständigen Staatsanwalt Reiner Pützhofen einreichen. Große Hoffnungen macht er sich allerdings nicht: Solche Beschwerden seien in der Regel „form-, frist- und fruchtlos“.

Der Staatsanwalt wirkt am Telefon nicht besonders beunruhigt. Er habe vor einigen Monaten die Abteilung gewechselt und könne sich an den Fall von Dorota Leszczynska nicht mehr erinnern. Vom Beschluss des Berliner Landgerichts habe er nichts gehört. Wie er sich in dieser Angelegenheit noch irgend wie sachkundig machen könne, wisse er nicht. Dienstaufsichtsbeschwerde? „Na ja. Wenn der Anwalt meint.“