„Die Welt hat sich nicht verbessert“

Der Bassist Charlie Haden erfand mit Ornette Coleman den Free Jazz, mit dem Liberation Music Orchestra ruft er seit den Sechzigern unregelmäßig die linke Eingreiftruppe des Jazz zusammen. Heute eröffnet er das Berliner Jazzfest

INTERVIEW MAX DAX

taz: Herr Haden, das neue Album des Music Liberation Orchestras trägt den Titel „Not In Our Name“, und es besteht aus Jazz-Instrumentals, deren Titel wie ein Abgesang auf Amerika, das Land der Freiheit, gelesen werden können. Sie versammeln Stücke wie „America The Beautiful“ und „Amazing Grace“, als verabschiedeten Sie sich von den USA.

Charlie Haden: „Amazing Grace“ ist einer meiner liebsten Songs, eines jener Lieder, die ich schon geliebt habe, als unsere Familie noch Countrymusik sang, damals in den Dreißigern, als wir eine eigene Radio-Show hatten. Meine Großeltern kamen aus einer Kleinstadt namens Eve in Missouri, die weit draußen auf dem Land lag. Es gab keine befestigten Straßen, nur Feldwege. In ihrer kleinen Dorfkirche haben die Bürger „Amazing Grace“ noch auf die alte Weise, als Countryhymne, in der Kirche gesungen. Wenn Sie solche Momente der Würde und des hoffnungsfrohen Glaubens als Kind erlebt haben, dann erinnern Sie sich gerne daran, dass es einmal ein anderes Amerika gegeben hat.

Wofür steht die berühmteste aller amerikanischen Hymnen?

Es ist eine einfache Hymne. Sie beschwört die Freiheit in diesem Land. Auf meinem Album, das nichts anderes ist als ein Memorandum für das Scheitern von Amerikas moralischem Anspruch, durfte „Amazing Grace“ nicht fehlen.

In dem Lied geht es wie folgt: „’t was grace that taught my heart to fear / And grace my fears relieved.“

Das sind wahre Zeilen von Demut und Ehrfurcht.

Ihr Album ist instrumental. Warum haben Sie die Zeilen nicht gesungen oder singen lassen?

Das ist bei einem Lied, das längst Teil des kollektiven amerikanischen Unterbewusstseins ist, nicht unbedingt nötig. Der Hörer, zumindest der amerikanische, wird die Wörter ohnehin im Geiste mithören.

Sie haben in über vier Jahrzehnten nur sehr selten mit dem Liberation Music Orchestra Alben veröffentlicht. „Not In Our Name“ ist erst das vierte Album seit 1970.

Damals war der Krieg in Vietnam in vollem Gange. Ein Volk wurde zum Opfer der US-Interessen. Das erste Album des Liberation Music Orchestras setzte sich aus Liedern aus dem Spanischen Bürgerkrieg sowie chilenischen Befreiungsliedern zusammen – sie waren so etwas wie universelle Befreiungslieder. „Dreamkeeper“ von 1990 war bereits ein Album, das unter dem Eindruck des Vaters von George W. Bush entstanden war, sich aber auch mit dem ANC in Südafrika auseinander setzte. Für mich war schließlich klar, dass ein Album, das sich 2005 mit dem Niedergang der amerikanischen Werte und der Erinnerung an ein anderes Amerika befasst, aus Songs amerikanischer Komponisten bestehen muss: Denn ich verdamme ja schließlich nicht das Land, das ich liebe.

Warum war es gerade jetzt an der Zeit, das Liberation Music Orchestra zu entmotten?

Schauen Sie sich doch an, was wir im Irak angerichtet haben. Das ist die Schuld der Bush-Administration. Und die Schuldigen kommen unbestraft davon. Fernsehen und Radiostationen berichten mit keiner Silbe über die Ungerechtigkeit. Ich kann als Künstler nur mit einem Kunstwerk reagieren. Als Musiker kann ich nur mit musikalischem Ausdruck auf das Chaos und das Leid um mich herum antworten. Das habe ich getan. Leider erweist sich dabei die an sich praktische neue Mode des Musik-Downloadens als großer Feind der Kunst: War ein Album, wie wir es kennen, bisher mit einer Plattenhülle und einem erklärenden Text auf der Rückseite oder im CD-Booklet ausgestattet, so fallen das Visuelle und alle Begleitinformationen heutzutage weg, wenn man sich für ein paar Dollar einen Song aus dem Internet herunterlädt. Das ist eine Verrohung gegenüber dem Kunstwerk.

Für Sie macht erst die Gesamtheit aus Songs, deren Abspielreihenfolge, Plattencover und Liner Notes aus einer Songsammlung ein Album?

Ganz genau. Mir ist es wichtig, dass die Leute erfahren, warum ich dieses Album aufgenommen habe. Schon „American Dreams“, erschienen 2003, behandelte die Attentate auf Amerika – und Bushs Reaktion. Bei den Wahlen 2004 hatten wir für einen Moment die Hoffnung, dass Vernunft und Gerechtigkeit trotz allem obsiegen würden gegen die Habgier, Grausamkeit und Ungerechtigkeit. Doch die Maschine gewann abermals die Wahlen. Genauso betrügerisch, wie sie schon 2000 die Wahlen gewonnen hatte. Verwüstung hat die Regierung Bush über das Land und die Welt gebracht. Aber Bush ist nicht Amerika. So ist der Titel meines neuen Albums zu verstehen: „Not In Our Name“.

Ist „Not In Our Name“ ein Statement ohne Hoffnung?

Unsere Regierung ist so korrupt wie keine Regierung zuvor in Amerika. Man kann es nicht oft genug in die Welt hinausrufen. Wir haben einen Präsidenten, der nicht in der Lage ist, einen einzigen geraden Satz zusammenzustammeln. Seine Politik wird von seinen Beratern gesteuert, die wiederum industrielle Lobbies vertreten. Was mich so endlos traurig macht, ist, dass er seinerzeit nicht rechtmäßig an die Macht gekommen ist, dass eigentlich ein anderer hätte Präsident werden müssen. Und um Ihre Frage zu beantworten: Unter solchen Bedingungen Musik zu machen, bedeutet trotzdem positiv zu denken.

Glauben Sie wirklich, dass Musik die Menschen verändern kann?

Diesen September erschien die 35. Jubiläumsausgabe der Jazz Times. Darin wählten die Autoren der Jazz Times ihre 50 liebsten Jazz-Schallplatten von 1970 bis 2005. Einer von ihnen kürte die erste Schallplatte des Liberation Music Orchestras als beste Platte der letzten 35 Jahre. In seiner Begründung schrieb er: „Die Musik dieses Albums ist der Erfindung einer besseren Welt gewidmet – ohne Kriege und Ausbeutung. Charlie Haden erklärte 1970 in den Liner Notes: Nachdem er Lieder aus dem Spanischen Bürgerkrieg der Dreißigerjahre gehört habe, versammelte er Musiker um sich, um den für den Frieden Gefallenen ein Andenken zu gewähren. Als Schlusspunkt der turbulenten Sechzigerjahre.“ Der Autor hat begriffen, worum es mir damals wie heute geht. Meine Musik ist aufbauend und melancholisch zugleich, ohne ironische Brechungen. Ist Ihnen aufgefallen, dass das Cover von damals …

quasi identisch ist mit dem Albumcover von heute? Natürlich. Sie halten ein ähnliches Transparent in die Höhe, das aussieht wie ein Erinnerungsstück einer Antikriegsdemonstration. Nur sind die Musiker älter geworden.

Es ist nicht nur ein popkulturelles Zitat: Es ist das originale Banner von damals! Carla Bley, damals wie heute meine musikalische Partnerin, hat es seinerzeit selbst genäht. Wir haben es all die Jahre aufgehoben und im letzten Sommer, als das Liberation Music Orchestra durch Europa getourt ist, in Rom wieder entrollt. Indem wir das Cover nachgestellt haben, wollten wir darauf hinweisen, dass sich die Welt nicht wirklich verbessert hat. Es werden nach wie vor Kriege geführt, aber es gibt auch nach wie vor Musiker, die sich dagegen auflehnen. Selbst wenn wir Jazzmusiker nur von einer verschwindend kleinen Minorität wahrgenommen werden.

Indem Sie Schmonzetten wie Pat Methenys „This Is Not America“ auf Ihrem Album Raum geben, verwischen Sie die Grenze zwischen Jazz und Unterhaltung, zwischen Minorität und Mehrheit.

Unterhaltung klingt so negativ. Alle Stücke auf meinem Album haben schöne Melodien. Die haben wir eingefangen. Wir baden nicht in Retrospektive. Letztlich ist es mir immer darum gegangen: die Schönheit einzufangen, die Musik innehaben kann.

Die Art, wie Sie Bass spielen, gilt als besonders lyrisch. Ein Kritiker schrieb: „Charlie Haden singt durch seinen Bass.“

In gewisser Hinsicht tue ich es ja sogar tatsächlich. Als Kind hatte ich eine schwere Krankheit, die ich fast nicht überlebt hätte. Ich konnte lange Zeit nicht mehr singen. Also habe ich begonnen Bass zu spielen. Ein einziges Mal habe ich seitdem gesungen, den Song „Wayfaring Stranger“ – in dem Lied geht es um einen Mann, der sich auf die Reise macht, über den Jordan, dorthin, wo seine Mutter und sein Vater leben, in den Himmel. Ich plane übrigens wieder zu singen: Ich möchte eine Countryplatte mit meiner Familie aufnehmen.

Als Kind haben Sie Country gesungen, in den Sechzigern erfanden Sie mit Ornette Coleman den Free Jazz, bevor Sie einerseits mit dem Quartet West gediegene Jazzmusik produzierten, um andererseits mit dem Liberation Music Orchestra umso politischer zu agitieren. Empfinden Sie Ihre Karriere als widersprüchlich?

Jedes Mal, wenn ich nach New York komme, spiele ich mit Ornette. Zuletzt spielten wir letzten Herbst zusammen in Los Angeles. Auf „Not In Our Name“ spielen wir Ornettes Komposition „Skies Of America“ – ein freies und konzeptuelles Stück. Ich habe in all den Jahren meinen Stil, also die Art, wie ich Bass spiele, wie ich mein Instrument anschlage, nicht wirklich verändert. Als ich mit Don Cherry, Billy Higgins und Ornette Coleman gespielt habe, habe ich mein Bass-Spiel lediglich in ein anderes Konzept eingebunden. Ich würde diese Musik auch heute nicht als Free Jazz bezeichnen wollen. In meinen Ohren war es einfach schöne Musik, und von mir aus war die Art, wie wir Schönheit zu Gehör gebracht haben, für damalige Verhältnisse neu. Dies ist das Wesen von Jazz: situative Improvisationsmusik zu sein, die zwangsläufig mit jedem Aufeinandertreffen von Musikern zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort entsteht und somit etwas Neues erschafft. Man gibt dem Neuen gerne einen Namen. Doch so lange die Musik von Herzen kommt, ist sie immer dem großen Fundus der Musik zuzuordnen, die ebenfalls von Herzen kam. Das ist die einzige Kategorie, die für mich zählt.