Don Carlos am Reck

Fabian Hambüchen führt ein Leben zwischen Schule und Turnhalle. Bisher hat der 18-jährige Turn-Europameister das ganz gut hinbekommen. Bei der WM in Melbourne will er das bestätigen

„Mich hat niemand zum Turnen gezwungen“, sagt Fabian Hambüchen

VON JÜRGEN ROOS

Turnen ist Handarbeit. Meistens. Fabian Hambüchen hat gerade ein Stück Schleifpapier in der Hand und bearbeitet damit die Barrenholme. Altes Magnesia abschleifen, später die blanken Stellen mit Zuckerwasser einschmieren und mit neuem Magnesia präparieren – für eine optimale Griffigkeit. Magnesia ist das weiße Pulver, das die Turner glücklich macht. Manchmal. Es staubt gewaltig. „Pass auf, Junge, dass du keine Staublunge kriegst“, sagt der Hausmeister, der gerade seinen letzten Rundgang durch das Wetzlarer Turnzentrum macht. Es ist fünf nach sieben. Der Hausmeister hat Feierabend, Fabian Hambüchen wechselt noch einmal das Turngerät. Jetzt also an den Barren. Die Felge mit halber Drehung in den Handstand lässt dem 18-Jährigen keine Ruhe. Ein superschweres Teil. Fünf Versuche. Einmal klappt es fast optimal. „Reicht! Reicht!“, ruft Wolfgang Hambüchen. Er ist der Trainer und der Vater des Jungen. In der Halle. Außerhalb ist er Vater und Trainer. „Manchmal“, sagt er, „liegt der Trainingseffekt darin, dass man sich durchgekämpft hat.“

Fabian Hambüchen hat sich heute durchgekämpft. Wieder einmal. Mehr als 300 Tage im Jahr tut er das. Bald zehn Jahre. Wahrscheinlich ist es keine Übertreibung zu sagen, dass er fast ein Viertel seines Lebens im wachen Zustand in dieser verstaubten Halle zugebracht hat. Das muss man wissen, wenn man Hambüchen in Wetzlar besucht. Man muss sich die Welt von Fabian Hambüchen vorstellen wie einen Globus. Die drei größten Kontinente darauf sind das elterliche Haus in Blasbach, die Turnhalle und die Schule in Wetzlar. Wie ein kleiner Kolumbus ist Fabian Hambüchen in den vergangenen Jahren tapfer hin und her gesegelt – immer mit dem Gedanken im Kopf, dass es da draußen noch zwei weitere Kontinente zu entdecken gibt. Bei den Olympischen Spielen 2004 hat er sie gefunden. Internationaler Erfolg und Popularität heißen sie, und Hambüchen ist gerade dabei, sie zu erkunden. Bei Olympia in Athen haben ihn zwölf Millionen Menschen im Fernsehen gesehen, im Juni ist er Europameister am Reck geworden. Es deutet viel darauf hin, dass diese neuen Kontinente aus Fabians Welt erst eine runde Sache machen.

Immer mittags um zwei holt Beate Hambüchen ihren Jungen von der Schule ab. „Und, was war los?“, fragt sie. Wie viele Mütter, die ihren Jungen alles aus der Nase ziehen wollen, was in der Schule so passiert. „In Deutsch nehmen wir bald ,Don Carlos‘ durch“, sagt Fabian Hambüchen. In der Schule will er ein ganz normaler Zwölftklässler sein, der mit den ganz normalen Klassikern gequält wird. Er ist zwar Europameister am Reck, aber das Abitur will er nicht hinterhergeworfen bekommen. Wenn Beate Hambüchen öfter mit den Lehrern telefoniert, dann geht es vor allem darum, wie verpasster Stoff nachgeholt werden kann. Hausaufgaben per E-Mail, Einzelunterricht, alles muss ausgeklügelt organisiert sein. Das Turnen fordert seinen Tribut, auch vor der am Dienstag in Melbourne beginnenden Weltmeisterschaft war Florian Hambüchen drei Wochen nicht in der Schule, sondern im Trainingslager in Japan.

Zu Hause in Blasbach, einem beschaulichen Örtchen vor Wetzlar, holt Beate Hambüchen den Auflauf aus dem Ofen. Kartoffeln, Kohlrabi, Hackfleisch. Richtige Ernährung ist wichtig. Die Mutter kümmert sich darum. Nicht zu schwer, nicht zu viel Fleisch. Eigentlich fühlt sich Beate Hambüchen für die komplette Alltagstauglichkeit ihrer beiden Männer verantwortlich. Falls die mal wieder nur Turnen im Kopf haben. Fabian Hambüchen muss jetzt eine halbe Stunde abschalten. In seinem Zimmer. Wolfgang Hambüchen sitzt derweil vor dem Laptop. Mit einer neuen Biomechanik-Software aus der Schweiz lassen sich Bewegungsabläufe studieren und bildlich-bewegt übereinander legen. Vater Hambüchen arbeitet so wissenschaftlich wie möglich. Immer auf der Suche nach der perfekten Ausführung. Die Arbeit mit Kamera und Computer hat bei den Hambüchens noch eine wichtige Funktion: Mit technischer Hilfe werden Konflikte gelöst. „Oft zeigt sich, dass der Vater Recht hat“, sagt Wolfgang Hambüchen, „häufig hat aber auch der Turner Recht.“

Der Turner. Ein kritischer Punkt ist die Vater-Sohn-Trainer-Athlet-Mixtur manchmal schon. In den Anfangsjahren musste sich Wolfgang Hambüchen – früher selbst ein ehrgeiziger Turner – oft genug vorwerfen lassen, er wolle mit seinen beiden Söhnen das verwirklichen, was er selbst nie geschafft hat. Was soll er dazu sagen? Fabian Hambüchen sagt: „Mich hat niemand zum Turnen gezwungen.“ Seit knapp zwei Jahren ist Fabians Onkel Bruno Hambüchen als Mentaltrainer tätig – der Diplompsychologe wird sich auch um solche Konflikte kümmern. Die Hambüchens. Ein perfekt funktionierender Familienbetrieb. Schrieb der Spiegel. Sie sind gewissermaßen eine autonome Zelle innerhalb des Deutschen Turner-Bundes (DTB). Sie suchen ihren eigenen Weg und ecken mit manchen Dingen beim Verband auch an. „Statt starre Trainingspläne zu verfolgen, bin ich dafür, die Gunst der Stunde zu nutzen“, sagt Wolfgang Hambüchen. Soll heißen: Ist Fabian im Training gut drauf, lässt er ihn auch mal eine Höchstschwierigkeit probieren, die gar nicht vorgesehen war. Nach oben offen sein, das ist die Philosophie in Wetzlar. Im Sommer verbrachte Fabian Hambüchen drei Wochen in Yokohama und trainierte dort mit japanischen Weltklasseleuten. Dass selbst die vor dem Training die Halle mit feuchten Lappen putzten, hinterließ Eindruck bei dem 18-Jährigen. „Seit er in Japan war, verbeugt er sich manchmal vor mir“, staunt der Vater.

Turnen hat mit Demut zu tun. Und mit Harmonie. Zeitweilig. Das Aufwärmprogramm der beiden ist ein Beleg dafür. Mal sieht es aus wie Parterreakrobatik, mal wie die Behandlung beim Physiotherapeuten. Immer ist viel Körperlichkeit dabei. Nähe, wie sie unverdächtig nur zwischen Vater und Sohn sein kann. Der Vater schwitzt am Ende genauso wie der Sohn. Und dann geht es richtig los. Mit harter Arbeit. Mit Bodenturnen. „Hau mal rein!“, sagt Wolfgang Hambüchen. Dann Pauschenpferd, Ringe, schließlich Barren. Dreieinhalb Stunden Höchstschwierigkeiten am Stück. Körperliche Schwerstarbeit. Ein paar Kraftübungen noch. „Vorsichtig, damit er nicht zu viel Masse aufbaut“, sagt der Trainer. Ins Hallenbuch eintragen, dann nichts wie raus aus der Halle. Fünf Stunden Training sind genug.

Feierabend? Nicht ganz. Zu Hause warten die Hausaufgaben. Eineinhalb Stunden etwa. Um halb elf kommt Fabian Hambüchen ins Bett. Das Ende eines 16-Stunden-Tags. Wolfgang Hambüchen bewundert seinen Sohn für die Motivation, die er Tag für Tag aufbringt. Dass es heute beim Bodenturnen einen Disput gegeben hat? Vergessen. „Der Junge geht permanent an seine Grenze“, sagt der Vater, „das muss man sehr wahrscheinlich akzeptieren.“ Sehr wahrscheinlich.