Die Wissenschaft von außen lesen

Kritik der Kritik (10): Immer noch können sich Naturwissenschaftler mit dem schützenden Mythos der Sachlichkeit umgeben. Um sie zu kritisieren, ist es notwendig, sich in die Produktionsbedingungen naturwissenschaftlichen Wissens hineinzudenken

■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es damit in der Kultur? Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Kulturindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks

VON CORD RIECHELMANN

Die beste Kritik der Naturwissenschaften sei es, Naturwissenschaften zu betreiben. So lautete in den Achtzigerjahren ein häufig in philosophischen Seminaren vorgetragenes Argument. Die Nutzer der Naturwissenschaft meinten damit, die damals einsetzende und langsam, aber stetig dominant werdende Deutungsmacht bio- oder mit einem neueren Wort: lebenswissenschaftlicher Konzepte in den Geisteswissenschaften von sich weisen zu können. Allerdings ist diese Abweisung des „positivistisch halbierten Rationalismus“ (Jürgen Habermas) der Biowissenschaften, der vom Standpunkt einer kritischen, die gesamte Gesellschaft im Blick habenden Theorie vorgetragen wurde, erfolglos geblieben. Unter dem Schlagwort von der „Naturalisierung der Geistes- und Humanwissenschaften“ wird die Niederlage der großen, ganzen, kritischen Gesellschaftstheorie gegenüber dem nach wie vor ungebremsten Erklärungsanspruch der Biowissenschaften treffend beschrieben.

Auch wenn sich vor allem in der Philosophie und im Feuilleton mancher überregionalen Zeitung der Widerstand etwa gegen die neurowissenschaftliche Aufhebung der Schuldfrage durch Hirnforscher wie Wolf Singer und Gerhard Roth langsam formiert, bleibt die Frage, was eigentlich schief läuft. Es sind ja keine Idioten, sondern ausgewiesene und gut ausgebildete Wissenschaftler, die zum Beispiel im Wissenschaftskolleg im Berliner Grunewald ernsthaft die Frage diskutieren, ob Vergewaltigung nicht vielleicht doch eine erfolgreiche, in der Evolution geschichtlich herausgebildete und uns mitgegebene männliche Fortpflanzungsstrategie sein könnte. Man kann sicher sein, dass sie die Frage genauso sachlich diskutieren, wie sie das Argument des Ethnopsychoanalytikers Paul Parin nicht in Betracht ziehen werden, es handele sich bei der Behauptung, Vergewaltigung sei eine evolutive Strategie, schlicht um die Verharmlosung eines Verbrechens.

Der Grund, warum die Naturwissenschaftler solche Fragen so sachlich diskutieren können: Sie sind die letzten Forscher, die weiter im Mythos der Wissenschaft agieren können. Während sich die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften an ein paar auch praktischen Experimenten und Voraussagen verhoben und diskreditiert haben, gelten die Naturwissenschaftler weiterhin als jene Forscher, in deren Arbeit vor allem das Experiment und das Argument die universellen Antriebe ihres Tuns sind und nicht die Personen und Institutionen, die die Experimente ausführen. Nur wenn sie als Betrüger überführt werden, wie zuletzt der nordkoreanische Klonpionier, werden sie zur Unperson. Ansonsten gelten Naturwissenschaftler weiter als besonders glaubwürdige Wissenschaftler, ganz gleich, was sie außerhalb ihrer Arbeit für Unfug reden.

Der Witz an der Sache ist, dass die Philosophie nach dem Zusammenbruch der Hoffnungen der physikalischen Welterklärungen in Hiroshima und Nagasaki an der weiterhin durchgeführten Nobilitierung der Naturwissenschaft wesentlich beteiligt war. Auch die Philosophie wollte das Paradigma vom Fortschritt der Menschheit durch wissenschaftliche Arbeit und Erkenntnis nicht aufgeben. Sie blieb in ihrem Ausbeutungsverhältnis zur wissenschaftlichen Detailarbeit. Sie wechselte nur das Fach und lief von der Physik zur Biologie über – genauer: zur Molekularbiologie.

Louis Althusser hat diese Wendung in seiner 1967 an der École Normal Supérieur gehaltenen Vorlesung über „Philosophie und spontane Philosophie der Wissenschaftler“ analysiert. Althusser entwickelt seine Gedanken in einer direkten Auseinandersetzung mit den Veröffentlichungen des Molekularbiologen und Nobelpreisträgers Jacques Monod. Althusser arbeitet dabei akribisch heraus, wie Monod, wenn er sein „Reich“, die Biologie, verlässt und philosophisch wird, genau jene materialistischen Regeln verletzt beziehungsweise vergisst, die den Wert seiner biologischen Entdeckungen ausmachen. Man kann mit den Instrumentarien Althussers noch heute die über die Biologie hinausgehenden philosophierenden Arbeiten von Biologen wie Edward O. Wilson oder Wolf Singer lesen und kritisieren. Es geht Althusser aber nicht nur um eine Kritik philosophierender Naturwissenschaftler. Er zeigt auch, wie die Philosophie selbst in ein Ausbeutungsverhältnis zur Naturwissenschaft tritt.

Indem sich die Philosophie nur die Ergebnisse der Wissenschaftler sozusagen unter den Nagel reißt, ohne am praktischen Betrieb der Wissenschaft teilzuhaben und mitzuarbeiten, wird sie zum idealistischen Verdoppler wissenschaftlicher Erkenntnis und strickt so weiter am Mythos der Wissenschaft. Althussers Folgerung aus dieser Diagnose ist nun gerade nicht die eingangs zitierte These von der Kritik der Naturwissenschaft durch Betreiben derselben. Althusser meint, man müsse zuerst die „Konstitutionsverhältnisse“ bestimmen, in denen die Wissenschaft figuriert, um sich den Ergebnissen – kritisch oder nicht – zuzuwenden. Damit bewegt er sich in der Tradition der französischen Lebens-Wissenschafts-Philosophie von Georges Canguilhem bis Michel Foucault.

Foucault stellte als einer der Ersten fest, dass es immer möglich sei, im „Raum eines wilden Außen die Wahrheit“ zu sagen; „aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei‘ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss.“ Damit hatte Foucault die Zulassungsvoraussetzungen zur wissenschaftlichen Wahrheitsproduktion materialistisch beschreiben. Man muss schon dazugehören, um in der Wissenschaft Wahres sagen zu können. Weil er nicht dazugehörte, erschien der Erbsen züchtende Mönch Gregor Mendel der Wissenschaft seiner Zeit etwa als „ein wahres Monstrum“ (Foucault). Mendel konnte der Biologie in der Mitte des 19. Jahrhunderts nichts sagen, weil er mit den Gegenständen und Begriffen der damaligen Biologie nichts am Hut hatte. Das heißt, die Produktivität der Arbeiten Mendels konnte man erst verstehen, nachdem Anfang des 20. Jahrhunderts die Biologie den Begriff des Gens erfunden und sich damit die Gegenstände erschlossen hatte, die Mendel erklärte. Erst dann verstand man ihn nicht mehr als Monstrum, sondern als großen Wissenschaftler.

Die Arbeiten innerhalb einer Wissenschaft durchlaufen also nicht nur fördernde, sondern auch restriktive und zwingende Mechanismen – und die stehen nicht in einem unmittelbaren Verhältnis zur Wahrheit, sondern zu Personen, Ämtern und Positionen. Das mag banal erscheinen, ist es aber nicht. Drastisch hat das die Wissenschaftshistorikerin Ute Deichmann bei den Recherchen zu ihren großartigen Studie „Biologen unter Hitler“ erfahren. Deichmann war selbstverständlich davon ausgegangen, die Horrorversuche im „Dritten Reich“ seien auf Anweisung oder Befehl der Regierenden ausgeführt worden. Aber sie suchte ohne Erfolg nach diesen Dokumenten. Es gab keine. Die Wissenschaftler hatten von sich aus die Zeichen der Zeit erkannt und die entsprechenden menschenverachtenden Hypothesen entwickelt. Ein ebenso finsteres wie schlagendes Argument gegen die These, die beste Kritik der Naturwissenschaft sei das Betreiben der Naturwissenschaft.

Dennoch kann es selbstverständlich hilfreich sein, eine naturwissenschaftliche Ausbildung zu haben, um eine Kritik der Naturwissenschaften in Gang zu bringen. Deichmann ist genauso ausgebildete Naturwissenschaftlerin wie die einschlägigen amerikanischen Wissenschaftstheoretikerinnen Donna Haraway und Evelyn Fox Keller. Für den Schritt in die Kritik waren aber in allen Fällen die Werkzeuge einer historisch-kritischen Wissens-Begriffsanalyse, wie sie neben anderen Michel Foucault und Louis Althusser entwickelt haben, notwendig. Mit diesen Mitteln können dann auch wieder von der Wissenschaft ausgemusterte Arbeiten neu gewürdigt werden und über die Philosophie wieder zurückkommen.

Nachvollziehen kann man dieses Verfahren an einem schönen Text des Philosophen John Dupre mit dem Titel „Gespräche mit Affen“ im Suhrkamp-Sammelband „Der Geist der Tiere“. Dupre sammelt in dem Text die Argumente, die seinerzeit gegen die Sprachversuche an Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans vorgebracht wurden, in denen man den Affen die amerikanische Gehörlosensprache beigebracht hatte und mit ihnen ins Gespräch trat. Die Argumente hatten die Einstellung dieser Forschungen zur Folge. Dupre liest dabei auch die in Verruf geratenen Orginalarbeiten noch einmal und entdeckt in ihnen viele unbeachtet gebliebene Wahrheiten. Eben weil er als Philosoph von „außen“ liest und nicht immer mit den Augen eines Fachgutachters darauf achten muss, ob die Regeln des Diskurses nicht verletzt werden, entdeckt er ihre Stärken.

Eine Philosophie, die sich in die Produktionsbedingungen naturwissenschaftlicher Arbeiten hineinliest und nicht nur die Ergebnisse spektakulärer Texte aus Nature und Science abschreibt, bleibt damit genauso wie das Feuilleton überregionaler Zeitungen, wenn es das Gleiche tut, der Ort der Kritik der Naturwissenschaft. Der Betrieb der Wissenschaften selbst wird mit der Zerstörung der Ausbildung an den Universitären im Bachelor- und Masterverfahren die Arbeit der Kritik noch weniger leisten können als bisher schon.