Hier kocht der Radiomacher noch selbst

Vier Radiojournalisten produzieren jede Woche in ihrer Wohnung eine Radioshow nach Hausmacherart. Regeln gibt es keine, die Gäste sind skurril, und aufgezeichnet wird alles. Das Ganze ist am nächsten Tag im Internet nachzuhören. Jetzt ist „Küchenradio.org“ für den Grimme Online Award nominiert

von Nina Apin

„So, jetzt mal alle hinsetzen hier!“ Andreas Baum scheucht seinen Gast und seine beiden Mitstreiter energisch in die Mitte seines geräumigen Altbauwohnzimmers in Prenzlauer Berg. Auf einem quadratischen Holztisch steht schon alles bereit, was man für eine hausgemachte Radiosendung braucht: Mischpult, mp3-Player, vier Mikrofone – und ein kaltes Bier für jeden. Als endlich alle sitzen, setzt Aufnahmeleiter Philip Banse den Kopfhörer auf und drückt auf „record“.

„Hallo und herzlich willkommen zu Küchenradio.“ Andreas Baum hat eine angenehme Stimme, die auch gut ins öffentlich-rechtliche Radio passen würde. Doch was der 33-jährige Philip Banse mit seinem mp3-Player aufnimmt und später ungeschnitten ins Internet stellt, widerspricht allen Hörfunkkonventionen. Die Waschmaschine läuft im Hintergrund weiter, alle reden wild durcheinander und dabei selten ins Mikrofon. Cindy, die im wirklichen Leben Gerd Brendel heißt, klingt etwas blechern, weil ihr Mikro in einer Zinnvase steckt: „Stativ vergessen, Entschuldigung.“

Der Gast des Abends zappelt ungeduldig auf seinem Stuhl. Doch in Andreas Baums Wohnzimmer herrschen andere Prioritäten als im Sendestudio: Erst einmal wird ausgiebig der Mexiko-Urlaub des abwesenden Küchenradio-Mitglieds Katja Bigalke diskutiert, so viel Zeit muss sein. Dann darf der Gast, der selbst ernannte Kornkreisexperte Bernoully, endlich von seiner Begegnung mit einem echten Außerirdischen und anderen übernatürlichen Phänomenen erzählen. Eigentlich ist der Mann Grafiker.

Einen roten Faden gibt es bei „Küchenradio“ nicht: 40 Minuten lang plaudern „Doc Phil“, „Onkel Andi“ und „Cindy“ zwanglos mit ihrem Gast über Kornkreise in Form des Arbeitsamtslogos, die Körpertemperatur von Außerirdischen und die Existenz höherer Wesen. Während des Gesprächs wird geraucht, in Kornkreiskalendern geblättert, und mittendrin überrascht Cindy mit dem Geständnis, als „Mandy“ für den BND zu spionieren.

Ganz schön wirr für eine Radiosendung – nicht aber für ein Podcast, dessen Stammhörer auf Skurriles abonniert sind: Etwa 2.000 Küchenradio-Fans warten Woche für Woche darauf, die aktuelle Folge automatisch auf ihren mp3-Player zu bekommen. Wer keine intelligente Software hat, die nach aktualisierten Dateien sucht, muss selbst auf www.kuechenradio.org nachsehen, ob die neue Datei schon zum Download bereit steht.

Vor dem Kornkreisexperten waren eine Domina, ein Mann mit Schlafstörungen und eine Ostpunkband zu Gast am Wohnzimmertisch. Die Radiomacher machen aber auch Ausflüge in die Berliner Realität: Sie besuchten eine muslimische Akademie, das Neuköllner Quartiersmanagement und einen Spätkauf.

Mit dem Küchenradio – das streng genommen eigentlich Wohnzimmerradio heißen müsste – gönnen sich Andreas Baum, Katja Bigalke, Philip Banse und Gerd Brendel Urlaub von ihrem normalen Berufsalltag als Journalisten beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. „Einmal die Woche können wir Radio machen, wie wir es sonst nicht dürfen“, sagt der 38-jährige Andreas Baum. „Wir formatieren nicht, sondern senden eine Stunde Wirklichkeit, mit Versprechern, Stammlern und Gästen.“ Einfach aufnehmen und sehen, was passiert: Die Podcast-Macher setzen der auf knackige Statements zurechtgeschnittenen Radiowelt ein Stück Realität entgegen.

Sie gehen dabei immer volles Risiko ein. Mit wechselndem Erfolg: Manchmal, wie bei der Sendung mit der Domina, stellt sich beim Hören ein Erkenntnisgewinn ein. Doch manchmal ist Küchenradio einfach nur banal oder die Soundqualität sehr schlecht. „Wir leisten uns eine gewisse Schwankungsbreite“, sagt Philip Banse. „Manche Sendungen gehen total in die Hose, manche werden super. Es ist ein ständiges Experiment.“

Über mangelndes Hörerinteresse kann sich Küchenradio nicht beklagen: Als das Podcast im April seinen ersten Geburtstag feierte, kamen einige Zuhörer persönlich zum Feiern vorbei. „Wir haben sehr nette Hörer“, schwärmt Cindy. „Nur für mich war leider keiner dabei.“ Der 45-jährige Hörfunkjournalist und ehemalige Vikar ist bei Küchenradio für den Trash-Faktor zuständig: Einmal die Woche schlüpft er ins Alter ego der Küchenhilfe Cindy und parodiert Facetten der Weiblichkeit zwischen mütterlich und ordinär. „Eigentlich will ich mit Küchenradio nur jemanden zum Sex finden und berühmt werden“, witzelt er.

Zumindest letzterem Ziel sind Cindy und ihre Kollegen einen ganzen Schritt näher gekommen: Kürzlich wurde Küchenradio.org als einziges Podcast für den begehrten Grimme Online Award nominiert, der am 2. Juni verliehen wird. Dass sie in der Rubrik „Kultur und Unterhaltung“ mit qualitativ hochwertigen Internetangeboten wie der „Kinderinsel“ des Bayerischen Rundfunks oder der Musikplattform „Tonspion“ konkurrieren, freut die „Küchenradio“-Macher sehr. Ein bisschen gibt es ihnen aber auch zu denken. „Für uns ist dieses Podcast nur ein Spaßprojekt“, sagt Andreas Baum bescheiden. „Es ist ein bisschen erschreckend, dass es nicht mehr inhaltlich ernst zu nehmende Internetangebote gibt.“

Die 57. Küchenradio-Folge wird heute Abend aufgezeichnet und ist morgen auf www.kuechenradio.org online