Der Trend zum Tango

Vom Club in die Pampa: Das Gotan Project hat den Electro-Tango erfunden und damit nicht nur die Tango-Szene umgekrempelt. Mit seinem zweiten Album, „Lunatico“, ist es der Konkurrenz wieder eine Nasenspitze voraus

VON DANIEL BAX

Der Münzsalon in Berlin-Mitte ist ein „Members only“-Club nach englischem Vorbild. Neben Rauchersesseln aus Leder gibt es im weitläufigen Kaminzimmer tatsächlich einen echten Kamin, der an diesem Morgen allerdings kalt bleibt. Genau das richtige Ambiente also, um sich mit den drei gediegenen Herren vom Gotan Project zu treffen. Sie haben vorgemacht, wie sich in der Welt der elektronischen Musik in Würde altern lässt.

Das Gotan Project aus Paris zählt zu den erfolgreichsten DJ-Teams der letzten Jahre. Der Name ist aus einem Anagramm von Tango gebildet, womit das Konzept auch schon fast umrissen ist: die Fusion von Tango und argentinischer Folklore mit den Möglichkeiten der elektronischen Musik. Vor acht Jahren begann alles ganz unspektakulär: Der Pariser DJ Philippe Cohen-Solal und sein Kompagnon Christoph Müller aus der Schweiz hatten sich mit dem argentinischen Gitarristen Eduardo Makaroff zusammengetan, um einen Track aufzunehmen, der auf dem Tango-Stück „Vuelvo El Sur“ von Astor Piazolla beruhte: Es war der Titelsong des Films „Al Sur“. Da sich für ihre Aufnahme keine Plattenfirma fand, gründete Philippe Cohen-Solal kurzerhand selbst sein Label „Ya basta!“, und ihre ersten Vinyl-Maxis trugen sie noch eigenhändig in die Geschäfte. Aus den ersten Gotan-Tracks, die von Trendsettern wie dem Londoner Radio-DJ Gilles Peterson in dessen Sendung gefeiert wurden, erwuchs Schritt für Schritt das erste Gotan-Album, „La Revancha Del Tango“, das sich bis heute mehr als eine Million Mal verkauft hat. Es war schwierig, dessen getragenen Bandoneon-Dub-Klängen in den letzten Jahren zu entkommen: Man begegnete ihnen in Cocktailbars, Cafés und Boutiquen, in Werbespots und in vielen Filmen, darunter „Ocean Twelve“ und „Shall We Dance“ mit Richard Gere und Jennifer Lopez. Selbst Philippe Cohen-Solal war verblüfft, wo ihm die eigenen Songs auf Schritt und Tritt begegneten: „Ich war für eine Woche in Urlaub auf den Malediven. Auf der Insel gab es nur 30 Bungalows und eine Bar, und da lief unser Album. Da dachte ich mir: Fuck! Ich kann nicht flüchten!“

Vielleicht war das auch ein Grund, warum man sich fünf Jahre Zeit gelassen hat, mit „Lunatico“ einen Nachfolger zu produzieren. „Auf dem Papier sieht das wie eine sehr lange Zeit aus“, verteidigt sich Christoph Müller. In Wirklichkeit sei man zwei Jahre lang, bis Ende 2003, auf Welttournee gewesen, habe dazwischen an Remixes und Filmmusiken und seit 2004 an dem neuen Album gearbeitet.

Man muss sich die Macher des Gotan Project aber auch als äußerst zurückgelehnte Zeitgenossen vorstellen: ein wenig wie die Figuren aus der Jack- Daniels-Destillerie, wenn man der Werbung glaubt, nur eben viel eleganter. Zu ihrem Arbeitsethos gehört, die Dinge langsam angehen und sich viel Zeit damit zu lassen. „Es gibt so viele Alben da draußen – da muss man nichts überstürzen“, findet Philippe Cohen-Solal. „Niemand braucht ein weiteres mittelmäßiges Album. Das gilt besonders für die elektronische Musik, die sich zum Teil zu einer Art akustischer Umweltverschmutzung entwickelt hat.“

Cohen-Solal kann sich seinen Snobismus leisten: Er ist sein eigener Chef, eine große Plattenfirma würde ihm diesen Luxus kaum einräumen. Dass er keine Kompromisse schließen muss, ist für ihn aber auch eine Frage des Prinzips: „Wenn die Leute ein Buch oder eine Platte kaufen, dann wollen sie doch an der künstlerischen Freiheit des Autors teilhaben. Deswegen ist es wichtig, sich diese zu erhalten.“

Es gibt viele Gründe, warum die Musik des Gotan Project nur in einer Stadt wie Paris entstehen konnte: „Paris ist die zweite Hauptstadt des Tangos“, sagt Eduardo Makaroff, der vor sechzehn Jahren aus Buenos Aires nach Paris zog und dort einen Tango-Club eröffnete. „Ich habe hier mit einigen der besten Sänger und Musiker des Genres zusammengearbeitet.“ Gleichzeitig lastet der Druck der Tradition im Ausland nicht so stark auf den Schultern der Künstler, wie dies im Mutterland des Tangos der Fall wäre: Schon Astor Piazolla zettelte seine Revolution des Tangos deshalb einst in Paris und den USA an. Und schließlich verfügt Paris über eine offene Musikszene, in der das stilistische Crossover Tradition hat. „Paris mag die zweite Hauptstadt des Tangos sein“, sagt Philippe Cohen-Solal. „Aber es ist auch die erste Hauptstadt der Weltmusik. Bei uns ist es üblich, abends im Club auf einen Jazzmusiker zu treffen, der gerade mit einem afrikanischen, brasilianischen, arabischen oder kubanischen Musiker auf der Bühne jammt.“

Zu Buenos Aires, der ersten Hauptstadt des Tangos, pflegen die Gotan-Mitglieder eine eher romantische Fernbeziehung – bis auf Eduardo Makaroff natürlich, der dort einst Tangoshows für Radio und Fernsehen organisierte. Mit ihm war Philippe Cohen-Solal vor sechs Jahren das erste Mal in Buenos Aires, um die eigene Musik einmal vor Ort zu testen. „Das Erste, was ich gemacht habe, als ich in meinem Hotel in Buenos Aires ankam, war, einen der Tracks auf meiner Stereoanlage zu spielen und dazu die Fenster zu öffnen. Um zu sehen, wie sich die Musik mit der Atmosphäre der Stadt verträgt“, gesteht Philippe Cohen-Solal.

Schnell stellten die beiden fest, dass viele in Buenos Aires schon von den ersten Gotan-Tacks gehört hatten. Doch welche Wellen sie damit in Argentinien schlagen würden, ahnte damals noch keiner. Denn das Gotan Project legte nicht nur die Blaupause für ein ganzes Genre vor, das auf den Namen Electro-Tango hört, sondern rüttelte auch die etablierte Tangoszene auf. „Wir waren der Funke, der einen Flächenbrand ausgelöst hat“, freut sich Philippe Cohen-Solal. „Natürlich gibt es immer ein paar Fundamentalisten“, ergänzt Eduardo Makaroff. „Aber die Reaktion aus dem Tangomilieu war überwiegend positiv.“ Und Christoph Müller sekundiert: „Wer die Reinheit des Tangos verteidigt, der hat eine etwas verzerrte Sicht auf das Genre. Denn der Tango ist selbst eine Fusion, die aus diversen Einflüssen entstanden ist.“

Tatsächlich ist der Tango einst in den Bars und Spelunken von Buenos Aires als Promenadenmischung aus kubanischen Tänzen, italienischen Opern-Arien, französischer Varietémusik und osteuropäischer Folklore hervorgegangen. Von seinen vielen Vätern und Müttern zeugt auch das Bandoneon, die „rheinländische Quetsche“, die einst von dem Musikalienhändler Heinrich Band in Krefeld entwickelt und mit denen in Arbeitervereinen zum Tanz aufgespielt wurde, bevor das Instrument am Río de La Plata ein neues Leben begann. Salonfähig wurde der Tango allerdings erst, als er um 1910 in Paris zur neuen Mode ausgerufen wurde: Erst da schloss auch die Oberschicht in Argentinien ihren Frieden mit diesem obszönen Tanz der Unterschichten und erklärte ihn bald darauf zum Nationalgut.

In gewisser Weise hat sich mit dem Gotan Project die Geschichte wiederholt. Zu ihrem Erfolg in Argentinien mag beigetragen haben, dass „La Revancha Del Tango“ streckenweise wie ein Kommentar zur Wirtschaftskrise klang, die das Land im Jahr 2001 beinahe in den Abgrund riss. „Mit diesem Album haben wir, ohne es zu wissen, quasi den Soundtrack zu den späteren Ereignissen geschrieben“, glaubt Christoph Müller. Auf dem Stück „El Capitalismo foráneo“ etwa ist Eva Perón zu hören, die vom ausländischen Kapital spricht, „und dieses ausländische Kapital hätte Argentinien fast zerstört“, meint Christoph Müller.

Ihr Erfolg hat natürlich viele Nachahmer auf den Plan gerufen. Aber nur wenige können vor dem kritischen Blick der Gotan-Macher bestehen: „Es ist so einfach, einen Danceloop aufzunehmen und einen Tangomusiker zu bitten, mit seinem Bandoneon etwas darüber zu spielen“, übt Eduardo Makaroff Kritik an den „Cut and Paste“-Collagen der Konkurrenz. Und Philippe Cohen-Solal meint: „Es ist einfacher, die Klischees des Tangos zu vermeiden als die der elektronischen Musik.“ Doch für ihn steht fest: „Die Zeit des Recyclings ist vorbei.“

Auf diesem Prinzip aber beruht ein großer Teil von Hiphop und Dance Music. So hat das Gotan Project nicht nur der Tangoszene einen Schub gegeben, sondern auch der elektronischen Musik neue Wege aufgezeigt. Für sein neues Album, „Lunatico“, hat es sich noch weiter von seinen elektronischen Anfängen entfernt.

Am Anfang stand ein Tangoquartett, das die benötigten Sample-Versatzstücke einspielte. Daraus wurden am Computer neue Tracks gebastelt, die dann wieder von den beteiligten Musikern wie dem Pianisten Gustavo Beytelmann, einem 15-köpfigen Streichorchester in Buenos Aires oder den argentinischen Rap-Duo Koxmox interpretiert wurden. Man muss sich diesen Prozess als mehrstufiges Verfahren vorstellen, in dem unterschiedliche Lagen übereinander geschichtet werden, um daraus eine Essenz zu destillieren.

Für den beachtlichen Aufwand, der betrieben wurde, klingt das Ergebnis erstaunlich minimalistisch und subtil, ist meist mehr Song als Track. Es ist eine akustische Hörreise, die vom Club in die Pampa führt, Argentiniens sprichwörtliche Steppe, und die urbane Unruhe am Plaza del Mayo genauso streift wie die aufgekratzte Erregtheit eines Renntags im Hippodrom von Buenos Aires. Am Wegrand begegnen einem alte Bekannte wie die Wüstenrockband Calexiko oder Ry Cooders Titelmelodie zu „Paris Texas“, mit der das cinephile Gotan Project an bessere Zeiten von Wim Wenders erinnert. Neue Horizonte sind also in Sicht.

„Lunatico“, wie das neue Album heißt, war übrigens der Name des Rennpferds der argentinischen Tango-Legende Carlos Gardel. Und wie der Namensgeber ist auch das Gotan Project mit diesem Album seiner Konkurrenz wieder eine Nasenspitze voraus.