Der Feind im eigenen Haus

Etwas ist faul im Staate Dänemark: Der junge Dramatiker Christian Lollike provoziert mit seinen Stücken seine Landsleute, vor allem aber die Politiker der regierenden Volkspartei

Dänemark machte in letzter Zeit vor allem mit seiner rigorosen Einwanderungspolitik und dem Karikaturenstreit von sich reden. Das Fremde, scheint es, ist unerwünscht. In diesem Klima provoziert der dänische Dramatiker Christian Lollike, 32, mit Stücken, die an neuralgische Punkte rühren.

Fast zufällig, durch den Rat eines Freundes, kam Christian Lollike dazu, sich in Århus im Norden Dänemarks zum Dramatiker ausbilden zu lassen, wo er bis heute als Hausautor am Theater arbeitet. Dort strömen vor allem junge Leute in seine Stücke, die oft als Unterrichtsstoff dienen. Den Politikern der nationalistischen dänischen Volkspartei dagegen gilt er als Enfant terrible der Kulturszene.

Lollike greift in seinen Dramen nach Themen, die seiner Meinung nach in der dänischen Gesellschaft zu selbstgerecht debattiert werden: Gewalt gegen Frauen, Sterbehilfe oder das Attentat vom 11. September 2001. In „Dom over Skrig“ („Sexy Sally“), das in Århus 2004 uraufgeführt wurde, geht es um die mehrfache Vergewaltigung eines jungen Mädchens durch ihren Freund und seine Kumpane. Wie es zu der Tat kommt, wird eher beiläufig beschrieben. Die Gewalt selbst aber durch die Sprache, die Teil der Erniedrigung ist, nachvollzogen. Wenn Richter und Geschworene die Tat später auseinander nehmen und wieder und wieder erzählen, wird es für den Zuschauer beklemmend. Man will diesen Ekel und diese Erregung nicht, man weiß, es geht um ein Verbrechen, nicht um pornografisches Vergnügen.

Sally, das Opfer, wird aus verschiedenen Perspektiven gezeigt: Ihre Selbstwahrnehmung ist abgestumpft, von außen bedrängen sie die sexistischen Medien, Stammtischansichten und familiäres Elend. Sally wird zur Ware, zur Projektionsfläche und zum kommerziellen Objekt degradiert. Zum Schluss vermarktet sogar noch die Mutter die Tochter in einem Buch, das sie über deren Vergewaltigung schreibt.

Lollike sah sich zum Schreiben des Stückes gedrängt, weil sich Gruppenvergewaltigungen junger Mädchen in Dänemark häufen. Er holt das Thema durch die mit Medienzitaten gespickte, brutale Sprache unausweichbar nah an seine Zuschauer heran, so nah, dass Sexismus und Gewalt das Publikum plötzlich etwas angehen.

Lollikes Schlussfolgerung war, „dass jeder Mann in einer bestimmten Situation, in der diese Kräfte ausgelöst werden, zu einer Vergewaltigung fähig ist“. Aufgrund dieses Statements sollten ihm am ersten Probentag des Stückes am Katapult-Theater in Århus Subventionen in Höhe von 300.000 Kronen wieder entzogen werden. Vergewaltigungsopfer dagegen empörten sich nicht über das schonungslose Stück, das Sally zwiespältiger darstellt, als es politisch korrekt ist. Sie benutzten das Stück sogar in Selbsthilfegruppen als Ausgangspunkt für Diskussionen.

Auch mit seinem nächsten Stück „Undervaerket eller The Re-Mohammed TY-Show“ („Das Wunderwerk“) polarisierte Lollike die Zuschauer. Den Anstoß gab ein Zitat von Karlheinz Stockhausen, der das Attentat auf das World Trade Centre in New York am 11. September 2001 „das größte und ultimativste Kunstwerk des 21. Jahrhunderts“ nannte. In seinem dichten Text spürt Lollike der Haltung des Zynismus in einer pietätlosen, spektakelgeilen Welt nach. Vier vermeintliche Kunstexperten vergleichen die Hungersnot in Afrika (zu abgelegen, no action), den Völkermord in Ruanda (zu geringes Medieninteresse), das Massaker in der tschetschenischen Schule in Beslan (keine ausreichende Identifikation des Zuschauers) jeweils in Hinblick auf ihre Vermarktbarkeit. Der 11. September von Mohammed Atta liegt als „Wunderwerk“ vorn: erstklassige Dramaturgie, ein bereits bewährter Plot, mit dem für ein Kunstwerk selten verwirklichten Potenzial, unsere westliche Weltsicht zumindest zu erschüttern.

Das komplexe, mal philosophisch-intellektuelle, mal spielerisch-absurde Streitgespräch kommt immer wieder auf den Wunsch zurück, ein Kunstwerk zu erschaffen, das es den Menschen ermöglicht, sich in „das Fremde“, das Unvorstellbare und Dämonisierte hineinzuversetzen. Die Experten erproben an sich selbst das ungewohnte Mitgefühl mit Opfern wie mit Tätern, indem sie sowohl reale Katastrophen als auch bekannte Hollywood-Katastrophenfilme nachspielen. Realität und Fiktion werden hier in der Flut der Nachrichten- und Kinobilder eins. Am Schluss steht ein Monolog, in dem eine der Figuren, M wie Mohammed, über den Erfolg seines „Katastrophen-Scripts“ für Amerika sinniert. Prompt folgte daraufhin der Ruf der dänischen Kulturministerin, das Theater Odsherred in Nyköbing auf der Insel Sjaelland wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“ zu schließen.

Mit seiner Montage von theoretischen Abhandlungen, journalistischen Reportagen, philosophischen Diskursen, Reklameslogans und Filmzitaten möchte Lollike nicht nur das Verständnis für die Möglichkeiten eines dramatischen Textes ausweiten, sondern in gesellschaftliche Debatten eingreifen.

In Deutschland sind seine Stücke bisher von kleineren Theatern („Halle 7“ in München, demnächst Theaterkapelle in Berlin) herausgebracht worden. Nur „Dogville“, mit dessen Bearbeitung als Theaterstück ihn der Filmregisseur Lars von Trier beauftragte, lief auch an größeren Häusern.

Als Nächstes möchte Lollike etwas über das momentane Klima in seinem von der nationalistischen dänischen Volkspartei regierten Land schreiben: über Menschenrechte und den von ihm gefühlten Mangel an Mitmenschlichkeit in seinem Land. Dafür möchte er Lessings „Nathan der Weise“ weiterdenken, um von Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Toleranz gegenüber allem Fremden erzählen zu können. ANNELI KLOSTERMEIER

Auf Deutsch liegen vor: „Das Wunderwerk“, „Sexy Sally“, „Verzeihung, ihr Alten, wo finde ich Zeit, Liebe und ansteckenden Irrsinn?“, im Verlag Felix Bloch Erben; und „Dogville“ im Rowohlt Verlag