Herbert Schmalstieg – fast ein Nachruf

Seine Aussprache ist feucht, die Rede holprig und weitgehend frei von intellektuellem Marschgepäck. Und er hat Hannover ohne Unterbrechung 35 Jahre lang regiert, wenn er im Herbst abtritt: Den Titel des dienstältesten Oberbürgermeisters der Welt kann dem Sozialdemokraten Herbert Schmalstieg keiner mehr nehmen. Aber welche Qualitäten haben zu diesem Rekord beigetragen?

Es ist zum Gutteil Herbies Verdienst, wenn 88 Prozent der Hannoveraner erklären, es ließe sich in der Stadt sehr gut leben.Allerdings: Wer das bestreitet,hat auch nichts zu lachen

aus HannoverMICHAEL QUASTHOFF

Meine erste Begegnung mit Herbert Schmalstieg hatte ich auf dem 100. Geburtstag von Louise W. Ich war Volontär der Neuen Presse und Herbert Schmalstieg seit zehn Jahren Oberbürgermeister von Hannover. Der Gratulationstermin stand um 11.30 Uhr an.

Für diese frühe Stunde hatte die Verwandtschaft schon reichlich getankt, entsprechend groß war das Hallo, als das Stadtoberhaupt eintraf. „Sektchen?“, „Pils?“, „Schnittchen?“ wurde ihm entgegengebellt. Doch der OB, wie immer unter Termindruck, wollte die Jubilarin sehen. „Ach, die Omma.“ Ja, die Omma hatte man ganz vergessen. Der Fotograf fand die Greisin schließlich, bleich und zerbrechlich wie ein verschrumpeltes Kind, in einer Sofaecke. Sie schlief oder war längst gestorben, so genau war das nicht festzustellen. „Das wird nix“, sagte der Fotograf. Schmalstieg sah auf die Uhr, seufzte, musterte die Omma, seufzte noch mal. Dann hockte er sich auf die Lehne, zerrte die Leblose resolut in seine Armbeuge und griente in die Kamera. Die Redakteurin, die das Foto einpassen sollte, murmelte nur „Leichenschändung“ und warf das Bild in den Müll.

Ich habe den Abzug damals aus dem Papierkorb geklaubt und halte ihn in Ehren. Denn er dokumentiert zweierlei: zum einen Schmalstiegs unbezwingbaren Drang, seinen spärlichen Haarkranz täglich im Lokalteil zu bewundern, zum anderen ein mittleres Wunder: Denn die oft hochpeinliche Narretei war der Beliebtheit des Amtsträgers keineswegs abträglich. Im Gegenteil. Wenn in der AWD-Arena Costa Rica auf Polen trifft, wird der Sozialdemokrat die „Expo-, Messe- und WM-Stadt“ 35 Jahre lang regiert und den Titel „Dienstältester OB der Welt“ auf ewig im Sack haben.

Im Laufe der Dekaden lernte ich auch, warum. Schmalstieg besitzt die Fähigkeit, Menschen das Gefühl zu vermitteln, er nehme sie ernst. Ob er das wirklich tut, ist eine andere Frage. Ich kann sie nicht beantworten, habe aber erlebt, wie der OB Firmen-jubiläen, Ausstellungen, Trauerfälle, sportliche Auf- und Abstiege, mithin den ganzen offiziösen Klimbim des Lebens, mit sonorer Emphase wegsegnete und doch nie jene Distanz verlor, die dem Amt erst Würde schenkt. Er ist weder Kumpel, noch Volkstribun. Geschweige denn Charismatiker. Seine Aussprache ist feucht, die Rede holprig und weitgehend frei von intellektuellem Marschgepäck. Doch in Hannover, der „sauberfeinen, wenn auch nüchternen Kleinstadt, voll bürgerlicher Tüchtigkeit“ (Theodor Lessing) kommt so etwas an.

Wie das Gemeinwesen, das er regiert, wird der joggende Leptosom gern unterschätzt. Als man ihn 1972 ins Amt wählte, war die Stadtführung noch zweigeteilt. Der Oberstadtdirektor lenkte die Verwaltung, der ehrenamtliche OB gab den Grüß-August. Dabei hat es der Ex-Sparkassenwerbeleiter stets verstanden, über diverse Parteiämter und ein Landtagsmandat die entscheidenden Strippen zu ziehen.

Weil es egal war, wer unter ihm die Stadt verwaltete, pries er die Doppelspitze als „Ultima Ratio“ der Kommunalpolitik. Das vergaß der Grüß-August aber sofort, als Ministerpräsident Gerhard Schröder 1996 ihre Abschaffung durchpeitschte, um mit einer Verwaltungsreform zu prunken. Nun warb Schmalstieg im Landtag sogar für ein Vorschaltgesetz, das die Wiederwahl amtierender Gemeindedirektoren verhindern sollte. Der Grund hieß Jobst Fiedler, ebenfalls Sozi, Oberstadtdirektor in Hannover, und von so gockelhafter Smartness, dass er viel zu laut mit den Hufen scharrte. Duzfreund Gerd spendierte Schmalstieg die Vorschaltbarriere, der Weg war frei für Super-OB „Herbie“, wie ihn nun alle nannten. Konkurrenz aus dem gegnerischen Lager hatte er nie zu fürchten. Die lokale CDU war und ist ein Häuflein mediokrer Brummköpfe und nicht halb so gefährlich wie die „Lüttje Lage“, ein Gemisch aus Weizenbier und Korn, welches sich Teetrinker Herbie alljährlich auf dem größten Schützenfest der Welt hinter die Binde kippt. Die Grünen sagen Prost und Amen, man regiert ja mit.

So viel zum Machtmenschen Schmalstieg. Aber er hat auch Grundsätze. Sie heißen Toleranz, Geschichtsbewusstsein und Solidarität. Der OB initiierte die Partnerschaft mit Hiroshima, schuf eine „Woche der Brüderlichkeit“, er etablierte die „Hanna-Arendt-Tage“ und meditiert auf lutherischen Kanzeln regelmäßig über christlich-abendländische „humanitas“. Im Gegensatz zu Politikastern neuerer Prägung steht Herbie auch dafür ein. Geht es gegen Rassismus, Diskriminierung von Minderheiten, Sozialabbau oder neoliberales Gedöns wie die Privatisierung von Stadtwerken und kommunalen Wohnungen, wirft er sein Gewicht, und, wenn’s passt, auch ein Machtwort in die Waagschale.“ Und so ist es zum Gutteil Herbies Verdienst, wenn 88 Prozent der Hannoveraner erklären, es ließe sich in der Landeshauptstadt sehr gut leben.

Wer das bestreitet, hat auch nichts zu lachen. Wibke Bruns, die erste Sprecherin der Expo 2000, machte einmal die unprofessionelle, aber nicht gänzlich abwegige Anmerkung, Hannover sei ungefähr so langweilig wie Heilbronn. Im Stile eines waidwunden Duodezfürsten ließ Schmalstieg die Ketzerin, eskortiert von der Lokalpresse, auf dem rotem „Kulturpfad“ vom Rathaus bis in die Herrenhäuser Barockgärten schleifen, zum Beweis, dass „seine“ Weltausstellung ein Gemeinwesen auf Weltniveau krönt. Die Mitbürger dankten es ihm im gleichen Jahr mit der fulminanten Wiederwahl. Herbie, schrieb der Rheinische Merkur, gehört eben „zu Hannover wie der Leibniz-Keks“. Aber auch der bröckelt nach 30 Jahren. Seit der letzten Wahlschlacht flaniert der OB zwar mit frisch polierter Platte, Armani-Anzug, Designerbrille und neuer Frau über die Georgstraße, doch irgendwie ist alles nicht mehr so schön wie früher. Hartz I–IV, leere Kassen, der schwarze Wulff, brotdumme Kampagnen der Marketing-Gesellschaft und dreiste Investoren, die Hannovers City mit monströsen Einkaufsquadern verschandeln, machen ihm das Leben sauer.

Herbie wirkt zunehmend fahrig und entwickelt im Rathaus Umgangsformen, die ihm den Spitznamen „Stalin“ eintrugen. Immerhin wird man ihn nicht aus dem Amt tragen müssen. Zur Kommunalwahl im Herbst tritt Schmalstieg nicht mehr an. Ich werde ihn vermissen.