„Absurd: Geiz als Quelle menschlicher Lebenskraft“

Im taz-Gespräch erläutert Arbeitswissenschaftler Matthias Knuth, wie in Nordrhein-Westfalen neue Jobs entstehen können: Die Menschen brauchen mehr Geld zum Ausgeben, gerade gebildete Familien müssen ihre Kinder versorgt wissen. Und der Staat soll sich wieder einmischen

taz: Wie können in NRW neue Arbeitsplätze entstehen?

Matthias Knuth: Wir brauchen Innovationen in den Unternehmen, Menschen die sich qualifizieren und an der Gestaltung der Zukunft aktiv beteiligen. Wir dürfen uns mit dem Ausschluss von Regionen und Milieus aus der „Wissensgesellschaft“ nicht abfinden. Zudem muss die öffentliche und private Nachfrage gestärkt werden. Es muss Schluss sein mit der absurden Vorstellung, Geiz sei die Quelle menschlicher Lebenskraft.

Ist das Prinzip von Arbeit Lohn für geopferte Zeit?

Diese Formel stimmt so nicht. Sie unterstellt Erwerbstätige, die zwischen Arbeit und Freizeit wählen können, als ob sich das Problem der Existenzsicherung nicht stellen würde. Die Arbeitslosen und Geringverdienenden haben diese Wahl nicht, sie sind auf ihr Einkommen angewiesen. Die meisten gut Verdienenden können genauso wenig wählen, weil sie nur so lange gut verdienen, wie sie vollen Einsatz für ihren Job leisten. Gleichzeitig hat Arbeit immer auch eine kulturelle Bedeutung.

Welche Kultur verbirgt sich hinter Hartz IV und den neuen Arbeitsgelegenheiten?

Sie unterscheiden sich nicht von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. In zu hoher Dosierung eingesetzt, verdrängen sie die Arbeit, für die die Teilnehmer angeblich fit gemacht werden sollen. Wenn nun 600.000 Ein-Euro-Jobs geschaffen werden, sollen nur die Arbeitslosenzahlen kaschiert werden. Damit wird die 90er-Jahre-Arbeitsmarktpolitik aus dem Osten auf die Republik ausgeweitet.

Hartz IV ist nur eines der beliebten Schlagworte: Alle Parteien setzen in ihren Programmen auf den Mittelstand als Arbeitsbeschaffer.

„Mittelstand“ ist ein in andere Sprachen unübersetzbarer Begriff aus ständischer Zeit. Richtig ist, dass Arbeitsplätze heute eher in kleineren Betrieben entstehen und erhalten werden als in großen. Bisher allerdings hat die Politik keine Antwort gefunden auf die grundlegende Änderung der Kreditfinanzierungssysteme, die den so genannten Mittelstand weitgehend unvorbereitet trifft.

Wie kann der Staat überhaupt noch lenken? Was sollte er fördern, wo sollte er sich zurückziehen?

Die Daseins- und Zukunftsvorsorge ist in Bereichen wie Bildung, Forschung, soziale Dienste und Teilen der physischen Infrastruktur gefährdet. Die Vorstellung, wir würden wirtschaftlich gesunden, wenn „der Staat“ sich immer ärmer macht, ist irrig.

Aber diese Vorstellung setzt sich zunehmend durch.

Die Frage ist, welchem Leitbild Deutschland folgen will. Unser System der Ehegattenbesteuerung, der sozialen Sicherung und der Erziehung des Nachwuchses ist immer noch konservativ. Es setzt voraus, dass sich mindestens ein Elternteil halbtags um die Kinder kümmern kann. Dieses System versagt schon bei den Kindern, die gar nicht mehr in Familien im herkömmlichen Sinne aufwachsen. Gleichzeitig verzichtet dieses System auf Kinder, die mit dem besten Bildungskapital ausgestattet sein könnten, weil es qualifizierte Frauen vor die Alternative „Kinder oder Karriere“ stellt. Wenn man jetzt den Staat noch weiter verschlankt und den Arbeitsmarkt dereguliert, wird alles nur schlimmer: Die Anforderungen der Arbeitswelt werden noch weniger vereinbar sein mit Elternpflichten. Die verbliebenen Einrichtungen werden noch weniger in der Lage sein, Eltern zu entlasten.

„Arbeit hat Vorfahrt“ behauptet sogar die FDP...

Die FDP als „Partei der Arbeit“ – das hat in der Tat einen gewissen Überraschungswert. Faktisch findet sich in ihren Beschlüssen aber nicht mehr als der freie Fall der Löhne und die Ergänzung durch das sogenannte Bürgergeld. Das reicht nicht zum Leben. Ohne gesetzlichen Mindestlohn, den die FDP ausdrücklich ablehnt, läuft das Modell auf eine indirekte Subventionierung der Lohnkosten von Unternehmen hinaus, die sich natürlich weiterhin die produktivsten Arbeitskräfte aussuchen würden.

INTERVIEW: ELMAR KOK