Der Partisan ganz privat

Großes Schmitteinander: Fast alle Vorurteile über Carl Schmitt stellen seine kürzlich erschienenen Tagebücher auf den Kopf. Das Deutsche Literaturarchiv lud nun zur „Editionstagung“ nach Marbach

VON STEPHAN SCHLAK

„So spricht der Staat“ – Carl Schmitt war in den Siebzigern schwer beeindruckt von der Autorität, mit der die Rote Armee Fraktion ihre Kommando-Forderungen an die Bundesrepublik stellte. Dass der konservative Staatsrechtler ausgerechnet die Terroristen mit der Staatsweihe versah, hat in den Kreisen seiner rechtschaffenen Schüler immer wieder für Staunen gesorgt. Dagegen gab der Althistoriker Christian Meier schon vor zwanzig Jahren auf der ersten großen Schmitt-Tagung in Speyer zu Protokoll: „Doch, doch, das hat ihm sogar sehr imponiert; diese Waschlappenstaaten, die da nur noch Angstschreie ausstoßen, und dann kommen die Terroristen und sagen: ‚Wir fordern: 1., 2., 3.!‘ – Das war der Staat!“ Der überschießende Verdacht liberaler Verfassungshüter, die Bürgerkinder könnten in den Untergrund abgerutscht sein, weil sie allzu viel Adorno und Marcuse gelesen haben und ihre Lektüre nun in die „Tat“ übersetzen wollten, erwies sich schon immer als haltlos und unbegründet. Auf dem Bücherbord in Stammheim stand nicht Adornos Schwermutsbändchen „Minima Moralia“, sondern Carl Schmitts „Theorie des Partisanen“.

Aber nicht nur die bundesrepublikanischen Partisanen munitionierten sich mit Schmitt – auch die letzten Konsequenzdichter zog er in seinen Bann. Rainald Goetz reicht bei dem althistorischen Doyen Hermann Bengtson im Deutschen Herbst seine Doktorarbeit über „Freunde und Feinde des Kaisers Domitian“ ein. Unter Entlehnung von Schmitts Kernformel des Politischen beschreibt Goetz die Krise und den Verfall der alten römischen Welt. (Später hat der Poeta doctus der Popliteratur diese Szene in seinem Buch „Kontrolliert“ (1988) literarisch verschlüsselt.)

Immer trug der Rekurs auf Carl Schmitt in der Bundesrepublik zur politischen und ästhetischen Verschärfung der Lage bei. Nun beleuchten die kürzlich erschienenen Tagebücher Carl Schmitt von einer bisher unbekannten Seite. Grund genug für Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs, zu einer Editionstagung nach Marbach zu laden. Am Beginn stand ein Vortrag von Christian Meier über seine „Begegnungen mit Carl Schmitt“. Christian Meier zählt wie der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde und der kürzlich verstorbene Begriffshistoriker Reinhart Koselleck, der die Tagung hätte eröffnen sollen und dessen Nachlass nun nach Marbach geht, zu jener konservativen Geisteselite, für die Carl Schmitts Wohnort Plettenberg die eigentliche geistige Hauptstadt der Bundesrepublik war.

Wer nach Plettenberg pilgerte, bekam von Carl Schmitt ein Zimmer im „Deutschen Haus“ reserviert und „Hausaufgaben“ über Nacht gestellt. Mitte der Siebziger grübelte Meier in Schmitts Auftrag eine Nacht über Martin Greens Schlüsselbiografie über die „Richthoven Sisters“ nach, die den großen sozialwissenschaftlichen Asketen Max Weber zum ersten Mal in einen sexuellen Kontext stellte. „Das hat Carl Schmitt zutiefst erschüttert,“ erinnerte sich Meier, „dass Weber mit einer fremden Frau geschlafen hat.“ (Joachim Radkau hat aus einer Mixtur von Green und Nicolaus Sombarts Schmitt-Buch „Die deutschen Männer und ihre Feinde“ im letzten Jahr seine große Max-Weber-Biografie gebraut.)

In Marbach hatte Christian Meier das Bündel von Schmitts Briefen vor sich ausgebreitet und plauderte vom ersten Initiationserlebnis in Ernst Forsthoffs Ebracher Seminar 1967 bis zu seinem späten Zerwürfnis beherzt drauf los. Kurzzeitig schien Meier bei Schmitt in Ungnade gefallen zu sein, weil er einen Aufsatz über das „Politische“ zu schreiben wagte, ohne den Meister zu zitieren. Andächtig lauschte das Publikum Meiers Geschichten; jeder Satz schien von unmittelbarem archivarischen Wert zu sein. Nur noch einmal wurde während des Marbacher Schmitteinanders eine solche Weihestimmung erzeugt: als eine Keramikschüssel aus Schmitts Besitz als Berührungsreliquie durch die Reihen gereicht wurde.

Die Marbacher Editorentagung war unter die Flagge „Partisanenpost“ gestellt. Der Partisan zeichnet sich für Schmitt durch Irregularität, gesteigerte politische Intensität und eine gewisse „tellurische“ Erdverbundenheit aus. Partisanen der Schmitt-Forschung wie der Ex-Apo-Führer Günter Maschke aus Frankfurt, die sich im Zivilistenkleid unter die Editoren mischen, aber ihre Kommentare als weltanschauliche Kassiber für die Kulturkämpfe unserer Zeit verfassen, waren in Marbach aber gar nicht erst erschienen. Kaum einer schoss mit einer politischen Frage aus dem Hinterhalt. Die aktuellen Helden der Schmitt-Forschung sind nicht die Partisanen, sondern Stenografen wie Hans Gebhardt: einer der wenigen, die Schmitts Gabelsteiner Kurzschrift überhaupt noch lesen können.

Anders als die bisherigen Aussprachen über Schmitt war die Marbacher Tagung weniger politisch als gelehrt. Erinnert wurde an die geheimen Orte einer noch nicht geschriebenen konservativen Geistesgeschichte der Bundesrepublik. In dem Vortrag von Angela Reinthal, die den Briefwechsel Schmitts mit seinem Schüler Ernst Forsthoff vorbereitet, tauchte aus dem Staigerwald Forsthoffs berühmtes Ebracher Seminar wieder auf, in dem neben allerlei Geistesgrößen wie Arnold Gehlen oder Werner Conze auch Carl Schmitt gern gesehener Gast war. Hier wurden zeitlose Klassiker wie „Sicherheit und Gefahr in der modernen Gesellschaft“ (1957) oder der „Wirklichkeitsverlust des Geistes“ (1971) verhandelt. Das Ebracher Seminar war die etwas bodenständigere Variante zu der lange von Hans Blumenberg dominierten, ästhetisch ambitionierten Forschungsinsel „Poetik und Hermeneutik“, die den „Mythos“ oder die „Säkularisierung“ neu befragte und noch heute jeden frustrierten Tagungsteilnehmer zum Schnalzen bringt – auch hier spukte der Geist Carl Schmitts.

Im Disput mit Hans Blumenberg und im Geistergespräch mit Reinhart Koselleck, hinter dessen Erstling „Kritik und Krise“ schon Jürgen Habermas 1960 im Merkur den Alten aus Plettenberg vermutete, wurde Carl Schmitt von seiner gelehrten Seite vorgestellt. Daneben trat in Marbach der ganz private Schmitt. Fast alle Vorurteile über Carl Schmitt stellen die beiden ersten, unlängst im Akademie-Verlag erschienenen Tagebuchbände aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg auf den Kopf. Carl Schmitt erscheint hier als Pazifist und hemmungslos unpolitischer Romantiker. Fast immer ist er müde und verzweifelt, ständig von Selbstmordgedanken geplagt. An dieser maladen Stimmung wird sich auch in Schmitts so wichtigen Tagebüchern aus der Schwellenzeit (1930–1934) wenig ändern, die der Konstanzer Althistoriker Wolfgang Schuller zur Edition vorbereitet und in Auszügen schon einmal vorstellte. Auch hier geistern wieder diverse Geliebte durch den Text; auch geht Schmitt zu den Huren am Kurfürstendamm – „und nicht zu knapp“. Dagegen taucht der Nationalsozialismus bis 1933 kaum in den Tagebüchern auf, was einmal mehr die These der neueren historischen Forschung bestätigt, dass Schmitt als Schleicher-Mann bis 1933 Weimar vor seinen Staatsfeinden zu retten versuchte.

Umso rätselhafter wird dadurch aber wieder sein schnelles Umschwenken nach der Machtergreifung. Schon wenige Wochen später stimmt er begeistert das Horst-Wessel-Lied an und schreibt für den Völkischen Beobachter. Auch wimmelt es in seinen Tagebüchern nun nur so von Ausfällen gegen die „ekligen Juden“. Hatte der ewige romantische Spieler Carl Schmitt vielleicht doch nicht nur für einen kurzen Moment die „Schreibtischexistenz“ satt – sondern war seine Entscheidung für den Nationalsozialismus eine ganz bewusste Entscheidung für den antisemitischen Staat?

Nach dem Krieg hat der gestürzte Kronjurist sich mit einem Gespinst von Legenden umgeben. Plettenberg gab er als Exilort florentinischen Ausmaßes aus – an seine Hauswand nagelte er eine Holzplanke mit der Aufschrift „San Casciano“. Und auch seine eigene Geschichte frisierte er nun nach Belieben. „Nun ist alles vorbei“, habe er gestöhnt, als er am Tag der Machtergreifung mit zwei Majoren den Fackelzug der Nationalsozialisten beobachtete. So erzählte es Carl Schmitt seinem Adoranten Christian Meier Ende der Sechziger auf dem Bahnsteig in Würzburg. Die Edition der Tagebücher trägt nun zur Aufklärung der Legenden bei. Am 30. Januar 1933 lag Carl Schmitt krank im Bett.