Wieder kapituliert eine perspektivlose Schule

Null Prozent Zuwanderer, kein Ghetto, kein Brennpunkt – in Gardelegen, Sachsen-Anhalt, hisst das Kollegium einer Schule die weiße Fahne: wegen Bedrohungen durch Schüler

Schulleiter Radtke: „Inzwischen können wir auch mit unseren Ordnungsmaßnahmen nichts mehr erreichen“

„Besonders schwerwiegend sind die verbalen Beleidigungen und Bedrohungen der Lehrkräfte.“ So steht es in einem Brief, den Lehrer verfasst haben. Aber es sind nicht die inzwischen berühmten Rütli-Lehrer aus Berlin-Neukölln, die SOS funken. Das Papier stammt von den Lehrkräften der Sekundarschule Karl Marx in Gardelegen, Sachsen-Anhalt. Auch die Lehrer dort wissen nicht mehr weiter – und es gibt so gut wie keine Zuwanderer an der Schule. Dort regiert die ganz normale Hoffnungslosigkeit einer Kleinstadt mit 20 Prozent Arbeitslosigkeit.

Anfang März war ein Viertel der 46 KollegInnen an der Sekundarschule, das ist die sachsen-anhaltinische Mischform aus Haupt- und Realschule, krank. 400 Schulstunden mussten binnen zwei Wochen vertreten werden, da zerriss das Nervenkostüm der LehrerInnen.

Die erleben seit einem Jahr ein wachsendes Gefühl von Ohnmacht, als ihre kleine, überschaubare Karl-Marx-Schule zu einer Institution mit 530 Schülern wurde. Alle Gardelegener Sekundarschulen wurden wegen notorischen Schülermangels zusammengelegt, nur das völlig heruntergekommene Gebäude der Karl-Marx-Schule im nördlichen Gewerbegebiet war groß genug für diese Zahl an Schülern. Von der Fusion hat sich die Atmosphäre an der Schule bislang nicht erholt. Die Schüler verkraften es nicht, die Lehrer ebenso wenig.

„Es gibt hier einen allgemeinen Werteverfall“, klagt Rektor Horst-Dieter Radtke. Die Lehrer, die viele ihrer Schüler nicht kennen, berichten, dass sie auf dem Schulhof angepöbelt würden. „Es hat mit Kleinigkeiten begonnen, inzwischen können wir auch mit unseren Ordnungsmaßnahmen nichts mehr erreichen“, sagt der Rektor. „Meist sind es Schüler, die schon über längere Zeit auffällig sind beziehungsweise straffällig geworden sind.“

An der Schule ist vieles ähnlich wie an der Rütli-Schule und der anderen Berliner Hauptschule, an der das Kollegium seinen pädagogischen Offenbarungseid geleistet hat. Als die Medienleute gestern auf dem Gelände der Sekundarschule Karl Marx aufkreuzten, tickten die Kids erst richtig aus. Es gab viel Aufregung, der Feuermelder wurde in Betrieb gesetzt. Nur eins ist ganz anders – es lernen dort nicht 80 Prozent Zuwandererkids, sondern keine.

Die Schule hat versucht, dem atmosphärischen Verfall entgegenzuwirken. Es gab Vereinbarungen mit den Behörden, ein Schulprogramm wurde verabschiedet. Das allerdings mit dem Motto, dass Schüler, Eltern und Lehrer zusammen leben, lernen und lachen sollten, ein wenig harmlos ausgefallen ist für die deprimierende Situation in Gardelegen. Schulleiter Radtke wünscht sich am liebsten sofort eine neue Schule, „denn unsere ist mit die schlimmste, die ich kenne: Aus dem Werkraum können Sie ein Museum machen.“

Das regionale Verwaltungsamt bezeichnet die Situation an der Karl Marx als Einzelfall. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft spricht von der Spitze des Eisbergs – und fordert Sofortmaßnahmen. Kultusminister Jan-Hendrik Olbertz sagte, er wolle keine voreiligen Schlüsse ziehen und zunächst die Schule besuchen – „in einer ruhigen Atmosphäre“. Möglicherweise, so Olbertz zur taz, sei bei der Fusion der Sekundarschulen etwas schief gelaufen. „Für Repressionen bin ich aber nicht zu haben“, betonte Olbertz.

Das bezog sich auf Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber. Der hatte gefordert, delinquente, nicht Deutsch sprechende Zuwandererkinder aus dem Land zu werfen. Gestern schwieg Stoiber. Kein Wunder: Wohin soll man ostdeutsche Sekundarschüler auch ausweisen?

CHRISTIAN FÜLLER