Zeit zum Abrocken

Mit anderen Möbeln im Café beginnt Direktorin Chus Martinez die Neukonzeption des Frankfurter Kunstvereins. Kunst soll Spaß machen, aber nicht nur – wie die Ausstellung von Esra Ersen zeigt

VON HORTENSE PISANO

„Kunst schafft meiner Meinung nach einen sehr notwendigen Raum, um unsere Gesellschaft bewusster wahrzunehmen – freier zu denken.“ Chus Martinez leitete den Ausstellungsraum „Sala Rekalde“ in Bilbao, als sie ihr erstes Interview zu ihrem Wechsel zum Kunstverein Frankfurt gab – damals noch im virtuellen Begegnungsraum des Internet. Inhalte über ihr Programm in Frankfurt, wohin sie im Januar 2006 wechselte, waren ihr kaum zu entlocken. So blieb es vage, wie die „kleinen Aufstände“ aussehen sollten, anhand deren die junge Kuratorin, die 1972 in dem galizischen Ort Ponteceso geboren wurde, das Haus an die „Kontexte einer kulturellen Gegenwart“ heranführen wollte. Ihre Zurückhaltung hat nun ein Ende.

Am Tag der Neueröffnung stand die Direktorin des Frankfurter Kunstvereins an der Spitze einer langen Tafel und erteilte präzise Auskunft: Parallel zu einer vierteiligen Ausstellung, die am 4. April startete, sind Workshops, erstmals ein Kunstvereins-Archiv, ein internationaler Think-Tank und ein Residency-Programm geplant. Das Projekt „10 Gründe Mitglied zu werden“ scheint Besucher gleich am Eingang über die Möglichkeit der aktiven Mitgestaltung aufmerksam machen zu wollen. Als Vorreiter konnte Martinez zehn Freunde, Kollegen und Künstler gewinnen, diese 10 Gründe zu formulieren. Plakatartig kleben die ersten Beiträge an der Wand: „Für eine Revolution, die nicht nur bloßer Schein sein wird“, schrieb der spanischen Künstler Juan Pérez Agirregoikoa.

Wenn man Revolution als Umsturz versteht, so ist der Kunstvereins-Neustart keine. Offenbar wusste Martinez, dass schon geringe Veränderungen „kleine Aufstände“ heraufbeschwören. Gemeint ist die Neugestaltung des Cafés im Foyer. Bis vor kurzem prägte modernes Design den Raum. In die wenigen Sesseln versank man aber in einen intimen Schlummermodus, weshalb sie schlichten Bänken und einem zweiteiligen Tischsystem gewichen sind. Martinez über ihr Projekt: „Wir wollten eine neue Bar, hatten kein Budget und suchten daher nach günstigen Wegen“, Gorka Eizagirre (geboren 1971) und Xavier Salaberria (geboren 1969) fanden die Lösung. Sie entwarfen ein für das Café und für geplante Kunstprojekte zweckdienliches Design. Die spanischen Künstler zimmerten ihr Möbel aus Sperrholz. Glühbirnen aus dem Baumarkt hängen von der Decke und eine psychedelische Op-Art-Tapete kontrastiert mit dem Kreuzgewölbe in den Nischen.

Im Gegensatz zum Umbau des Cafés klingt die Ausstellung mit ihrem im Kunstbetrieb zentralen Thema Migration nach einer Fortführung des Programms von Nicolaus Schafhausen. Wer vorab vermutete, eine Künstlerin könne das ganze Haus nicht abwechslungsreich bespielen, den überrascht Esra Ersens erste Werkschau. Türkische Straßenkinder bis Migranten in Schweden kommen in ihren Videos zu Wort. Sucht man nach einer Schnittmenge, so handelt es sich um den Status von Minderheiten, den Ersen in fünf Staaten untersucht hat. „Wie ist die Liebe in einer anderen Kultur?“ Eine gute Frage sicherlich, die eine junge Türkin mit Mühe hervorbringt, als sie sie an ihre schwedische Sprachlehrerin richtet – von Frau zu Frau. Irgendwann, wenn sie die Sprache beherrscht, möchte die Schülerin dies herausfinden. Fragen, auf die es also keine schnellen Antworten gibt, wirft Ersens Video „If you could speak Swedish“ (2001) auf und benennt die Sprache als Brücke zwischen der eigenen und fremden Kultur. Aber ist Sprachfertigkeit identisch mit einer gelungenen Integration? Nie wirklich in der Gesellschaft ankommen, so prognostiziert man, werden die Straßenkinder in Ersens Heimatstadt Istanbul. Ihr 2004 gedrehtes Video „This is Disney World“ entdeckt die andere Seite der westlich orientierten Stadt Istanbul – Randgruppen ohne soziale Absicherung.

Weniger existenziell gewichtig ist die Arbeit „Which one you choose“ – Ersen befragte 2003 junge Japanerinnen, ob sie sich als „cool“ oder „sweet“ Girl sehen, beides Typisierungen aus japanischen Frauenmagazinen. Humorvoll entlarvt Ersens Video die traditionell niedlich besetzte Frauenrolle, die sich fern von der Power einer Manga-Heldin bewegt. Dieser Blick von außen nach innen, der selbst in intime Kreise wie ein Hamam-Bad führt oder Schulkinder in Linz mit der Erfahrung einer türkischen Schultracht vertraut macht, hebt Ersens Arbeit erfrischend von sozialen Studien ab.

Auch Kuratorin Martinez liegt viel daran, den Blick von außen nach innen zu wenden. Statt nur Vorproduziertes auszustellen will sie vor Ort produzieren lassen. Daher wurde im oberen Stockwerk jüngst ein Residency-Raum eingerichtet. Gemäß Martinez’ Konzept der „künstlerischen Ökonomien“ wird der erste Gaststipendiat Francesc Ruíz (*1971) sein Wohn- und Arbeitsatelier selber entwerfen. Künstler müssen auch in ökonomisch schwierigen Zeiten flexibel sein. Martinez sagt also richtig, man könne von künstlerischer Praxis viel lernen – solange die Zweckfreiheit ihrer Ideen eben gewährleistet ist. Einen großen Wissensschatz stellt ab Juni Martha Roslers gesammelte Kunstbibliothek in Aussicht, die ebenfalls im oberen Stockwerk des Kunstvereins Platz findet. Der Think-Tank wie auch das Recidency-Programm sollen nach Martinez den Frankfurter Kunstverein zum Labor umformen. Eine intensive Forschung in Sachen Gegenwartskunst kann dem rasant schnellen Ausstellungsbetrieb in Frankfurt nur gut tun.