„Ich habe den Zuschauerblick“

In diesen Tagen arbeitet Bettina Böhler am Rohschnitt von Christian Petzolds neuem Projekt, dem Spielfilm „Yella“, in den Kinos läuft zurzeit der von ihr montierte Film „Lucy“. Ein Gespräch mit der Berliner Cutterin über ihre Kriterien bei der Filmauswahl und das Zusammenspiel von Kunst und Handwerk

INTERVIEW CLAUDIA LENSSEN

taz: Frau Böhler, machen Sie die Entscheidung, mit wem Sie zusammenarbeiten, vom Drehbuch abhängig?

Bettina Böhler: Ein Drehbuch ist die grobe Arbeitsvorlage, weil die Geschichte beim Drehen oft anders erzählt wird, als sie gedacht war, und dadurch öffnen sich neue Ebenen. Das finde ich immer wieder faszinierend. Wenn man die Bilder zusammensetzt, bekommt der Film ein Eigenleben. Das kann man erst erkennen, wenn man das Material vor sich hat und auf sich wirken lässt.

Inwiefern wählen Sie Ihre Projekte nach den Regisseuren aus?

Mir ist wichtig, dass ich einen Draht zu der Person und Filme gesehen habe, soweit welche vorhanden sind. Ich muss etwas damit anfangen können. Ich muss sehen, was ihre Filmsprache ist, warum sie überhaupt Filme machen. Die Frage ist heutzutage in dieser Bilderüberflutung interessant: Warum mache ich diesen Film, was ist so wichtig daran, dass die Welt ihn sieht?

Was war denn für Sie an Henner Wincklers Film „Lucy“ wichtig?

Ich habe seinen ersten Film, „Klassenfahrt“, geschnitten, eine schöne Arbeit. Und „Lucy“ ist die Fortsetzung seines Ansatzes. Im ersten Film waren die Jugendlichen 15, jetzt sind sie 18. Zum Teil spielen die gleichen Schauspieler mit. Ich fand an „Lucy“ die Konstellation interessant. Drei Generationen: Die Mutter hat jung eine Tochter bekommen, die Tochter hat jetzt wieder jung eine Babytochter. Diese Geschichte im heutigen Berlin, die Verlorenheit der jungen Mutter in dieser Gesellschaft, das interessiert mich. „Klassenfahrt“ hatte ein ziemlich hartes Ende, und hier bei „Lucy“ endet es auch traurig, aber trotzdem ist Hoffnung da. Ich mag an Filmen, wenn sie eine Realität erzählen, von der jeder weiß, dass sie nicht schön ist, und trotzdem sind es keine fatalistischen Charaktere. Die Filme der „Berliner Schule“…

Regisseure wie Christian Petzold, Angela Schanelec und Thomas Arslan …

… diese Filme erzählen Geschichten aus dem heutigen Leben mit Härten und Melancholie. Trotzdem sind sie nicht deprimierend. Das Handfeste mag ich daran.

Wie würden Sie erklären, was Filmschnitt beziehungsweise Montage ist?

Ich benutze lieber den Begriff Montage. Man zerstört ja nicht, sondern setzt zusammen. Eine Szene wird in verschiedene Einstellungen aufgelöst und mit den Schauspielern mehrmals gedreht. Dieses Material geht jeden Abend ins Kopierwerk. Das kopierte Material bekomme ich in digitalisierter Form auf den Schneidetisch, und dann wähle ich aus, welche Takes genommen und wie die montiert werden. Es geht darum, dass die Zuschauer die Geschichte nicht nur verstehen, sondern eine Emotion empfinden.

Verstehen Sie das als künstlerische Tätigkeit?

Es ist eine Kombination. Die Technik ist das Handwerk, das man beherrschen muss, dann kommt die Kunst hinzu, mit dem Material auf besondere Weise umzugehen. Man könnte aus dem Material zehn oder mehr unterschiedliche Filme schneiden. Dass ein Film anfängt zu leben und dass zwischen den Zeilen beziehungsweise den Schnitten etwas herauskommt, was eine bestimmte Kunst ausmacht, das ist der Unterschied.

Bei „Lucy“ gibt es viele Großaufnahmen von der jungen Mutter, die Kim Schnitzer spielt. Wie geht es Ihnen mit solchen Bildern?

Meinen Sie, dass das distanzlos wirkt? Ich habe über „Lucy“ gelesen, der Film wirke dokumentarisch. Ich würde das nicht sagen. Kim Schnitzer ist eine Schauspielerin, zwar sehr jung, aber professionell. Niemand wird ausgenutzt. Es wird ihr nichts weggenommen, sodass man das unangenehme Gefühl hätte, sie will das nicht zeigen, was man in den Bildern sieht. Henner Winckler schafft es, Authentizität herzustellen, aber durch Inszenierung.

Beim Rohschnitt sind Sie allein mit dem Material, während der Dreh weitergeht. Schneiden Sie autonom, auf Vertrauensbasis? Ist das spezifisch für die Berliner Schule? Oder ist das ein ökonomischer Zwang?

Es ist vielleicht sogar teurer und kein Zwang. Natürlich gibt die Regie Verantwortung an mich ab. Aber meine Entscheidungen – und ich treffe am Tag zweihundert kleine – können alle revidiert werden. Das ist das Schöne und der Unterschied zum Drehen. Dort würde ein Nachdreh teuer, die Entscheidungen sind also unumkehrbar. Bei der Montage schaffe ich die Grundlage, auf der man sich an den Film herantasten kann. Jeder, der beim Drehen dabei war, ist vorbelastet von den Umständen, wie die Szene entstanden ist. Wenn man das im Schneideraum sieht, stellt sich manchmal heraus, das war zwar schwer zu drehen, bringt aber nichts für den Film. Für den Regisseur ist es dann schwieriger, sich davon zu trennen, als für mich, die ich Neutralität gegenüber dem Material besitze. Es ist wichtig für meinen Beruf, dass ich die Bilder erst in dem Moment sehe, wo die anderen Entscheidungen vollzogen sind. Ich sage immer, ich habe den Zuschauerblick. Ich sehe das, was auf der Leinwand entsteht. Gut, ich sehe auch das, was ich später rausnehme, aber ich bin am nächsten am Zuschauer dran. Ich frage, was wird mir erzählt, wenn ich das Drehbuch nicht kenne? Und es geht darum, Emotion und Spannung aufzubauen.

In „Lucy“ sitzt Maggie, die junge Mutter, manchmal da und raucht, das hat mit Handlung wenig zu tun hat. In welchem Augenblick drückst du den Knopf?

Ja, sie raucht oder sitzt am Fenster und isst ein Brot. So was finde ich schön, weil es viel über Menschen erzählt. Solch eine Szene sehe ich zehnmal so lang, wie sie später im Schnitt ist. Wie dieses Stück sein muss, damit es die Emotion vermittelt, die in diesem Moment für das Ganze nötig ist – das zu wissen ist die Kunst. Die Rhythmusgebung fängt beim Rohschnitt an. Ich schaue mir die Sequenz immer wieder an, dadurch groovt man mit und sieht, was zu lang oder zu kurz ist. So tastet man sich weiter. Es ist auch eine körperliche Erfahrung.