Kalte Fische im Haifischbecken

Vergesst Woodstock, vergesst Goa! Die „freie Republik“ Kazantip auf der Krim will den Gedanken der glücklichen Party-Gemeinschaft unter freiem Himmel zu neuem Leben erwecken. Eine Reisewarnung

von der Krim JASNA ZAJCEK

Kazantip ist eine freie Republik, die jedes Jahr zwischen Mitte Juli und Mitte August an einem einsamen Strand auf der Halbinsel Krim ausgerufen wird. Hier ist alles anders, als man es bisher von Festivals und Partyinseln gewohnt ist. […] Die Besucher sind „Bürger von Kazantip“ und statt Eintrittskarten gibt es „Visa“. […] Das Leben in der freien Republik erinnert die alten Hasen an die Anfänge der Partykultur auf Ibiza oder Goa zu Beginn der 70er Jahre, als Musik und Menschen im Vordergrund standen und nicht Kommerz und Umsatzziele. (www.kazantip.de).

Der Entschluss, zum Ultra-low-Budget-Abenteuertrip in die Ukraine zu fahren, war nach dem Lesen dieser Internetversprechungen schnell gefasst. In einem alten DAF-Transporter wollten wir uns zu dritt auf die Suche nach der unkommerziellen, ausgelassenen Beach Party machen, die jährlich „bis zu 50.000 junge, aufgeschlossene Menschen aus ganz Europa“ besuchen und die so ganz anders als alles im Westen zu werden versprach.

Nach einer schnellen Fahrt durch Polen endet die EU, nicht natürlich das geografische, wohl aber das gefühlte Europa. Der Grenzposten zur Ukraine: ein Flashback in die Westberliner Kindheit. Am Grenzpunkt Karczowa angekommen, darf sich der Fahrende zunächst in eine aus hunderten von Autos und Lkws bestehende Schlange auf schon recht kaputter Feldstraße einreihen. Nach dezentem Vordrängeln wurden wir tatsächlich herangewinkt. Wir hatten von westlichen Ukraine-Reisenden gehört, dass man das ruhig machen soll, wenn man denn, von den uniformierten Herren nach Papieren gefragt, einen Umschlag mit fünf Euro überreicht. Ansonsten, hatte es geheißen, könne man sich auf stunden- oder tagelanges Warten einrichten.

Doch die Polen ließen uns ohne Bakschisch vorbei, und nachdem auch der ukrainische Grenzer unsere Pässe und „Ausweis von Auto“ begutachtet hatte, begann das Abenteuer Ostblock. In Reiseführerdeutsch, nüchtern auf den Punkt gebracht: „Das teilweise rücksichtslose Verkehrsverhalten ukrainischer Autofahrer fordert zu besonders umsichtigem Fahren auf. Erhöhte Geschwindigkeit, schlechte Straßenmarkierungen und alkoholisierte Fahrzeuglenker können das Fahren auf ukrainischen Straßen zum Abenteuer werden lassen. Von Nachtfahrten wird abgeraten.“

Der Sonnenuntergang kündigte sich an, als wir in dieses große, fremde Land einreisten, diesen Mix aus Dritter, Zweiter und Erster Welt, und wegen der angeblich dramatischen Kriminalitätsrate hatten wir mehr Angst, auf offener Straße zu parken, als nachts zu fahren. Die rumpeligen Straßen mit ihren tiefen Schlaglöchern hießen uns ähnlich herzlich willkommen wie die grimmigen Grenzer mit den riesigen Old-School-Mützen. Glücklicherweise war unser Fahrer des arabischen Fahrstils mächtig, der dem ukrainischen sehr ähnelt. Weder Rechts- noch Linksüberholer, selbst wenn sie zeitgleich kamen, konnten ihn schocken. Schlaglöcher umging er mit eleganten Rallyekurven, die man unserem Umzugswagen gar nicht zugetraut hätte. So hielt sich unsere Panik angesichts der von den Einheimischen praktizierten Fahrtechnik, die auch schon mal zum Schlittern auf den Schotterrändern oder gar auf Feldern führt, in Grenzen. Nur die unbeleuchteten Pferdekarren und Fahrräder, die nächtens wandernden Familien und natürlich die Ausschilderung in kyrillischer Schrift forderten besondere Aufmerksamkeit auf der unbeleuchteten Landstraßen-Autobahn.

Schlaf fanden wir im ehemals staatlichen Hotel in der ersten Stadt nach der Grenze, in L’viv (Lemberg), das ohne Dusche, ohne Frühstück und ohne ein Lächeln der nur Russisch sprechenden Rezeptionistin fünf Euro pro Person kosten sollte. Das landesweite System des bewachten Parkplatzes hatte noch nicht unser Vertrauen, so schlief der vorausschauend mitgebrachte Automechaniker auf dem tatsächlich gut bewachten Hotelparkplatz für einen Euro pro Nacht im kuscheligen Transporter.

Ein kurzer Spaziergang durch die düstere Stadt vermittelte einen ersten Eindruck: Trotz kalter Witterung, traditionell hohen Alkoholkonsums und schlecht gepflasterter Bürgersteige schienen die Damen Micro-Pumps und Miniröcke sehr zu schätzen, die Herren hingegen versuchten, etwaige Attraktivität durch Jogginghosen und schmuddeliges Äußeres zu verstecken. Obwohl – oder weil? – wir die einzigen Ausländer waren, beachtete uns niemand. Nur ein paar Kurzgeschorene begutachteten uns kritisch, später erfuhren wir, dass L’viv unter jungen Leuten in Kiew als Skinhead- und Neonazistadt verrufen ist. Mit dem unguten Gefühl, uneingeladener Gast in einem unfreundlichen Teil der Welt zu sein, starteten wir am nächsten Morgen auf einer der wenigen halbwegs akzeptablen Fernstraßen des Landes mit dem Ziel Krim.

Die Landschaft auf dem Weg dorthin ist weit, geprägt von Weizen- und Sonnenblumenfeldern, Waldlandschaften und an der Straße kauernden Babuschkas, die oft nur mit einem Eimerchen Kartoffeln und einem Bund Petersilie auf die Einnahme einiger Griwna hoffen. Die schnell durchfahrenen Städte boten alle ein ähnliches Bild: dem Verfall preisgegebene Plattenbauten, einige zerbröselnde architektonische Prunkstücke aus österreichischer und sowjetischer Zeit und modelartige Mädchen in Miniröcken. Vor uns lagen zwei Tage ruhigen Waldweg-Campens und erster Erfahrungen mit den Schwärmen aggressiver Mücken, sodass wir uns fragten, ob Tschernobyl nicht doch Auswirkungen auf Flora und Fauna des Landes hatte. Dann, endlich: die Einfahrt nach Odessa. Reißbrettentwurf aus der Zeit Katharinas der Großen. Die Hafenstadt, literarisch als wilde, anrüchige Diva gerühmt, erbaut nach Plänen französischer und österreichischer Architekten auf einem Siedlungsplatz der alten Griechen. Man importierte Platanen und Akazien damals, im ausgehenden 18. Jahrhundert, als Odessa die erste europäische Stadt des Ostens war, als Kaufleute, Mittelmeerhändler und Seeleute hier aufgrund der von der Zarin versprochenen Vergünstigungen ihren Reichtum mehren konnten. Damals war Odessa reicher als St. Petersburg oder Moskau. Später kamen französische Gouverneure, italienische Börsenmakler und deutsche Fabrikanten, es entstand eine quasidemokratische Republik fernab des Zaren, eine Region, in der man auf der Straße rauchen und eine Nelke im Knopfloch tragen durfte, während man dafür in St. Petersburg noch Mitte des 19. Jahrhunderts ausgepeitscht wurde.

An der prunkvollen restaurierten Oper durften wir unzähligen Hochzeitsgesellschaften beim Videodreh des schönsten Tags im Leben zuschauen. Zu solch hohen Anlässen pflegen sich die Damen in einem Stil zurechtzumachen, der sich nur als „Working Girl, Las Vegas“ beschreiben lässt. Die Frischverheirateten posieren vor dem geschlossenen, verfallenen Museum der Schwarzmeerflotte, am geleasten pink Cadillac oder auf der berühmten Treppe aus „Panzerkreuzer Potemkin“. Es gilt als schick, sich als Braut für etwa 1,20 Euro mit Äffchen und Albinokarnickeln und als Herr mit kleinen Krokodilen und Chamäleons auf dem Arm ablichten zu lassen.

In Odessa scheint auch heute noch viel mehr Geld im Umlauf zu sein als im Rest des Landes: Mango und Benetton haben hier ebenso wie McDonald’s Filialen mit westeuropäischen Preisen, und die Mädchen tragen neben Minirock und High Heels große, dunkle Sonnenbrillen mit gefälschtem Designerlabel. Selbst die Pionier-Girls, die am Obelisken zur Erinnerung an die im Zweiten Weltkrieg gefallenen Söhne der Stadt Wache schieben und salutieren, halten sich an dieses Stylingdiktat. Befremdlich, vor allem wegen der Holz-Kalaschnikows, die sie auf ihren hohen Absätzen vor sich herbalancieren.

Der riesige Schwarzmeerhafen setzt der nicht allzu verfallenen Innenstadt mit dem angestaubten europäischen Flair ein hässliches Panorama entgegen, die innerstädtischen Straßen sind noch rumpeliger als die Fernstraßen. Der Stadtstrand ist schmutzig, die Bucht voller Quallen, allein die Anfahrt durch die von hohen Platanen gesäumten Alleen, an denen sich die ehemaligen Sanatorien – herrschaftliche Villen in schönen Parks – verstecken, erweckt historische Fantasien.

Unser arabische Fahrer fand über einen Schawarmaverkäufer Anschluss an die islamische Gemeinde und erfuhr von vier lokalen Moscheen. Dort erklärten ihm seine Glaubensbrüder, von denen es 25.000 in Odessa geben soll, dass die Mafia selbst mit den von palästinensischen Flüchtlingen mühsam aufgebauten Imbissbuden keine Gnade kennt. Gut laufende Stände werden erst mit Schutzgeld belegt, dann auch mit Waffengewalt ganz übernommen.

Abends stand der Besuch in Arkadia an, dem Partyareal Odessas. Neue Hoffnung. Bestimmt würden uns die Menschen aus der international geprägten Hafenstadt neugierig empfangen – wir waren doch Exoten, immerhin hatten wir auf den letzten tausend Kilometern keine anderen westlichen Reisenden gesichtet! Doch als wir auf Arkadias bewachtem Parkplatz Spaghetti kochten, waren wir den Besuchern, die hysterisch überstylt in westlichen Angeberautos einrauschten, weder ein müdes Lächeln noch eine beiläufige Frage wert. Wir wurden einfach von allen, die keinen Grund hatten, Geld von uns zu verlangen, ignoriert. Bei all den Luxuskarossen hatten wir mittlerweile auch keine Angst mehr um unseren dreizehn Jahre alten Transporter. Trotzdem gab es unserem Selbstwertgefühl einen Stich, konsequent ignoriert zu werden.

Arkadia ist ein Chamäleon: tagsüber Strand mit Rummelplatz, nachts Ibiza-artiges Open-Air-Discoareal mit landestypischen, dem Wodka geschuldeten Entgleisungen, blutigen Schlägereien und billigem Disco-Techno. „Ibiza“ heißt ganz passend die teuerste Disco, 40 Griwna, rund 6,50 Euro, kostet der Eintritt zu etwas, was in Deutschland „Michael-Ammer-Party“ heißen würde. Viele junge Mädchen saßen bei wenigen älteren Herren, jüngere Herren liefen in geschmacklos zusammengewürfelter Designerkleidung mit Mode-Irokesenfrisur durch die im spanischen Inselstil designte und wummernde Disco. Wenn Damen zu viel für ihr Schuhwerk getrunken hatten, wurden sie von irgendwelchen Herren herumgezerrt oder flogen von allein hin.

Davon, dass laut Unicef rund 80.000 der eine Million Einwohner Odessas –meist aufgrund von gemeinsam benutztem Spritzbesteck – HIV-positiv sein sollen, sah man hier nichts. Reich oder schön wirkten alle. Nur in der Innenstadt lungerten einige ungesund aussehende Jünglinge und verschorfte Straßenkinder herum, von denen es in diesem Land 300.000 geben soll. Nach zwei Jahren auf der Straße sind laut Unicef zwei von drei Jugendlichen HIV-positiv, da sie sich billiges Opiumgemisch oder einen Sud aus giftigen Pilzen, Schlaftabletten oder Mohnsamen gemeinsam spritzen. In der „freien Republik“ Kanzantip, so hofften wir nun, würde alles anders sein: Alle offenen jungen Leute der Ukraine würden sich dort treffen, irgendjemand würde Englisch sprechen, neue Freunde würden uns freundlich begrüßen – ein Festival wie die, von denen unsere Eltern noch heute schwärmen …

Nach wildem Campen mit Blick aufs Schwarze Meer verließen wir Odessa, überquerten den Dnjepr, an dem zahlreiche Fischer („Photo? Five Dollar!“) sehr komisch schmeckenden, im Innern matschigen Trockenfisch zu verkaufen suchten. Nachts, endlich, kamen wir auf die Krim, an deren nordwestlicher Küste, beim Städtchen Evpatoria, das Kazantip schon eine Woche zuvor begonnen hatte. Jegliches Verlassen des Autos wurde auf diesem letzten Teil der Strecke mit der sofortigen Durchlöcherung der Haut durch Mückenschwärme bestraft, selbst durch T-Shirts hindurch.

Statt der erhofften bunten Wegweiser begegneten wir nur einem einsamen, betrunkenen Wodkahändler, der sein Geschäft von der Motorhaube seines alten Ladas aus betrieb. „Kazantip? – Ahahaha.“ Vage deutete er geradeaus. Nach halbstündiger Fahrt durch absolute Dunkelheit plötzlich: nein, kein liebevoll gemaltes Hinweisschild, wie es bei westeuropäischen Open-Airs der Fall wäre, sondern ein vom Zigarettenriesen Philip Morris hingestelltes Zigarettenwerbeplakat. „Kazantip raucht L&M.“ Vor dem Eingang standen weitere Alkoholhändler: Aus Plastikkanistern wurde Selbstgebrautes angeboten, in kleinen alten Büdchen gab es Wasser, Wodka und Bier, an Ständen wurde Reis mit Fleisch verkauft, der kleine Teller verhältnismäßig überteuert.

Beim Check-in wurde jeder Besucher digital fotografiert, das Foto per Barcode auf seinem „Visum“, einem Plastikausweis, gespeichert. Das Foto erschien nun bei jedem Betreten des Geländes auf den Monitoren der Securities, die allesamt in alten James-Bond-Filmen als die bösen Russen durchgegangen wären. Für 60 Euro, mehr als einen halben lokalen Monatsverdienst: Eintritt in das hermetisch abgeriegelte Kazantip-Areal, groß wie elf Fußballfelder, mit acht über Wege und Sand verbundenen Dancefloors, alle mit viel zu lauten Boxen und 80er-Jahre-Lichtshow. Die Frauen mit den großen Buchstaben auf ihren dunklen Brillen setzten den elektronischen Rhythmus wie gelangweilte Thai-Bar-Girls in Bewegung um. Dazu trugen sie den typischen „Ich bin ein toter Fisch und taue erst ab 250 Dollar auf“-Gesichtsausdruck zur Schau und waren keine angenehmen Zeitgenossinnen, vor allem weil sie einfache Kommunikationsversuche (die wir in sieben Sprachen anstellten) nur mit „Njet. Russki.“ und einem höhnischen Lachen ob unserer fehlenden Russischkenntnisse beantworteten. Ein russischer Bekannter in Berlin erklärte mir, die intensive Ignoranz oder auch gefühlte Fremdenfeindlichkeit der jungen Generation sei historisch begründet, eine Folge des Zweiten Weltkriegs.

Die spektakulärste Bühne, von Wasser umspült und nur per Steg zu erreichen, war eine aus Gerüstbaustangen und Holzplanken zusammengeschraubte Disco, an deren Seite extrem werbewirksam Riesenplakate des neuen Energy-Drinks aus der Coca-Cola Factory hingen. Es war unmöglich, ein Foto vom Strand zu machen, ohne die Werbung mit abzulichten. Coca-Cola lässt grüßen: Alle Stände und Bars dürfen nur Bonaqua verkaufen, für 10 Griwna (gut 1,60 Euro) die 0,3-Liter Flasche – und das in einem Land, in dem 600 Griwna Monatsdurchschnittslohn sind und wo man im Supermarkt 5 Liter für 4 Griwna bekommt. Wir erfuhren auch, dass man als Normalsterblicher bis zu 5.000 Dollar für die Miete eines Standes auf dem Festival zahlen muss, während die besten Bars und Restaurants vom Veranstalter direkt an die Familien der lokalen politischen Elite gehen, natürlich mietfrei. Was stand doch im Internet? „Die Republik Kazantip ist ein Staat, in dem nur einige Leute arbeiten: der Präzident und die Regierungsmitglieder. Wie es den Staatsdienern gebührt, denken sie viel nach, machen die Wangen dick, treffen Entscheidungen, teilen eigene Portefeuilles und das Volkseigentum unter sich auf. Sie benutzen teure Autos und leben im weißen Haus.“ Wie töricht westlich von uns, diese Wort für verspielte Ironie zu halten. Kazantip, ein Haifischbecken.

Überall trifft man auf Miliz in Uniform und Zivil, Letztere meist in Beige und Hellblau. Nach dem ersten Schock über die kommerzielle Ausrichtung und den Moskauer Beach-Schick, der hier zur Schau getragen wird (Miniröcke und Hotpants mit Bikinioberteilen und sehr viel Schminke), beschlossen wir, die 10 Dollar für den bewachten Parkplatz zu sparen und auf einer Wiese direkt vor dem Gelände zu campen. Es sollte vier Tage dauern, bis die Miliz uns dreimal an einem Tag kontrollierte und aggressiv verwarnte. Am nächsten Morgen wurden wir von fröhlich plappernden Ziegenhirten im Rentenalter geweckt, auf deren Müllplatzweide wir unwissentlich unser Lager aufgeschlagen hatten. Keine Verwunderung, keine Fragen; in den mehr als zehn Jahren, die das Festival läuft, scheinen sich die Einheimischen an alles gewöhnt zu haben. Ein Datschenbesitzer ließ uns in seiner Laube duschen. Wir gaben ihm ungefragt jeder 10 Griwna. Ein erstes ukrainisches Lächeln.

Bei Sonnenschein wirkte das Festivalgelände sehr viel trister als bei Nacht: Der riesige Triumphbogen, das Eingangstor mit Videoüberwachung, sah aus wie ein schlechter Disneyland-Entwurf. Es gab drei Duschen und neun Toiletten der alten französischen Art, vor denen die Schlangen immer deutlich länger waren als vor den Bars. Kein Wunder: Wer beim Pinkeln aufs Gelände erwischt wird – und das ist wegen der vielen Milizen ziemlich wahrscheinlich –, zahlt 50 bis 100 Griwna. Das zumindest erzählt uns Uli, 31, den wir am Strand treffen, ein wohnungsloser ehemaliger Lkw-Fahrer aus Deutschland und Traveller aus Überzeugung. „Ich hab mein Hartz-IV-Geld genommen, bin mit dem Bus für 92 Euro nach Kiew gefahren und dann für 30 Griwna mit dem Zug nach Kazantip.“ Uli hat hier unter TÜV-unmöglichen Bedingungen beim Aufbau der 11 Meter hohen Dancefloor-Kuppel aus undekorierten Gerüststangen gearbeitet, für 8 Euro und zwei Mahlzeiten pro Tag. Die 60 Euro Eintritt zog man ihm, der nach Partybeginn noch eine Woche neben dem DJ-Pult unter der von ihm gebauten Kuppel schlafen durfte, vom Lohn ab.

Hätte er doch bloß an den gelben Koffer gedacht! Wer sich nämlich bis zum 16. Juli online registrieren lässt und mit einem gelben Koffer anreist, darf traditionell umsonst auf die Party. Dafür muss man allerdings immer den Koffer dabeihaben und vorzeigen, denn ein „Visum“ erhalten diese Gäste nicht. Theoretisch ist das eine schöne Idee, um auch ärmere Kids teilnehmen zu lassen, in der Praxis ist es vor allem ein cleverer Marketingtrick von „Präzident“ Nikita, denn die Kids sind oft tagelang unterwegs und laufen so schön Werbung für das Festival. Anders die reichen Moskowiter und Petersburger, die hier nächteweise einfliegen: Für hässliche ältere Männer in Begleitung schöner, auf „Ich bin zu kaufen“ gestylter Frauen ist die Reise zum Kazantip ein beliebter Wochenendspaß.

An Kontaktaufnahme mit uns Westlern war immer noch niemand interessiert – nur die anderen Westler, die mit Kazantips in Hamburg lebendem „Außenminister“ Sergej pauschal hier angereist waren. 500 Euro kosten „Visum“ und Unterkunft mit kalter Dusche für Deutsche und Österreicher, nicht eingerechnet der Flug für 365 Euro. Vor den Toren gab es gleichwertige Datschen und Häuser schon für 10 Griwna, aber auch Zelte auf Innenhöfen für 20 Dollar, wie mir ein älterer amerikanischer Computerspezialist erzählte. Er sei wegen der Schönheit der Mädchen hier, sagte er. Dass die Mädchen nur auf sein Geld beziehungsweise einen kostenlosen Rausch aus sind, schien ihn nicht zu stören. Frank, 24, VWL-Student, ganz gut anzuschauen und Mitglied in einer schlagenden Verbindung, war da schon kritischer. Er hatte ein Mädchen fast im Bett, als sie ihm unbedingt eine Ecstasy-Pille für 25 Dollar verkaufen wollte. Als er wiederholt ablehnte, lief sie weg. In der nächsten Nacht ließ er sich von einer zuckersüßen 17-Jährigen überreden, zwei kleine Becher Alkoholgemisch – angeblich Absinth mit einem Tropfen Benzin – für 100 Griwna zu kaufen, das sie beide tranken. Er, gestandener Raver und in allen synthetischen Drogen erfahren, war nach diesen 2 cl nicht mehr in der Lage, geradeaus zu laufen oder verständlich zu sprechen. Stundenlang schrie und lachte er hysterisch. Aus Verzweiflung, weil die Kleine sofort nach Genuss verschwand? Auch am nächsten Tag bezahlte er einer Minderjährigen ihren Vollrausch, sie wollte dann auch mit ihm schlafen, doch dass sie weder küssen noch ein Kondom benutzen wollte, ließ nun ihn weglaufen.

Laut dem deutschen Aktionsbündnis gegen Aids weiß nur eines von zehn ukrainischen Mädchen, wie man sich vor HIV schützt. Und nur dreißig Prozent bestehen beim Sex auf Kondom. Nach allem, was man auf dieser Party hörte, schien sich aber niemand aus dieser safen 30-Prozent-Gruppe nach Kazantip verirrt zu haben. Eine 20-jährige Studentin aus der einzigen öffentlich am Strand kiffenden Clique, die sich bestens mit allen im Umlauf befindlichen Drogen und ihren Preisen auskannte, erklärte uns auch, wieso: Aids haben doch nur die Junkies!

„Spritze“ heißt hier „Spritz“. Und auch die gab es auf Kazantip zuhauf: Direkt an der Haupttanzfläche und an der Gokartbahn (zehn Minuten für 5 Euro) fanden wir sie im Sand. Ein Schuss Heroin mit irgendwas sollte nur 3 Dollar kosten, während Amphetamine, Pillen und Gras zu 20 bis 25 Dollar pro Gebrauchseinheit verkauft wurden. Wer beim Konsum oder Besitz erwischt wird, erzählte uns das Mädchen, könne mit Prügelstrafe, der Abnahme seines gesamten Bargeldes und des Mobiltelefons sowie einem gruseligen Verhör rechnen. Da schon kleine Drogenvergehen mit drei bis fünf Jahren Gefängnis geahndet werden, zahlt jeder Erwischte die 200 Dollar Schmiergeld für das Ticket in die Freiheit gerne. Ab sofort hatten wir Angst vor dem Strand und seinen im Sand verborgenen Nadeln. Das überwiegende Technogewummer der – übrigens unbezahlten! – DJs wurde zu eintönig. Und überhaupt: Quallen, Mücken, Fliegen und schwarze Käfer im Sand sind fast so unsympathisch wie Abzock-Partymacher (Nikita macht an die sechs Millionen Dollar pro Festival und verbringt die Winter auf Goa). Nach vier Tagen in der „freien Republik“ Kazantip reisten wir mit Erleichterung im Herzen wieder ab.

Auf dem Rückweg war das Kleinstadthotel, in dem wir übernachten wollten, überfüllt. Wir parkten davor und gingen mit einer Babuschka, die uns Quartier für 10 Griwna pro Person anbot. Wir trauten uns, auf dem ersten unbewachten Platz zu parken, in der friedlich wirkenden Kleinstadt, direkt vor dem großen Lenin-Denkmal und dem Hotel. Morgens um halb sieben weckte uns die Babuschka aus dem Schlaf: Auto geknackt! Die Kühlschrank-Herd-Sonderanfertigung, die Gasflasche, alle Kochtöpfe und Pfannen und zwei Radios waren weg. Unser nagelneues Hackebeil, ein großer Wert in diesem Land des Eisenmangels, steckte in Omachens verstecktem Vorgarten, direkt vor unserem Gästezimmer.

Die Polizei war zuvorkommend und engagiert, sie rückte frühmorgens mit sechs fotografierenden und Fingerabdrücke sammelnden „Ekspert“ an und nahm uns sehr ernst. Das Spurensicherungslabor, das wir besichtigen durften, war ein verstaubtes Büro, in dem allerlei Beweisstücke mit Klammern an Wäscheleinen baumelten.

Die wunderschöne Landschaft der Transkarpaten in der Nordwestukraine, das Bad in Gebirgsbächen und die schönen, ärmlichen Bauernmärkte mit endlich lächelnden Menschen auf der Rückreise über die Slowakei und Tschechien entschädigten ein wenig für alles, was wir in diesem armen Land im Umbruch auf die falsche Seite sehen und erleben durften.

JASNA ZAJCEK, 32, liebt Festivals aller Art, und noch keines hat sie so verstört wie dieses