Sanfte Sitten

Die (fast) unsichtbare Minderheit: Hamburg hat die größte portugiesische Gemeinde in Deutschland. Doch nachdem der traurige Gesang des Fado aus der Mode gekommen ist, fällt es schwer, die portugiesische Kultur zu finden. Eine Spurensuche

von Martina Helmke

„Meine Landsleute hier sind schlapp. Sie haben nicht den Stolz, etwas für ihr Land zu tun“, sagt Francisco Fialho, der wohl letzte echte Fado-Sänger Hamburgs. Sein Blick geht ins Leere, während der 50-Jährige an seiner dritten Zigarette zieht. Zurückgelehnt sitzt er im „Bica“, seinem Café für portugiesische Spezialitäten, das inzwischen seine Tochter Mafalda führt. Mit 16 folgte Francisco Fialho seinen Eltern widerwillig nach Hamburg, nachdem er aus Trotz zweimal den Pass zerrissen hatte.

Angekommen in der neuen Heimat stürzte er sich in die Musik. Aus Sehnsucht, sagt er. Fado bedeutet Schicksal. Meistens geht es in dieser Art „Vortragsgenre“ um unglückliche Liebe, um soziale Missstände. Doch die Jungen verstünden das nicht mehr, klagt Francisco. Fado müsse in einem geboren sein, entschuldigt Mafalda ihr eigenes geringes Interesse, während ihr Vater gedankenverloren auf die Tischplatte starrt.

„Die Fado-Szene hier ist inzwischen quasi tot“, sagt auch Helge Dankwarth, Rentner und Fado-Spezialist der portugiesisch-hanseatischen Gesellschaft. Etwas besser sieht es bei der Folklore aus. „Wir haben im Moment 56 Mitglieder, von denen über die Hälfte Kinder und Jugendliche sind“, sagt Manuel Loureiro vom „Retalhos de Portugal“ stolz. Bis auf eine Deutsche seien ausschließlich Portugiesen dabei.

Doch „Retalhos“ ist eine Ausnahme. Die Orte, an denen die portugiesische Gemeinde sich bewusst trifft, sind Fußballclubs oder Einrichtungen wie das Freizeitzentrum „Benfica“, wo es einen Fernseher gibt und eine Kantine und wo am Wochenende Discos für die Jungen angeboten werden.

Sucht man in Hamburg nach Portugiesen, so verschlägt es einen zuerst ins so genannte Portugiesenviertel bei den Landungsbrücken. Und ist man erstmal vorbei an der „Seekiste“, dem Döner-Laden und „Luiggis Pizzeria“, reiht sich tatsächlich Portugiese an Portugiese. Allerdings sind außer den Kellnern hier fast nur Deutsche unterwegs. „Das Portugiesenviertel ist für die meisten eben nichts weiter als ein Arbeitsplatz“, ist Francisco überzeugt. Zwar träfen sich die Angestellten der Familienbetriebe abends häufig in einem der Restaurants und sitzen bis in die frühen Morgenstunden zusammen, mit Kultur habe das aber wenig zu tun.

Auch bei der portugiesisch-hanseatischen Gesellschaft ist ein Großteil der Mitglieder deutscher Herkunft. Dem Verein geht es vor allem um den kulturellen Austausch. Doch nur die wenigsten der in Hamburg lebenden Portugiesen haben Interesse an diesen Themen. Die meisten Familien leben hier in der zweiten, dritten Generation. Ihre Eltern kamen meist in den 60ern als Arbeitsimmigranten nach Deutschland. Hamburg und sein Hafen waren der ideale Arbeitsplatz für die Küsten-liebenden Portugiesen, die sich besonders in Harburg, in der Neustadt und St. Georg ansiedelten. Unter den Einwanderern waren viele Fischer, aber auch Handwerker, die Frauen arbeiteten häufig als Putzkräfte. Doch sie kamen nicht um zu bleiben. Mit dem in Deutschland verdienten Geld bauten sie in der Heimat schmucke Häuser, in die sie eines Tages zurückkehren wollten.

Nach Inkrafttreten des „Gesetzes zur Förderung der Rückkehrbereitschaft“ von 1983 sank die Zahl der einst erwünschten „Gastarbeiter“ um mehr als die Hälfte. Doch mittlerweile ist ihr Anteil wieder drastisch gestiegen und liegt derzeit auf einem Stand von etwa 9.000 portugiesischen Bürgerinnen und Bürgern. Hamburg ist damit deutschlandweit die Stadt mit der größten portugiesischen Gemeinde. Auf die Einwohnerzahl gerechnet wird Hamburg nur noch von Cuxhaven getoppt.

Francisco Fialhos persönlicher Lieblingsplatz ist Övelgönne, wegen der Ruhe und dem Blick die Elbe hinab. „Das ist es, was Hamburg so reizvoll macht für uns“, sagt er. Der Hafen und das Wasser erinnern ihn an zuhause.

Dennoch kannten die Hamburger jahrelang nicht mehr von ihren portugiesischen Mitbürgern als deren gute Küche. An der Wand im Café Bica hängen zwei Flaggen. Überbleibsel der WM-Euphorie, in der die Portugiesen und ihre starke emotionale Bindung an die Heimat überhaupt erst sichtbar wurde. Plötzlich sah man allerorts portugiesische Farben, in den Wohnungen, an den Autos. An kaum einem Ort in Hamburg wurde so freudentrunken gefeiert wie im Portugiesenviertel, die Nichtportugiesen dort nahm man einfach mit. „Das Erstaunliche an den Portugiesen ist ihre gute Integrationsfähigkeit“, sagte Helge Dankwarth von der portugiesisch-hanseatischen Gesellschaft. „Sie sind weltoffen, unheimlich sprachbegabt und suchen eigentlich selten Streit.“ Das meint auch Doktor Peter Koj, der Mitglied derselben Gesellschaft ist. Er hat als Lehrer einige Jahre in Portugal gelebt und kennt die Geschichte des Landes. „Die Portugiesen attestierten sich selbst „Brandos costumes“, erzählt er. Das bedeutet so viel wie „sanfte Sitten“. Von kriminellen Portugiesen habe er noch so gut wie nie etwas gehört. „Das Volk der Portugiesen leidet geschichtsbedingt unter einer Art Minderwertigkeitsgefühl“, erklärt er weiter. Das mache sie konfliktscheu.

Doch trotz der vorbildhaften Integration hat sich die „Rückkehrer-Mentalität“ kaum verändert. Die wenigsten jungen Leute studieren. Sie machen ihren Realabschluss und versuchen schnell Geld zu verdienen, um irgendwann wieder nach Portugal zu gehen.

Auch Victor Nunes denkt so. Der 23-Jährige führt ein Restaurant – im Portugiesenviertel, wo sonst. „Als Teenager habe ich mich noch nicht wirklich für Portugal interessiert“, sagt er. Sein rosafarbenes Poloshirt leuchtet in der Mittagssonne. „Aber je älter ich wurde, desto mehr spürte ich die Sehnsucht.“ Die Portugiesen seien keine Großstadtmenschen, sagt er lächelnd.

Während er redet, wandert Victors Blick über die Tische. Nahezu alle seine portugiesischen Freunde wollen eines Tages wieder zurück, meint er. Er selbst kam vor 20 Jahren mit seinen Eltern aus Viseu, einem Ort im Norden Portugals. Sein Vater fand in Hamburg eine Anstellung als Chefkoch, bald folgten Familie, Freunde und Bekannte.

Arbeiten, unauffällig bleiben, sparen. Und schon muss auch er auch wieder an die Arbeit.

Francisco Fialho ist hin- und hergerissen. „Ich lebe mit einem Fuß in Hamburg, mit dem anderen in Portugal“, sagt er seufzend. Die Entscheidung fällt ihm sichtlich schwer. Wie schön wäre es, in Hamburg wieder eine Fado-Szene aufzubauen! Bisher hat er immer alleine gekämpft. Die Jungen wie die Alten seien einfach zu träge und unbeweglich, klagt er. Doch er glaubt auch an das Schicksal. Und wer weiß, was das noch für ihn bereithält, sagt er und zwinkert.

Für seine Frau ist der Fall allerdings klar. Sie will unbedingt zurück. Da schaltet sich ein Stammgast ein: „Darüber reden wir noch“, grummelt er.